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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Ivilhclm v, Humboldt

So bemerkenswert übrigens der Anteil ist, den Humboldt an dieser Ent¬
wicklung gehabt hat, so darf man doch nach dem Stande der Dinge, den er
schon vorfand, annehmen, daß sie auch ohne ihn eingetreten sein würde. Geradezu
bestimmend hat er an einer anderen Stelle eingegriffen: er ist der Vater des
nach Klassen abgestuften Berechtigungswesens. Paul de Lagarde schrieb im
Jahre 1881: "Schulen haben, die nach einer Idee, für einen bestimmten Zweck
eingerichtet sind, und dennoch nach dem Besuche bestimmter Klassen ihren An¬
gehörigen auszutreten erlauben, diese Erfindung der Geheimden Räte Schulze
und Wiese muß mit Besen ausgekehrt werden, und alle sie Verteidigenden und
Beschönigenden müssen mit ihr fort." Ein berechtigter Zorn; nur wußte Lagarde
nicht, was jetzt offen zutage liegt, daß die eigentliche Verantwortung für dieses
unselige System Humboldt zu tragen hat. Ansätze zu Mittelschulen, Bürger¬
schulen, Realschulen waren zu seiner Zeit schon vielfach vorhanden und wurden
z. B. von Schleiermacher richtig gewürdigt; Humboldt hat ihr Wachstum unter¬
drückt, und so das Aufkommen einer neuen Art mehr auf das Praktische ge¬
richteter Bildungsanstalten um Jahrzehnte verzögert. Gewiß in edelster Gesinnung
und Absicht; das Ideal einer einheitlichen, Hoch und Niedrig in der Nation
umfassenden, nur in ihrer Abstufung Unterschiede zulassenden Erziehungsschule
hielt ihn gebannt -- dasselbe Ideal, das heute wie etwas Neues von der ent¬
gegengesetzten Seite her verkündigt wird.

Denn im Laufe von drei Menschenaltern hat sich hier eine seltsame und
doch natürliche Verschiebung vollzogen. Humboldt hielt es für richtig, die
Bildungsbedürfnisse der erwerbenden Klassen denen der höheren Berufstände
unterzuordnen; Joh. Schulze und Ludwig Wiese setzten das Werk fort: und
nur zu gut ist es gelungen. Um mit irgendeiner gewünschten Berechtigung aus
Tertia, aus Untersekunda, mit Primareife abzugehen, strömte den Gymnasien
und später auch den Realgymnasien und Oberrealschulen eine Menge von
Schülern zu, die gar nicht daran dachten, den neunjährigen Kursus bis zu Ende
durchzumachen. Daß sie zu einem für sie so ungeeigneten Bildungsgange ein¬
geladen, stellenweise genötigt wurden, war hart. Nach und nach aber kamen
sie in die Überzahl; und nun wandte sich das Blatt. Als man im Jahre 1890
den Tatbestand aufnahm, stellte sich heraus, daß von zweihundert Knaben, die
in eine höhere Schule aufgenommen waren, nur einundvierzig ihr Endziel
erreichten. Das war ein Mißstand, der Abhilfe erheischte; und nach dem Prinzip
der Majorität, das inzwischen ja auch in: politischen Leben zu Ansehen gelangt
war, schien es das einfachste, von jetzt an das Interesse derer, die zur Reife¬
prüfung gelangen, dem der früher Abgehenden unterzuordnen. Dieser Grundsatz
wurde in den Lehrplänen von 1891 geradezu proklamiert (III, 1), in denen
von 1901 nicht widerrufen. So ist der neunjährige Lehrgang zerstört worden;
erst in Obersekunda darf sich die höhere Schule ihres eigentlichen Berufes, auf
die Hochschule vorzubereiten, wieder erinnern: eine ungewollte, doch mit Not¬
wendigkeit eingetretene Konsequenz der Humboldtschen Schulpolitik.


