Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rcichsspicglil

fünfzigtausend Italiener in den Städten der europäischen und kleinasiatischen
Türkei und ist deren Anteil an: Levantehandel ein so starker, daß dessen Ge¬
fährdung wirtschaftlich durch die Okkupation von Tripolis nicht ausgeglichen
werden kann. Indessen es ist ja Sache Italiens, die wirtschaftlichen Chancen
des Abenteuers und die möglichen Folgen für seinen Staatskredit abzuwägen.
Wir selbst in Deutschland sind glücklicherweise nicht mehr in erheblichem Maße
Besitzer italienischer Staatsrente. Seit der Konversion hat dieselbe ihre frühere
Beliebtheit verloren und ist in das Heimatland und nach Frankreich, welches
stets für die italienischen Werte sehr aufnahmebereit war, abgewandert. Unsere
sonstigen Handelsbeziehungen zu Italien werden durch den Krieg kaum geschädigt
werden, nur daß eine längere Dauer der kriegerischen Verwicklungen die italienische
Industrie selbst in starke Mitleidenschaft ziehen wird. Diese ist nämlich gegen
eine solche wirtschaftliche Kalamität nicht gut gerüstet. Die Baunnvollenindustrie
befindet sich in einer schweren Krise, das Seidengewerbe klagt, die Maschinen-,
Automobil- und Fahrradindustrie stockt. An dem Streitobjekt selbst ist wirt¬
schaftlich niemand, selbst die Türkei nicht, erheblich interessiert; fühlt daher
Italien den Beruf und die Kraft, diese afrikanische Sandwüste zu kolonisieren,
obwohl seiner im eigenen Lande, in Apulien, Katalonien und Sizilien,
die dringlichsten Kulturaufgaben harren, die anzugreifen es bisher weder
Mut noch Geschick besessen hat -- so wird niemand hiergegen Einwürfe
erheben, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit der Türkei in honoriger Weise
beglichen wird. Vielleicht gibt das von der Pforte an die Mächte gerichtete
Rundschreiben doch die Basis zu einer unter sanftem Druck sich vollziehenden
Verständigung. An der Hoffnung auf eine solche muß man jedenfalls so lange
als möglich festhalten; es wäre verderblich, wollte die Börse sich vorzeitig einem
Pessimismus überlassen, für den einstweilen kein Grund vorliegt und mit den:
sie in den vergangenen Wochen so schlimme Erfahrungen gemacht hat.

Der schwere Geldtermin ist vorübergegangen, ohne daß er bemerkenswerte
Erscheinungen gebracht hätte, obwohl doch die politischen Komplikationen recht
unangenehm mit dem Geldbedarf des Monatsendes zusammentrafen. Es war
aber allseitig so frühzeitig an die Versorgung gedacht worden, die Engagements
waren derart vermindert, daß die Abwicklung am Monatsende sich ohne Schwierig¬
keiten vollzog; ja, am letzten Tag war das Geldangebot schon wieder so über¬
wiegend, daß der Privatdiskont um V" Prozent zurückwich. Ultimogeld ist mit
ca. 6^ Prozent bezahlt worden, Darlehen über Monatsende mußten selbst¬
verständlich den bekannten Reichsbankaufschlag zahlen. Wie sich der Status der
Reichsbank gestalten wird, läßt sich heute uoch nicht übersehen; trotz der unzweifel¬
haften enormen Anspannung wird aber, wie schon die Entwicklung der letzten
Tage zeigt, mit Beginn des Oktober ein sehr kräftiger Rückfluß einsetzen, der
vielleicht nur durch die politischen Verhältnisse eine Hemmung erfährt. Bemerkens¬
wert ist, daß sich auch in Paris eine Entspannung am Geldmarkt fühlbar macht;
es darf daher die jüngst so bedrohlich erscheinende Geldklemme als überwunden gelten.


