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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Zur belgischen Landesverteidigungsfmge

rungen in Ländern, die ganz auf eigenen Füßen stehen. Jene Neutralität hat
auch mich eine andere Schattenseite, auf die man in der gleichfalls neutralen,
auf ihre Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit mit Recht stolzen Schweiz bereits
aufmerksam zu werden anfängt. Der eidgenössische Oberstkorpskommandant und
Chef der Generalstabsabteilnng v. Sprecher äußerte sich hierüber in einem im
Frühjahr 1910 in Bern vor einer Versammlung von Offizieren gehaltenen sehr
bemerkenswerten geistvollen Vortrage^): "Es hat wohl Zeiten gegeben, wo die
Defensive als leitendes Prinzip unserer Landesverteidigung hingestellt wurde,
und es ist nicht zu bestreiten, daß die besondere Art der Neutralität unseres
Landes uns den Zugang zur Offensive erschwert. Trotzdem dürfen wir nicht
zweifeln, daß im gegebenen Momente, und wenn die Not es gebietet, die Mittel
sich finden werden, eine Wohltat, die zur Plage geworden ist, zurückzuweisen,
eine schädliche und unleidliche Fessel zu sprengen und diejenige Strategie zu
ergreifen, die unseren guten militärischen Überlieferungen und, wie wir glauben,
auch heute noch dem Geiste und Charakter unseres Volkes entsprechen, und die
allein uns die Aussicht eröffnen, mit Ehren zu bestehen."

In Belgien gestattet die Lage nicht, so mannhafte Zukunftspläne anzudeuten,
indessen läßt sich doch erkennen, daß mau dort in weiten Kreisen die Unerträg-
lichkeit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes empfindet. Anfang November
dieses Jahres hat nämlich die Redaktion des "Le soir", des "meistgelesenen
Blattes Belgiens", eine Umfrage über die Landesverteidigung veranstaltet. Die
auch dem Verfasser, der sonst keinerlei Beziehungen zu jenem Lande hat, zu¬
gegangene "ausschließlich objektive" Fragestellung ist für das bezeichnend, was
man als Bedürfnis fühlt, und erscheint geeignet, unser Interesse in Anspruch
zu nehmen, wenn auch die positive Beantwortung nicht unsere Sache ist. Der
Fragebogen lautet in Übertragung aus dem Französischen:

"Zur Verteidigung Belgiens.

Voraussetzungen:

1. Ein Land wie Belgien mit einem Flächenraum von ungefähr 30000
Quadratkilometer, mit einer Bevölkerung von über sieben Millionen Einwohnern,
übervölkert im größten Teile seiner Ausdehnung (ein nördlicher Streif von
25 Ka Breite macht allein eine Ausnahme) und durchzogen von äußerst zahl¬
reichen Wasser- und Landverbindungswegen.

2. Dieses Land muß sich infolge internationaler Verträge im Falle einer
Verletzung seines Territoriums auf eine defensive Haltung beschränken.

3. Auf beiden Ufern jedes der beiden großen Flüsse (Scheide und Maas),
die das Land in ziemlich parallelen Richtungen durchströmen, so daß zwischen
ihnen eine Region mit fast ebenem Gelände und großer Wohlhabenheit in einer
Breite von 80 Ka verbleibt, ist ein Festungssnstem hergestellt.



-) Abgedruckt in "Der Bund" 1910, Ur. 261 bis 267.
Zur belgischen Landesverteidigungsfmge

rungen in Ländern, die ganz auf eigenen Füßen stehen. Jene Neutralität hat
auch mich eine andere Schattenseite, auf die man in der gleichfalls neutralen,
auf ihre Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit mit Recht stolzen Schweiz bereits
aufmerksam zu werden anfängt. Der eidgenössische Oberstkorpskommandant und
Chef der Generalstabsabteilnng v. Sprecher äußerte sich hierüber in einem im
Frühjahr 1910 in Bern vor einer Versammlung von Offizieren gehaltenen sehr
bemerkenswerten geistvollen Vortrage^): „Es hat wohl Zeiten gegeben, wo die
Defensive als leitendes Prinzip unserer Landesverteidigung hingestellt wurde,
und es ist nicht zu bestreiten, daß die besondere Art der Neutralität unseres
Landes uns den Zugang zur Offensive erschwert. Trotzdem dürfen wir nicht
zweifeln, daß im gegebenen Momente, und wenn die Not es gebietet, die Mittel
sich finden werden, eine Wohltat, die zur Plage geworden ist, zurückzuweisen,
eine schädliche und unleidliche Fessel zu sprengen und diejenige Strategie zu
ergreifen, die unseren guten militärischen Überlieferungen und, wie wir glauben,
auch heute noch dem Geiste und Charakter unseres Volkes entsprechen, und die
allein uns die Aussicht eröffnen, mit Ehren zu bestehen."

In Belgien gestattet die Lage nicht, so mannhafte Zukunftspläne anzudeuten,
indessen läßt sich doch erkennen, daß mau dort in weiten Kreisen die Unerträg-
lichkeit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes empfindet. Anfang November
dieses Jahres hat nämlich die Redaktion des „Le soir", des „meistgelesenen
Blattes Belgiens", eine Umfrage über die Landesverteidigung veranstaltet. Die
auch dem Verfasser, der sonst keinerlei Beziehungen zu jenem Lande hat, zu¬
gegangene „ausschließlich objektive" Fragestellung ist für das bezeichnend, was
man als Bedürfnis fühlt, und erscheint geeignet, unser Interesse in Anspruch
zu nehmen, wenn auch die positive Beantwortung nicht unsere Sache ist. Der
Fragebogen lautet in Übertragung aus dem Französischen:

„Zur Verteidigung Belgiens.

Voraussetzungen:

1. Ein Land wie Belgien mit einem Flächenraum von ungefähr 30000
Quadratkilometer, mit einer Bevölkerung von über sieben Millionen Einwohnern,
übervölkert im größten Teile seiner Ausdehnung (ein nördlicher Streif von
25 Ka Breite macht allein eine Ausnahme) und durchzogen von äußerst zahl¬
reichen Wasser- und Landverbindungswegen.

2. Dieses Land muß sich infolge internationaler Verträge im Falle einer
Verletzung seines Territoriums auf eine defensive Haltung beschränken.

3. Auf beiden Ufern jedes der beiden großen Flüsse (Scheide und Maas),
die das Land in ziemlich parallelen Richtungen durchströmen, so daß zwischen
ihnen eine Region mit fast ebenem Gelände und großer Wohlhabenheit in einer
Breite von 80 Ka verbleibt, ist ein Festungssnstem hergestellt.



-) Abgedruckt in „Der Bund" 1910, Ur. 261 bis 267.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/595>, abgerufen am 23.07.2024.