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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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auch ganz abgesehen von weiteren politischen Verwicklungen und deren möglichen
Folgen, der ausgebrochene Krieg, wenn er andauert, für unser Wirtschaftsleben
sehr schwere Schädigungen im Gefolge haben muß. Der Kriegszustand wird
zunächst einen sehr ungünstigen Einfluß auf den Geldmarkt ausüben. Es wird
ein scharfer Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern um die Aufrecht¬
erhaltung und möglichste Stärkung der nationalen Goldreserven entstehen; die
Geld- und Zinsanspannung wird also voraussichtlich nunmehr längere Zeit
andauern oder sogar noch eine Verschärfung erfahren. Soweit aber nicht die
Geldverhältnisse schon als Hindernis wirken, würden die politische Unsicherheit,
die Absatzstockungen und die Verluste, welche die Industrie aus ihren Beziehungen
zum Orient zu gewärtigen hat, ausreichen, der wirtschaftlichen Unternehmungs¬
lust einen wirksamen Dämpfer aufzusetzen. Sind wir in Deutschland doch
infolge der bekannten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die wir zur
Türkei angeknüpft haben, jetzt eines der in: osmanischen Reich finanziell am
stärksten beteiligten Länder! Wir haben nicht nur eine ganze Reihe türkischer
Anleihen übernommen, zum Teil in siegreicher Konkurrenz gegen das französische
Kapital, sondern von noch größerer Bedeutung ist die Beteiligung unserer
Industrie und unserer Banken an den türkischen Eisenbahnbauten. Grund
genug, vor der weiteren Entwicklung der Dinge zu bangen! Es ist heute kein Sonn-
undFeiertagsvergnügen mehr für den deutschenBiedermann, "solch einGespräch von
Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen".
Die Schläge, die es da absetzt, spüren wir unmittelbar an unserem eigenen
Leibe und an unserem Geldbeutel. Doch glücklicherweise sind wir nicht
allein die Beteiligten; noch mehr als Deutschland hat vielleicht Frankreich mit
seinem Milliardenbesitz an türkischen Werten, kaum weniger Österreich zu fürchten,
das dem nahen Orient durch Handels- und politische Beziehungen am engsten
verknüpft ist. Unter den Großmächten wird also der dringende Wunsch bestehen,
den ausgebrochenen Brand zu lokalisieren und ein Übergreifen desselben auf die
Balkanhalb lnsel zu verhüten. In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage hat denn
auch Italien von vornherein erklärt, daß es nicht darauf ausgehe, die Türkei
in ihrem europäischen Bestand anzugreifen, sondern sich dafür einsetzen wolle,
den 8wen8 quo auf dem Balkan aufrechtzuerhalten. Es fragt sich nur, ob die
Verhältnisse nicht stärker sein werden als die Absichten. Denn das Unternehmen,
in welches Italien sich im Vertrauen auf seine unbedingte maritime Überlegen¬
heit eingelassen hat, ist ein in seinen Folgen unabsehbares und gefährliches. Es
ist uns noch in guter Erinnerung, wie die Annexion Bosniens und der Herze¬
gowina vor drei Jahren den Anlaß zu einem heftigen Boykott österreichischer
Waren und Schiffe im ganzen Orient gab, ohne daß die türkische Regierung
imstande gewesen wäre, durch aufklärende oder strenge Maßregeln diesen, spon¬
tanen Handeln der muselmännischen Bevölkerung zusteuern. Ein ähnliches Auf¬
flammen des islamitischen Patriotismus ist mit Sicherheit vorauszusehen und
wird Italien die schwersten wirtschaftlichen Schäden zufügen. Leben doch über


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auch ganz abgesehen von weiteren politischen Verwicklungen und deren möglichen
Folgen, der ausgebrochene Krieg, wenn er andauert, für unser Wirtschaftsleben
sehr schwere Schädigungen im Gefolge haben muß. Der Kriegszustand wird
zunächst einen sehr ungünstigen Einfluß auf den Geldmarkt ausüben. Es wird
ein scharfer Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern um die Aufrecht¬
erhaltung und möglichste Stärkung der nationalen Goldreserven entstehen; die
Geld- und Zinsanspannung wird also voraussichtlich nunmehr längere Zeit
andauern oder sogar noch eine Verschärfung erfahren. Soweit aber nicht die
Geldverhältnisse schon als Hindernis wirken, würden die politische Unsicherheit,
die Absatzstockungen und die Verluste, welche die Industrie aus ihren Beziehungen
zum Orient zu gewärtigen hat, ausreichen, der wirtschaftlichen Unternehmungs¬
lust einen wirksamen Dämpfer aufzusetzen. Sind wir in Deutschland doch
infolge der bekannten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die wir zur
Türkei angeknüpft haben, jetzt eines der in: osmanischen Reich finanziell am
stärksten beteiligten Länder! Wir haben nicht nur eine ganze Reihe türkischer
Anleihen übernommen, zum Teil in siegreicher Konkurrenz gegen das französische
Kapital, sondern von noch größerer Bedeutung ist die Beteiligung unserer
Industrie und unserer Banken an den türkischen Eisenbahnbauten. Grund
genug, vor der weiteren Entwicklung der Dinge zu bangen! Es ist heute kein Sonn-
undFeiertagsvergnügen mehr für den deutschenBiedermann, „solch einGespräch von
Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen".
Die Schläge, die es da absetzt, spüren wir unmittelbar an unserem eigenen
Leibe und an unserem Geldbeutel. Doch glücklicherweise sind wir nicht
allein die Beteiligten; noch mehr als Deutschland hat vielleicht Frankreich mit
seinem Milliardenbesitz an türkischen Werten, kaum weniger Österreich zu fürchten,
das dem nahen Orient durch Handels- und politische Beziehungen am engsten
verknüpft ist. Unter den Großmächten wird also der dringende Wunsch bestehen,
den ausgebrochenen Brand zu lokalisieren und ein Übergreifen desselben auf die
Balkanhalb lnsel zu verhüten. In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage hat denn
auch Italien von vornherein erklärt, daß es nicht darauf ausgehe, die Türkei
in ihrem europäischen Bestand anzugreifen, sondern sich dafür einsetzen wolle,
den 8wen8 quo auf dem Balkan aufrechtzuerhalten. Es fragt sich nur, ob die
Verhältnisse nicht stärker sein werden als die Absichten. Denn das Unternehmen,
in welches Italien sich im Vertrauen auf seine unbedingte maritime Überlegen¬
heit eingelassen hat, ist ein in seinen Folgen unabsehbares und gefährliches. Es
ist uns noch in guter Erinnerung, wie die Annexion Bosniens und der Herze¬
gowina vor drei Jahren den Anlaß zu einem heftigen Boykott österreichischer
Waren und Schiffe im ganzen Orient gab, ohne daß die türkische Regierung
imstande gewesen wäre, durch aufklärende oder strenge Maßregeln diesen, spon¬
tanen Handeln der muselmännischen Bevölkerung zusteuern. Ein ähnliches Auf¬
flammen des islamitischen Patriotismus ist mit Sicherheit vorauszusehen und
wird Italien die schwersten wirtschaftlichen Schäden zufügen. Leben doch über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/58>, abgerufen am 03.07.2024.