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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

nicht schematisch, sondern gestattet die Rücksicht auf den Einzelfall. Unter den
geistig Minderwertigen finden sich zweifellos auch solche, die unbedenklich dem
gewöhnlichen Strafvollzug unterworfen werden können. Die anderen sollen ihre
Freiheitsstrafe in besonderen Abteilungen verbüßen. Vielleicht läßt man zweck¬
mäßig die Worte "Anstalten oder" fort und begnügt sich mit "Abteilungen",
die den bestehenden Strafanstalten angegliedert werden. Dem ärztlichen Sach¬
verständigen ist in diesen Abteilungen ein besonders weitgehender Einfluß ein¬
zuräumen, soweit hierdurch der Charakter der Strafe als eines zu fürchtenden
Übels nicht beeinträchtigt wird. Ich würde die besonderen Abteilungen an
bestehenden Strafanstalten den etwa eigens für geistig Minderwertige zu er¬
richtenden Strafanstalten vorziehen, weil die letzteren in der öffentlichen Meinung
leicht in gewissem Sinne als Krankenanstalten bewertet werden könnten, so daß
die Aussicht auf die dort zu verbüßende Strafe nicht genügende Hemmung
bewirk. Man darf eben nie aus dem Auge verlieren, daß gerade die geistig
Minderwertigen besonders starker Hemmungen bedürfen. Daher sollte man,
wenn man sie für straffähig hält, auch alles vermeiden, was die Wirkung der
Strafen mindern könnte.

Aus derartigen Erwägungen kann ich auch nicht die von vielen geäußerte
Befriedigung über Absatz 2 Z 70 des Vorentwurfs teilen, der bestimmt, daß Frei¬
heitsstrafen an geistig minderwertigen Jugendlichen in staatlich überwachten
Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Ich gebe zu,
daß die Bestimmung in einzelnen Fällen nützlich wirken könnte. Andererseits
aber ist nicht außer acht zu lassen, daß sie geeignet ist, den Charakter der Strafe
zu verwischen. Hält man einmal geistig minderwertige Jugendliche von einem
bestimmten Alter ab für straffähig -- und die Rücksicht auf die Rechtssicherheit
verlangt, daß man es tut --, so sei man auch folgerichtig und sorge dafür,
daß Freiheitsstrafen, soweit sie nötig sind, voll und ganz den Charakter einer
Strafe haben. Das würden sie nicht in Erziehungs- usw. Anstalten, wenn anders
diese ihrem Namen entsprechen sollen. Den an sich durchaus berechtigten Er¬
wägungen, die zur Schaffung des Absatzes 2 H 70 geführt haben, trage man
dadurch Rechnung, daß man Freiheitsstrafen für Jugendliche möglichst selten
anwendet. Hält man sie aber für nötig, so gestalte man sie auch so, daß ihr
Wesen als ein zu fürchtendes Übel nicht im geringsten beeinträchtigt wird. Zu
bedenken ist, daß in die Erziehungsanstalten leicht ein dort nicht hingehörender
Geist getragen werden kann, wenn sie gleichzeitig als Erziehungs- und als
Strafverbüßungsstätten dienen. Werden sie von pädagogisch und psychologisch
(sowie auch psychiatrisch) gebildeten Männern geleitet, dann kommt in ihnen
nur der Grundsatz der Erziehung zur Geltung, und das Übel ist ausgeschaltet.
Die Strafe aber soll ein Übel sein. Man verschone also die Erziehungsanstalten
mit der Aufgabe, Strafen zu vollstrecken. Ganz ähnliche Erwägungen gelten
für die Heil- und Pflegeanstalten. Nach der Strafverbüßung soll man selbst¬
verständlich den Erziehungs- usw. Anstalten die Individuen überweisen, die ihrer


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nicht schematisch, sondern gestattet die Rücksicht auf den Einzelfall. Unter den
geistig Minderwertigen finden sich zweifellos auch solche, die unbedenklich dem
gewöhnlichen Strafvollzug unterworfen werden können. Die anderen sollen ihre
Freiheitsstrafe in besonderen Abteilungen verbüßen. Vielleicht läßt man zweck¬
mäßig die Worte „Anstalten oder" fort und begnügt sich mit „Abteilungen",
die den bestehenden Strafanstalten angegliedert werden. Dem ärztlichen Sach¬
verständigen ist in diesen Abteilungen ein besonders weitgehender Einfluß ein¬
zuräumen, soweit hierdurch der Charakter der Strafe als eines zu fürchtenden
Übels nicht beeinträchtigt wird. Ich würde die besonderen Abteilungen an
bestehenden Strafanstalten den etwa eigens für geistig Minderwertige zu er¬
richtenden Strafanstalten vorziehen, weil die letzteren in der öffentlichen Meinung
leicht in gewissem Sinne als Krankenanstalten bewertet werden könnten, so daß
die Aussicht auf die dort zu verbüßende Strafe nicht genügende Hemmung
bewirk. Man darf eben nie aus dem Auge verlieren, daß gerade die geistig
Minderwertigen besonders starker Hemmungen bedürfen. Daher sollte man,
wenn man sie für straffähig hält, auch alles vermeiden, was die Wirkung der
Strafen mindern könnte.