Ivilhclm v, Humboldt

So bemerkenswert übrigens der Anteil ist, den Humboldt an dieser Ent¬
wicklung gehabt hat, so darf man doch nach dem Stande der Dinge, den er
schon vorfand, annehmen, daß sie auch ohne ihn eingetreten sein würde. Geradezu
bestimmend hat er an einer anderen Stelle eingegriffen: er ist der Vater des
nach Klassen abgestuften Berechtigungswesens. Paul de Lagarde schrieb im
Jahre 1881: „Schulen haben, die nach einer Idee, für einen bestimmten Zweck
eingerichtet sind, und dennoch nach dem Besuche bestimmter Klassen ihren An¬
gehörigen auszutreten erlauben, diese Erfindung der Geheimden Räte Schulze
und Wiese muß mit Besen ausgekehrt werden, und alle sie Verteidigenden und
Beschönigenden müssen mit ihr fort." Ein berechtigter Zorn; nur wußte Lagarde
nicht, was jetzt offen zutage liegt, daß die eigentliche Verantwortung für dieses
unselige System Humboldt zu tragen hat. Ansätze zu Mittelschulen, Bürger¬
schulen, Realschulen waren zu seiner Zeit schon vielfach vorhanden und wurden
z. B. von Schleiermacher richtig gewürdigt; Humboldt hat ihr Wachstum unter¬
drückt, und so das Aufkommen einer neuen Art mehr auf das Praktische ge¬
richteter Bildungsanstalten um Jahrzehnte verzögert. Gewiß in edelster Gesinnung
und Absicht; das Ideal einer einheitlichen, Hoch und Niedrig in der Nation
umfassenden, nur in ihrer Abstufung Unterschiede zulassenden Erziehungsschule
hielt ihn gebannt — dasselbe Ideal, das heute wie etwas Neues von der ent¬
gegengesetzten Seite her verkündigt wird.

Denn im Laufe von drei Menschenaltern hat sich hier eine seltsame und
doch natürliche Verschiebung vollzogen. Humboldt hielt es für richtig, die
Bildungsbedürfnisse der erwerbenden Klassen denen der höheren Berufstände
unterzuordnen; Joh. Schulze und Ludwig Wiese setzten das Werk fort: und
nur zu gut ist es gelungen. Um mit irgendeiner gewünschten Berechtigung aus
Tertia, aus Untersekunda, mit Primareife abzugehen, strömte den Gymnasien
und später auch den Realgymnasien und Oberrealschulen eine Menge von
Schülern zu, die gar nicht daran dachten, den neunjährigen Kursus bis zu Ende
durchzumachen. Daß sie zu einem für sie so ungeeigneten Bildungsgange ein¬
geladen, stellenweise genötigt wurden, war hart. Nach und nach aber kamen
sie in die Überzahl; und nun wandte sich das Blatt. Als man im Jahre 1890
den Tatbestand aufnahm, stellte sich heraus, daß von zweihundert Knaben, die
in eine höhere Schule aufgenommen waren, nur einundvierzig ihr Endziel
erreichten. Das war ein Mißstand, der Abhilfe erheischte; und nach dem Prinzip
der Majorität, das inzwischen ja auch in: politischen Leben zu Ansehen gelangt
war, schien es das einfachste, von jetzt an das Interesse derer, die zur Reife¬
prüfung gelangen, dem der früher Abgehenden unterzuordnen. Dieser Grundsatz
wurde in den Lehrplänen von 1891 geradezu proklamiert (III, 1), in denen
von 1901 nicht widerrufen. So ist der neunjährige Lehrgang zerstört worden;
erst in Obersekunda darf sich die höhere Schule ihres eigentlichen Berufes, auf
die Hochschule vorzubereiten, wieder erinnern: eine ungewollte, doch mit Not¬
wendigkeit eingetretene Konsequenz der Humboldtschen Schulpolitik.


