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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Gottfried Haberkorfs Irrtum

"Weißt du es wirklich nicht?" flüsterte Liselotte.

Da schlug es wie ein Blitz in ihn.

"Jene Nacht -- du warst es -- Liselotte -- sag doch -- warst du es?"
stammelte er.

Sie nickte.

"Ich war es. Wir hatten seit kurzem die Kammern vertauscht. Ich konnte
nicht schlafen vor Liebe und Sehnsucht nach dir. Und als du dann plötzlich vor
dem Fenster warst --"

Ihre Stimme wurde ganz leise. Schlank und aufrecht stand sie mitten im
Zimmer. Ihr Gesicht schimmerte blaß.

"Liselottel" sagte Gottfried, "nun wird alles gut."

Und er griff nach ihrer Hand und tat, was er nie einer Frau getan hatte,
führte die Hand an die Lippen und küßte sie. Da zog ihn das Mädchen an sich,
küßte ihn rasch und leidenschaftlich und huschte aus dem Zimmer, die Treppe
hinab. Gottfried sah aus dem Fenster. Da eilte sie schon in die Dunkelheit der
Gärten hinein. --

Als Gottfried Liselotte nicht mehr scheu konnte, trat er vom Fenster zurück
an das Klavier. Er strich mit der Hand über die Stelle der blanken Platte, wo
ihre Hand gelegen hatte. Und wie er so stand und diese zärtliche Bewegung aus¬
führte, empfand er, daß sie eine symbolische Bedeutung für seine Zukunft haben
konnte: Liselotte und die Musik.

Gottfried Haberkorf schlief in dieser Nacht nicht. Erst machte er einen Weg
in die schlafenden Felder, denselben, den er in jener ersten schwülen Mainacht
gegangen war. Auf diesem Wege überlegte er sich, was er morgen zu tun hatte.
Dann kramte er zu Hause lange zwischen seinen beschriebenen Notenblättern herum,
öffnete das verschnürte Paket, das in seinem Schreibtische lag, nahm manches
heraus und fügte noch mehr hinzu. Als er etwas Ordnung in die losen Blätter
gebracht hatte, griff er zum Kursbuch, lief an den Schrank und sah nach seiner
Garderobe. Dazwischen zog er immer wieder die Uhr. Vom Nachbardorfe herüber
klang zweimal der Stundenschlag. Da kam ihm seine Unruhe töricht vor. Was
wollte er denn noch mehr? Er hatte keine Ursache, jetzt noch unruhig zu sein.
Da zündete er sich eine Zigarre an, setzte sich vors offene Fenster und sah klaren
Auges in die nächtliche Dämmerung. Bald bellte sich der nordöstliche Himmel,
und die Sterne wurden blasser. Auf den gegenüberliegenden Wiesen schimmerten
die weißen Doldenblüten. Ein Hahn krähte irgendwo. Und endlich tönte schwach
und zierlich der Jubellaut einer erwachenden Lerche im Felde.

Da hielt sich Gottfried nicht länger. Er warf seine Zigarre aus dem Fenster,
schlug das Klavier auf, und kräftig jubelnd strömte es in die Morgenluft: "Horch,
horch! die Lerch' im Ätherblaul"

Und dann kam der Tag.




Gottfried Haberkorfs Irrtum

„Weißt du es wirklich nicht?" flüsterte Liselotte.

Da schlug es wie ein Blitz in ihn.

„Jene Nacht — du warst es — Liselotte — sag doch — warst du es?"
stammelte er.

Sie nickte.

„Ich war es. Wir hatten seit kurzem die Kammern vertauscht. Ich konnte
nicht schlafen vor Liebe und Sehnsucht nach dir. Und als du dann plötzlich vor
dem Fenster warst —"

Ihre Stimme wurde ganz leise. Schlank und aufrecht stand sie mitten im
Zimmer. Ihr Gesicht schimmerte blaß.

„Liselottel" sagte Gottfried, „nun wird alles gut."

Und er griff nach ihrer Hand und tat, was er nie einer Frau getan hatte,
führte die Hand an die Lippen und küßte sie. Da zog ihn das Mädchen an sich,
küßte ihn rasch und leidenschaftlich und huschte aus dem Zimmer, die Treppe
hinab. Gottfried sah aus dem Fenster. Da eilte sie schon in die Dunkelheit der
Gärten hinein. —

Als Gottfried Liselotte nicht mehr scheu konnte, trat er vom Fenster zurück
an das Klavier. Er strich mit der Hand über die Stelle der blanken Platte, wo
ihre Hand gelegen hatte. Und wie er so stand und diese zärtliche Bewegung aus¬
führte, empfand er, daß sie eine symbolische Bedeutung für seine Zukunft haben
konnte: Liselotte und die Musik.

