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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

An seine Schwester.

Amoy, den 27. Oktober 1898.


Meine liebe Weinandel

Zum letzten Male schrieb ich Dir aus Shanghai über unseren Besuch in
Kiao-chou. Seitdem sind wir in Hongkong gewesen, fanden auch dort kein Schiff
nach Fu-chou und mußten uns daher mit Amoy begnügen. Auf der Fahrt
von Shanghai nach Hongkong erlebten wir einen kleinen Taifun, der in keiner
Weise meinen Erwartungen entsprach -- es war entsetzlich schwül, die See sehr
bewegt, aber da man nicht auf Deck durste und auf die Kajüte angewiesen
war, so hatte man wenig von dem großartigen Anblick. Auf dem Dampfer,
der uns von Hongkong nach Amoy brachte, passierte mir ein kleines Malheur,
das leicht ein großes hätte werden können. In dem engen Gange, der zwischen
den Kabinen hin durchführte, hatten die Leute eine Luke offen gelassen, von der
eine steile Hühnerstiege in den unteren Schiffsraum führte; ich übersah sie und
stürzte in die Tiefe. Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen, sondern nur
das linke Schienbein ziemlich stark abgeschürft. Obwohl Stangen an der Wand
befestigt waren, die vorgelegt werden müssen, sobald die Luke geöffnet wird,
hatte man diese Vorsichtsmaßregel unbeachtet gelassen. Eine so unverantwort¬
liche Nachlässigkeit kann wohl nur auf einem englischen Schiffe vorkommen;
englisch war es auch, daß keiner der Herren, weder der Kapitän noch die
Offiziere, ein Wort der Entschuldigung für nötig hielten. Wie ich mir nicht
das Genick gebrochen habe, ist mir heute noch rätselhaft -- es handelte sich ja
aber nur um einen "Oerman".

In Amoy angelangt, fanden wir in einem sehr netten deutschen Hotel
Unterkommen, haben hier ein sehr gutes Zimmer und ausgezeichnete Ver¬
pflegung -- Vorzüge, die wir um so mehr zu schätzen wissen, nachdem wir
eine Nacht in dem ersten Hotel Hongkongs hatten logieren müssen. Das ist
ein Riesenhotel, das neulich in einem Monat einen Reingewinn von 160000
Dollars eingebracht hat. Dabei herrscht dort eine Unordnung und Unsauberkeit
wie in keinem zweiten europäischen Hotel Ostasiens. Es ist unter englischer
Leitung und in englischem Besitz.

Hier in Amoy besuchten wir natürlich sofort meinen ehemaligen Leipziger
Studiengenossen Dr. M., der hier deutscher Konsul ist.

Am nächsten Tage waren wir dort zum Diner als die einzigen gebildeten
Menschen unter lauter Engländern. Da niemand vorgestellt wurde, wissen wir
auch nicht, wer dort war. Keiner dieser edlen Briten hat mit Lilly auch nur
ein Wort geredet, und als nach Tisch ein wenig getanzt wurde, fand sich keiner,
der Lilly engagierte. Es ist wirklich ganz unglaublich und für einen Menschen
mit kontinentalen Anschauungen schier unfaßlich, daß eine solche Nation von
Rüpeln hier tonangebend sein kann. ("Sehr richtig", sagt Lilly eben.) Zu meiner
Freude sehe ich, daß M. die Engländer amtlich und dienstlich stets mit schonungs¬
loser Rücksichtslosigkeit behandelt und daher in hoher Achtung bei ihnen steht.


Briefe aus China

An seine Schwester.

Amoy, den 27. Oktober 1898.


Meine liebe Weinandel

Zum letzten Male schrieb ich Dir aus Shanghai über unseren Besuch in
Kiao-chou. Seitdem sind wir in Hongkong gewesen, fanden auch dort kein Schiff
nach Fu-chou und mußten uns daher mit Amoy begnügen. Auf der Fahrt
von Shanghai nach Hongkong erlebten wir einen kleinen Taifun, der in keiner
Weise meinen Erwartungen entsprach — es war entsetzlich schwül, die See sehr
bewegt, aber da man nicht auf Deck durste und auf die Kajüte angewiesen
war, so hatte man wenig von dem großartigen Anblick. Auf dem Dampfer,
der uns von Hongkong nach Amoy brachte, passierte mir ein kleines Malheur,
das leicht ein großes hätte werden können. In dem engen Gange, der zwischen
den Kabinen hin durchführte, hatten die Leute eine Luke offen gelassen, von der
eine steile Hühnerstiege in den unteren Schiffsraum führte; ich übersah sie und
stürzte in die Tiefe. Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen, sondern nur
das linke Schienbein ziemlich stark abgeschürft. Obwohl Stangen an der Wand
befestigt waren, die vorgelegt werden müssen, sobald die Luke geöffnet wird,
hatte man diese Vorsichtsmaßregel unbeachtet gelassen. Eine so unverantwort¬
liche Nachlässigkeit kann wohl nur auf einem englischen Schiffe vorkommen;
englisch war es auch, daß keiner der Herren, weder der Kapitän noch die
Offiziere, ein Wort der Entschuldigung für nötig hielten. Wie ich mir nicht
das Genick gebrochen habe, ist mir heute noch rätselhaft — es handelte sich ja
aber nur um einen „Oerman".