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[0076] Ivilhclm v, Humboldt So bemerkenswert übrigens der Anteil ist, den Humboldt an dieser Ent¬ wicklung gehabt hat, so darf man doch nach dem Stande der Dinge, den er schon vorfand, annehmen, daß sie auch ohne ihn eingetreten sein würde. Geradezu bestimmend hat er an einer anderen Stelle eingegriffen: er ist der Vater des nach Klassen abgestuften Berechtigungswesens. Paul de Lagarde schrieb im Jahre 1881: „Schulen haben, die nach einer Idee, für einen bestimmten Zweck eingerichtet sind, und dennoch nach dem Besuche bestimmter Klassen ihren An¬ gehörigen auszutreten erlauben, diese Erfindung der Geheimden Räte Schulze und Wiese muß mit Besen ausgekehrt werden, und alle sie Verteidigenden und Beschönigenden müssen mit ihr fort." Ein berechtigter Zorn; nur wußte Lagarde nicht, was jetzt offen zutage liegt, daß die eigentliche Verantwortung für dieses unselige System Humboldt zu tragen hat. Ansätze zu Mittelschulen, Bürger¬ schulen, Realschulen waren zu seiner Zeit schon vielfach vorhanden und wurden z. B. von Schleiermacher richtig gewürdigt; Humboldt hat ihr Wachstum unter¬ drückt, und so das Aufkommen einer neuen Art mehr auf das Praktische ge¬ richteter Bildungsanstalten um Jahrzehnte verzögert. Gewiß in edelster Gesinnung und Absicht; das Ideal einer einheitlichen, Hoch und Niedrig in der Nation umfassenden, nur in ihrer Abstufung Unterschiede zulassenden Erziehungsschule hielt ihn gebannt — dasselbe Ideal, das heute wie etwas Neues von der ent¬ gegengesetzten Seite her verkündigt wird. Denn im Laufe von drei Menschenaltern hat sich hier eine seltsame und doch natürliche Verschiebung vollzogen. Humboldt hielt es für richtig, die Bildungsbedürfnisse der erwerbenden Klassen denen der höheren Berufstände unterzuordnen; Joh. Schulze und Ludwig Wiese setzten das Werk fort: und nur zu gut ist es gelungen. Um mit irgendeiner gewünschten Berechtigung aus Tertia, aus Untersekunda, mit Primareife abzugehen, strömte den Gymnasien und später auch den Realgymnasien und Oberrealschulen eine Menge von Schülern zu, die gar nicht daran dachten, den neunjährigen Kursus bis zu Ende durchzumachen. Daß sie zu einem für sie so ungeeigneten Bildungsgange ein¬ geladen, stellenweise genötigt wurden, war hart. Nach und nach aber kamen sie in die Überzahl; und nun wandte sich das Blatt. Als man im Jahre 1890 den Tatbestand aufnahm, stellte sich heraus, daß von zweihundert Knaben, die in eine höhere Schule aufgenommen waren, nur einundvierzig ihr Endziel erreichten. Das war ein Mißstand, der Abhilfe erheischte; und nach dem Prinzip der Majorität, das inzwischen ja auch in: politischen Leben zu Ansehen gelangt war, schien es das einfachste, von jetzt an das Interesse derer, die zur Reife¬ prüfung gelangen, dem der früher Abgehenden unterzuordnen. Dieser Grundsatz wurde in den Lehrplänen von 1891 geradezu proklamiert (III, 1), in denen von 1901 nicht widerrufen. So ist der neunjährige Lehrgang zerstört worden; erst in Obersekunda darf sich die höhere Schule ihres eigentlichen Berufes, auf die Hochschule vorzubereiten, wieder erinnern: eine ungewollte, doch mit Not¬ wendigkeit eingetretene Konsequenz der Humboldtschen Schulpolitik.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/76>, abgerufen am 23.07.2024.