Gottfried Haberkorf schlief in dieser Nacht nicht. Erst machte er einen Weg
in die schlafenden Felder, denselben, den er in jener ersten schwülen Mainacht
gegangen war. Auf diesem Wege überlegte er sich, was er morgen zu tun hatte.
Dann kramte er zu Hause lange zwischen seinen beschriebenen Notenblättern herum,
öffnete das verschnürte Paket, das in seinem Schreibtische lag, nahm manches
heraus und fügte noch mehr hinzu. Als er etwas Ordnung in die losen Blätter
gebracht hatte, griff er zum Kursbuch, lief an den Schrank und sah nach seiner
Garderobe. Dazwischen zog er immer wieder die Uhr. Vom Nachbardorfe herüber
klang zweimal der Stundenschlag. Da kam ihm seine Unruhe töricht vor. Was
wollte er denn noch mehr? Er hatte keine Ursache, jetzt noch unruhig zu sein.
Da zündete er sich eine Zigarre an, setzte sich vors offene Fenster und sah klaren
Auges in die nächtliche Dämmerung. Bald bellte sich der nordöstliche Himmel,
und die Sterne wurden blasser. Auf den gegenüberliegenden Wiesen schimmerten
die weißen Doldenblüten. Ein Hahn krähte irgendwo. Und endlich tönte schwach
und zierlich der Jubellaut einer erwachenden Lerche im Felde.

Da hielt sich Gottfried nicht länger. Er warf seine Zigarre aus dem Fenster,
schlug das Klavier auf, und kräftig jubelnd strömte es in die Morgenluft: „Horch,
horch! die Lerch' im Ätherblaul"

Und dann kam der Tag.




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[0664] Gottfried Haberkorfs Irrtum „Weißt du es wirklich nicht?" flüsterte Liselotte. Da schlug es wie ein Blitz in ihn. „Jene Nacht — du warst es — Liselotte — sag doch — warst du es?" stammelte er. Sie nickte. „Ich war es. Wir hatten seit kurzem die Kammern vertauscht. Ich konnte nicht schlafen vor Liebe und Sehnsucht nach dir. Und als du dann plötzlich vor dem Fenster warst —" Ihre Stimme wurde ganz leise. Schlank und aufrecht stand sie mitten im Zimmer. Ihr Gesicht schimmerte blaß. „Liselottel" sagte Gottfried, „nun wird alles gut." Und er griff nach ihrer Hand und tat, was er nie einer Frau getan hatte, führte die Hand an die Lippen und küßte sie. Da zog ihn das Mädchen an sich, küßte ihn rasch und leidenschaftlich und huschte aus dem Zimmer, die Treppe hinab. Gottfried sah aus dem Fenster. Da eilte sie schon in die Dunkelheit der Gärten hinein. — Als Gottfried Liselotte nicht mehr scheu konnte, trat er vom Fenster zurück an das Klavier. Er strich mit der Hand über die Stelle der blanken Platte, wo ihre Hand gelegen hatte. Und wie er so stand und diese zärtliche Bewegung aus¬ führte, empfand er, daß sie eine symbolische Bedeutung für seine Zukunft haben konnte: Liselotte und die Musik. Gottfried Haberkorf schlief in dieser Nacht nicht. Erst machte er einen Weg in die schlafenden Felder, denselben, den er in jener ersten schwülen Mainacht gegangen war. Auf diesem Wege überlegte er sich, was er morgen zu tun hatte. Dann kramte er zu Hause lange zwischen seinen beschriebenen Notenblättern herum, öffnete das verschnürte Paket, das in seinem Schreibtische lag, nahm manches heraus und fügte noch mehr hinzu. Als er etwas Ordnung in die losen Blätter gebracht hatte, griff er zum Kursbuch, lief an den Schrank und sah nach seiner Garderobe. Dazwischen zog er immer wieder die Uhr. Vom Nachbardorfe herüber klang zweimal der Stundenschlag. Da kam ihm seine Unruhe töricht vor. Was wollte er denn noch mehr? Er hatte keine Ursache, jetzt noch unruhig zu sein. Da zündete er sich eine Zigarre an, setzte sich vors offene Fenster und sah klaren Auges in die nächtliche Dämmerung. Bald bellte sich der nordöstliche Himmel, und die Sterne wurden blasser. Auf den gegenüberliegenden Wiesen schimmerten die weißen Doldenblüten. Ein Hahn krähte irgendwo. Und endlich tönte schwach und zierlich der Jubellaut einer erwachenden Lerche im Felde. Da hielt sich Gottfried nicht länger. Er warf seine Zigarre aus dem Fenster, schlug das Klavier auf, und kräftig jubelnd strömte es in die Morgenluft: „Horch, horch! die Lerch' im Ätherblaul" Und dann kam der Tag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/664>, abgerufen am 23.07.2024.