Aus derartigen Erwägungen kann ich auch nicht die von vielen geäußerte
Befriedigung über Absatz 2 Z 70 des Vorentwurfs teilen, der bestimmt, daß Frei¬
heitsstrafen an geistig minderwertigen Jugendlichen in staatlich überwachten
Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Ich gebe zu,
daß die Bestimmung in einzelnen Fällen nützlich wirken könnte. Andererseits
aber ist nicht außer acht zu lassen, daß sie geeignet ist, den Charakter der Strafe
zu verwischen. Hält man einmal geistig minderwertige Jugendliche von einem
bestimmten Alter ab für straffähig — und die Rücksicht auf die Rechtssicherheit
verlangt, daß man es tut —, so sei man auch folgerichtig und sorge dafür,
daß Freiheitsstrafen, soweit sie nötig sind, voll und ganz den Charakter einer
Strafe haben. Das würden sie nicht in Erziehungs- usw. Anstalten, wenn anders
diese ihrem Namen entsprechen sollen. Den an sich durchaus berechtigten Er¬
wägungen, die zur Schaffung des Absatzes 2 H 70 geführt haben, trage man
dadurch Rechnung, daß man Freiheitsstrafen für Jugendliche möglichst selten
anwendet. Hält man sie aber für nötig, so gestalte man sie auch so, daß ihr
Wesen als ein zu fürchtendes Übel nicht im geringsten beeinträchtigt wird. Zu
bedenken ist, daß in die Erziehungsanstalten leicht ein dort nicht hingehörender
Geist getragen werden kann, wenn sie gleichzeitig als Erziehungs- und als
Strafverbüßungsstätten dienen. Werden sie von pädagogisch und psychologisch
(sowie auch psychiatrisch) gebildeten Männern geleitet, dann kommt in ihnen
nur der Grundsatz der Erziehung zur Geltung, und das Übel ist ausgeschaltet.
Die Strafe aber soll ein Übel sein. Man verschone also die Erziehungsanstalten
mit der Aufgabe, Strafen zu vollstrecken. Ganz ähnliche Erwägungen gelten
für die Heil- und Pflegeanstalten. Nach der Strafverbüßung soll man selbst¬
verständlich den Erziehungs- usw. Anstalten die Individuen überweisen, die ihrer


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[0082] Die geistig Minderwertigen nicht schematisch, sondern gestattet die Rücksicht auf den Einzelfall. Unter den geistig Minderwertigen finden sich zweifellos auch solche, die unbedenklich dem gewöhnlichen Strafvollzug unterworfen werden können. Die anderen sollen ihre Freiheitsstrafe in besonderen Abteilungen verbüßen. Vielleicht läßt man zweck¬ mäßig die Worte „Anstalten oder" fort und begnügt sich mit „Abteilungen", die den bestehenden Strafanstalten angegliedert werden. Dem ärztlichen Sach¬ verständigen ist in diesen Abteilungen ein besonders weitgehender Einfluß ein¬ zuräumen, soweit hierdurch der Charakter der Strafe als eines zu fürchtenden Übels nicht beeinträchtigt wird. Ich würde die besonderen Abteilungen an bestehenden Strafanstalten den etwa eigens für geistig Minderwertige zu er¬ richtenden Strafanstalten vorziehen, weil die letzteren in der öffentlichen Meinung leicht in gewissem Sinne als Krankenanstalten bewertet werden könnten, so daß die Aussicht auf die dort zu verbüßende Strafe nicht genügende Hemmung bewirk. Man darf eben nie aus dem Auge verlieren, daß gerade die geistig Minderwertigen besonders starker Hemmungen bedürfen. Daher sollte man, wenn man sie für straffähig hält, auch alles vermeiden, was die Wirkung der Strafen mindern könnte. Aus derartigen Erwägungen kann ich auch nicht die von vielen geäußerte Befriedigung über Absatz 2 Z 70 des Vorentwurfs teilen, der bestimmt, daß Frei¬ heitsstrafen an geistig minderwertigen Jugendlichen in staatlich überwachten Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Ich gebe zu, daß die Bestimmung in einzelnen Fällen nützlich wirken könnte. Andererseits aber ist nicht außer acht zu lassen, daß sie geeignet ist, den Charakter der Strafe zu verwischen. Hält man einmal geistig minderwertige Jugendliche von einem bestimmten Alter ab für straffähig — und die Rücksicht auf die Rechtssicherheit verlangt, daß man es tut —, so sei man auch folgerichtig und sorge dafür, daß Freiheitsstrafen, soweit sie nötig sind, voll und ganz den Charakter einer Strafe haben. Das würden sie nicht in Erziehungs- usw. Anstalten, wenn anders diese ihrem Namen entsprechen sollen. Den an sich durchaus berechtigten Er¬ wägungen, die zur Schaffung des Absatzes 2 H 70 geführt haben, trage man dadurch Rechnung, daß man Freiheitsstrafen für Jugendliche möglichst selten anwendet. Hält man sie aber für nötig, so gestalte man sie auch so, daß ihr Wesen als ein zu fürchtendes Übel nicht im geringsten beeinträchtigt wird. Zu bedenken ist, daß in die Erziehungsanstalten leicht ein dort nicht hingehörender Geist getragen werden kann, wenn sie gleichzeitig als Erziehungs- und als Strafverbüßungsstätten dienen. Werden sie von pädagogisch und psychologisch (sowie auch psychiatrisch) gebildeten Männern geleitet, dann kommt in ihnen nur der Grundsatz der Erziehung zur Geltung, und das Übel ist ausgeschaltet. Die Strafe aber soll ein Übel sein. Man verschone also die Erziehungsanstalten mit der Aufgabe, Strafen zu vollstrecken. Ganz ähnliche Erwägungen gelten für die Heil- und Pflegeanstalten. Nach der Strafverbüßung soll man selbst¬ verständlich den Erziehungs- usw. Anstalten die Individuen überweisen, die ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/82>, abgerufen am 23.07.2024.