In Amoy angelangt, fanden wir in einem sehr netten deutschen Hotel
Unterkommen, haben hier ein sehr gutes Zimmer und ausgezeichnete Ver¬
pflegung — Vorzüge, die wir um so mehr zu schätzen wissen, nachdem wir
eine Nacht in dem ersten Hotel Hongkongs hatten logieren müssen. Das ist
ein Riesenhotel, das neulich in einem Monat einen Reingewinn von 160000
Dollars eingebracht hat. Dabei herrscht dort eine Unordnung und Unsauberkeit
wie in keinem zweiten europäischen Hotel Ostasiens. Es ist unter englischer
Leitung und in englischem Besitz.

Hier in Amoy besuchten wir natürlich sofort meinen ehemaligen Leipziger
Studiengenossen Dr. M., der hier deutscher Konsul ist.

Am nächsten Tage waren wir dort zum Diner als die einzigen gebildeten
Menschen unter lauter Engländern. Da niemand vorgestellt wurde, wissen wir
auch nicht, wer dort war. Keiner dieser edlen Briten hat mit Lilly auch nur
ein Wort geredet, und als nach Tisch ein wenig getanzt wurde, fand sich keiner,
der Lilly engagierte. Es ist wirklich ganz unglaublich und für einen Menschen
mit kontinentalen Anschauungen schier unfaßlich, daß eine solche Nation von
Rüpeln hier tonangebend sein kann. („Sehr richtig", sagt Lilly eben.) Zu meiner
Freude sehe ich, daß M. die Engländer amtlich und dienstlich stets mit schonungs¬
loser Rücksichtslosigkeit behandelt und daher in hoher Achtung bei ihnen steht.


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[0654] Briefe aus China An seine Schwester. Amoy, den 27. Oktober 1898. Meine liebe Weinandel Zum letzten Male schrieb ich Dir aus Shanghai über unseren Besuch in Kiao-chou. Seitdem sind wir in Hongkong gewesen, fanden auch dort kein Schiff nach Fu-chou und mußten uns daher mit Amoy begnügen. Auf der Fahrt von Shanghai nach Hongkong erlebten wir einen kleinen Taifun, der in keiner Weise meinen Erwartungen entsprach — es war entsetzlich schwül, die See sehr bewegt, aber da man nicht auf Deck durste und auf die Kajüte angewiesen war, so hatte man wenig von dem großartigen Anblick. Auf dem Dampfer, der uns von Hongkong nach Amoy brachte, passierte mir ein kleines Malheur, das leicht ein großes hätte werden können. In dem engen Gange, der zwischen den Kabinen hin durchführte, hatten die Leute eine Luke offen gelassen, von der eine steile Hühnerstiege in den unteren Schiffsraum führte; ich übersah sie und stürzte in die Tiefe. Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen, sondern nur das linke Schienbein ziemlich stark abgeschürft. Obwohl Stangen an der Wand befestigt waren, die vorgelegt werden müssen, sobald die Luke geöffnet wird, hatte man diese Vorsichtsmaßregel unbeachtet gelassen. Eine so unverantwort¬ liche Nachlässigkeit kann wohl nur auf einem englischen Schiffe vorkommen; englisch war es auch, daß keiner der Herren, weder der Kapitän noch die Offiziere, ein Wort der Entschuldigung für nötig hielten. Wie ich mir nicht das Genick gebrochen habe, ist mir heute noch rätselhaft — es handelte sich ja aber nur um einen „Oerman". In Amoy angelangt, fanden wir in einem sehr netten deutschen Hotel Unterkommen, haben hier ein sehr gutes Zimmer und ausgezeichnete Ver¬ pflegung — Vorzüge, die wir um so mehr zu schätzen wissen, nachdem wir eine Nacht in dem ersten Hotel Hongkongs hatten logieren müssen. Das ist ein Riesenhotel, das neulich in einem Monat einen Reingewinn von 160000 Dollars eingebracht hat. Dabei herrscht dort eine Unordnung und Unsauberkeit wie in keinem zweiten europäischen Hotel Ostasiens. Es ist unter englischer Leitung und in englischem Besitz. Hier in Amoy besuchten wir natürlich sofort meinen ehemaligen Leipziger Studiengenossen Dr. M., der hier deutscher Konsul ist. Am nächsten Tage waren wir dort zum Diner als die einzigen gebildeten Menschen unter lauter Engländern. Da niemand vorgestellt wurde, wissen wir auch nicht, wer dort war. Keiner dieser edlen Briten hat mit Lilly auch nur ein Wort geredet, und als nach Tisch ein wenig getanzt wurde, fand sich keiner, der Lilly engagierte. Es ist wirklich ganz unglaublich und für einen Menschen mit kontinentalen Anschauungen schier unfaßlich, daß eine solche Nation von Rüpeln hier tonangebend sein kann. („Sehr richtig", sagt Lilly eben.) Zu meiner Freude sehe ich, daß M. die Engländer amtlich und dienstlich stets mit schonungs¬ loser Rücksichtslosigkeit behandelt und daher in hoher Achtung bei ihnen steht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/654>, abgerufen am 03.07.2024.