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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Wilhelm v. Humboldt

geschehen, und noch allmählicher zum Bewußtsein gekommen. Heute aber geben
die künstlichen Vorschläge, die man gemacht hat, um durch äußere Veranstaltung
die Schroffheit des Überganges zu mildern, ein deutliches Zeugnis, wie hier
Übel geschaffen worden sind, die nun wieder bekämpft werden müssen.

Was Humboldt in dieser Beziehung getan hat, hängt mit einem allgemeinen
Zuge seines Wesens zusammen, mit dem, fast möchte man sagen, fanatischen
Eifer für Prüfungen. Nicht nur Schüler und Lehrer sollten mehr als einem
Examen unterworfen werden, sondern z. B. auch die Verwaltungsbeamten, immer
vor dem Aufrücken in eine höhere Stellung; und auch hierbei sollte außer dem
technischen Können die ganze Persönlichkeit ins Auge gefaßt werden. In seinem
Gutachten heißt es: "Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten,
als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit
hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt, mit welchem Grade
intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet." Dies
wird dann im einzelnen dargelegt, um den Hauptgedanken vorzubereiten, daß
ermittelt werden solle, "ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder
gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, ob er den
Feuereifer des Reformators hat oder nur den starken Willen treuer Pflicht¬
erfüllung, und zuletzt, ob es ihn: mehr auf den Gedanken oder auf die Wirk¬
lichkeit ankommt, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist,
von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist,
wenn der erstere der Stempel des letzteren geworden ist. Dies alles nun zu
erforschen" -- damit wendet sich Humboldt der Frage der praktischen Ausführung
zu -- "gibt es tausend und abertausend Mittel, und fast kein deutbares Gespräch,
von dem aus man nicht in wenig Wendungen dahin gelangen könnte, wo sich
bereits ziemlich klar sehen läßt."

Wir lächeln, wenn mir so etwas lesen; aber wir haben nicht immer recht,
wenn wir lächeln. In der Tat, so müßte man denjenigen prüfen, so müßte
man ihn prüfen können, der den Anspruch erhebt, ein Führer anderer, gar
erwachsener Menschen zu werden. Doch was ist in der Wirklichkeit daraus
geworden? Innerhalb des Examens pro lacultats ävcenäi ist ja ein Rest der
allgemeinen Prüfung erhalten, so kümmerlich und unerfreulich, daß vielfach schon
empfohlen worden ist, ihn auch noch fallen zu lassen, -- was doch nur be¬
deuten würde: das Symptom einer Krankheit zudecken, damit es dem Auge
kein Ärgernis gebe; Engherzigkeit und Banausentum würden dann eben in
Zukunft ganz unbeobachtet hereinkommen. Aber etwas sehr Schwieriges ist dies
allerdings: nicht bloß ein Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten festzustellen,
sondern die Zulänglichkeit des ganzen Menschen zu erforschen. Eine solche
Prüfung muß erstarren und unwirksam werden, wenn sie auf ein
Entweder--Oder, "Genügend" oder "Nicht genügend" eingestellt wird.
Davon liefert ja die allmähliche Degeneration unserer Reifeprüfung das
sprechendste Beispiel.


Wilhelm v. Humboldt

geschehen, und noch allmählicher zum Bewußtsein gekommen. Heute aber geben
die künstlichen Vorschläge, die man gemacht hat, um durch äußere Veranstaltung
die Schroffheit des Überganges zu mildern, ein deutliches Zeugnis, wie hier
Übel geschaffen worden sind, die nun wieder bekämpft werden müssen.

Was Humboldt in dieser Beziehung getan hat, hängt mit einem allgemeinen
Zuge seines Wesens zusammen, mit dem, fast möchte man sagen, fanatischen
Eifer für Prüfungen. Nicht nur Schüler und Lehrer sollten mehr als einem
Examen unterworfen werden, sondern z. B. auch die Verwaltungsbeamten, immer
vor dem Aufrücken in eine höhere Stellung; und auch hierbei sollte außer dem
technischen Können die ganze Persönlichkeit ins Auge gefaßt werden. In seinem
Gutachten heißt es: „Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten,
als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit
hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt, mit welchem Grade
intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet." Dies
wird dann im einzelnen dargelegt, um den Hauptgedanken vorzubereiten, daß
ermittelt werden solle, „ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder
gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, ob er den
Feuereifer des Reformators hat oder nur den starken Willen treuer Pflicht¬
erfüllung, und zuletzt, ob es ihn: mehr auf den Gedanken oder auf die Wirk¬
lichkeit ankommt, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist,
von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist,
wenn der erstere der Stempel des letzteren geworden ist. Dies alles nun zu
erforschen" — damit wendet sich Humboldt der Frage der praktischen Ausführung
zu — „gibt es tausend und abertausend Mittel, und fast kein deutbares Gespräch,
von dem aus man nicht in wenig Wendungen dahin gelangen könnte, wo sich
bereits ziemlich klar sehen läßt."

Wir lächeln, wenn mir so etwas lesen; aber wir haben nicht immer recht,
wenn wir lächeln. In der Tat, so müßte man denjenigen prüfen, so müßte
man ihn prüfen können, der den Anspruch erhebt, ein Führer anderer, gar
erwachsener Menschen zu werden. Doch was ist in der Wirklichkeit daraus
geworden? Innerhalb des Examens pro lacultats ävcenäi ist ja ein Rest der
allgemeinen Prüfung erhalten, so kümmerlich und unerfreulich, daß vielfach schon
empfohlen worden ist, ihn auch noch fallen zu lassen, — was doch nur be¬
deuten würde: das Symptom einer Krankheit zudecken, damit es dem Auge
kein Ärgernis gebe; Engherzigkeit und Banausentum würden dann eben in
Zukunft ganz unbeobachtet hereinkommen. Aber etwas sehr Schwieriges ist dies
allerdings: nicht bloß ein Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten festzustellen,
sondern die Zulänglichkeit des ganzen Menschen zu erforschen. Eine solche
Prüfung muß erstarren und unwirksam werden, wenn sie auf ein
Entweder—Oder, „Genügend" oder „Nicht genügend" eingestellt wird.
Davon liefert ja die allmähliche Degeneration unserer Reifeprüfung das
sprechendste Beispiel.


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[0075] Wilhelm v. Humboldt geschehen, und noch allmählicher zum Bewußtsein gekommen. Heute aber geben die künstlichen Vorschläge, die man gemacht hat, um durch äußere Veranstaltung die Schroffheit des Überganges zu mildern, ein deutliches Zeugnis, wie hier Übel geschaffen worden sind, die nun wieder bekämpft werden müssen. Was Humboldt in dieser Beziehung getan hat, hängt mit einem allgemeinen Zuge seines Wesens zusammen, mit dem, fast möchte man sagen, fanatischen Eifer für Prüfungen. Nicht nur Schüler und Lehrer sollten mehr als einem Examen unterworfen werden, sondern z. B. auch die Verwaltungsbeamten, immer vor dem Aufrücken in eine höhere Stellung; und auch hierbei sollte außer dem technischen Können die ganze Persönlichkeit ins Auge gefaßt werden. In seinem Gutachten heißt es: „Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten, als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt, mit welchem Grade intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet." Dies wird dann im einzelnen dargelegt, um den Hauptgedanken vorzubereiten, daß ermittelt werden solle, „ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, ob er den Feuereifer des Reformators hat oder nur den starken Willen treuer Pflicht¬ erfüllung, und zuletzt, ob es ihn: mehr auf den Gedanken oder auf die Wirk¬ lichkeit ankommt, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist, von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist, wenn der erstere der Stempel des letzteren geworden ist. Dies alles nun zu erforschen" — damit wendet sich Humboldt der Frage der praktischen Ausführung zu — „gibt es tausend und abertausend Mittel, und fast kein deutbares Gespräch, von dem aus man nicht in wenig Wendungen dahin gelangen könnte, wo sich bereits ziemlich klar sehen läßt." Wir lächeln, wenn mir so etwas lesen; aber wir haben nicht immer recht, wenn wir lächeln. In der Tat, so müßte man denjenigen prüfen, so müßte man ihn prüfen können, der den Anspruch erhebt, ein Führer anderer, gar erwachsener Menschen zu werden. Doch was ist in der Wirklichkeit daraus geworden? Innerhalb des Examens pro lacultats ävcenäi ist ja ein Rest der allgemeinen Prüfung erhalten, so kümmerlich und unerfreulich, daß vielfach schon empfohlen worden ist, ihn auch noch fallen zu lassen, — was doch nur be¬ deuten würde: das Symptom einer Krankheit zudecken, damit es dem Auge kein Ärgernis gebe; Engherzigkeit und Banausentum würden dann eben in Zukunft ganz unbeobachtet hereinkommen. Aber etwas sehr Schwieriges ist dies allerdings: nicht bloß ein Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten festzustellen, sondern die Zulänglichkeit des ganzen Menschen zu erforschen. Eine solche Prüfung muß erstarren und unwirksam werden, wenn sie auf ein Entweder—Oder, „Genügend" oder „Nicht genügend" eingestellt wird. Davon liefert ja die allmähliche Degeneration unserer Reifeprüfung das sprechendste Beispiel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/75>, abgerufen am 23.07.2024.