Rcichsspicglil

fünfzigtausend Italiener in den Städten der europäischen und kleinasiatischen
Türkei und ist deren Anteil an: Levantehandel ein so starker, daß dessen Ge¬
fährdung wirtschaftlich durch die Okkupation von Tripolis nicht ausgeglichen
werden kann. Indessen es ist ja Sache Italiens, die wirtschaftlichen Chancen
des Abenteuers und die möglichen Folgen für seinen Staatskredit abzuwägen.
Wir selbst in Deutschland sind glücklicherweise nicht mehr in erheblichem Maße
Besitzer italienischer Staatsrente. Seit der Konversion hat dieselbe ihre frühere
Beliebtheit verloren und ist in das Heimatland und nach Frankreich, welches
stets für die italienischen Werte sehr aufnahmebereit war, abgewandert. Unsere
sonstigen Handelsbeziehungen zu Italien werden durch den Krieg kaum geschädigt
werden, nur daß eine längere Dauer der kriegerischen Verwicklungen die italienische
Industrie selbst in starke Mitleidenschaft ziehen wird. Diese ist nämlich gegen
eine solche wirtschaftliche Kalamität nicht gut gerüstet. Die Baunnvollenindustrie
befindet sich in einer schweren Krise, das Seidengewerbe klagt, die Maschinen-,
Automobil- und Fahrradindustrie stockt. An dem Streitobjekt selbst ist wirt¬
schaftlich niemand, selbst die Türkei nicht, erheblich interessiert; fühlt daher
Italien den Beruf und die Kraft, diese afrikanische Sandwüste zu kolonisieren,
obwohl seiner im eigenen Lande, in Apulien, Katalonien und Sizilien,
die dringlichsten Kulturaufgaben harren, die anzugreifen es bisher weder
Mut noch Geschick besessen hat — so wird niemand hiergegen Einwürfe
erheben, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit der Türkei in honoriger Weise
beglichen wird. Vielleicht gibt das von der Pforte an die Mächte gerichtete
Rundschreiben doch die Basis zu einer unter sanftem Druck sich vollziehenden
Verständigung. An der Hoffnung auf eine solche muß man jedenfalls so lange
als möglich festhalten; es wäre verderblich, wollte die Börse sich vorzeitig einem
Pessimismus überlassen, für den einstweilen kein Grund vorliegt und mit den:
sie in den vergangenen Wochen so schlimme Erfahrungen gemacht hat.

Der schwere Geldtermin ist vorübergegangen, ohne daß er bemerkenswerte
Erscheinungen gebracht hätte, obwohl doch die politischen Komplikationen recht
unangenehm mit dem Geldbedarf des Monatsendes zusammentrafen. Es war
aber allseitig so frühzeitig an die Versorgung gedacht worden, die Engagements
waren derart vermindert, daß die Abwicklung am Monatsende sich ohne Schwierig¬
keiten vollzog; ja, am letzten Tag war das Geldangebot schon wieder so über¬
wiegend, daß der Privatdiskont um V» Prozent zurückwich. Ultimogeld ist mit
ca. 6^ Prozent bezahlt worden, Darlehen über Monatsende mußten selbst¬
verständlich den bekannten Reichsbankaufschlag zahlen. Wie sich der Status der
Reichsbank gestalten wird, läßt sich heute uoch nicht übersehen; trotz der unzweifel¬
haften enormen Anspannung wird aber, wie schon die Entwicklung der letzten
Tage zeigt, mit Beginn des Oktober ein sehr kräftiger Rückfluß einsetzen, der
vielleicht nur durch die politischen Verhältnisse eine Hemmung erfährt. Bemerkens¬
wert ist, daß sich auch in Paris eine Entspannung am Geldmarkt fühlbar macht;
es darf daher die jüngst so bedrohlich erscheinende Geldklemme als überwunden gelten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319660"/>
            <fw type="header" place="top"> Rcichsspicglil</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_212" prev="#ID_211"> fünfzigtausend Italiener in den Städten der europäischen und kleinasiatischen<lb/>
Türkei und ist deren Anteil an: Levantehandel ein so starker, daß dessen Ge¬<lb/>
fährdung wirtschaftlich durch die Okkupation von Tripolis nicht ausgeglichen<lb/>
werden kann. Indessen es ist ja Sache Italiens, die wirtschaftlichen Chancen<lb/>
des Abenteuers und die möglichen Folgen für seinen Staatskredit abzuwägen.<lb/>
Wir selbst in Deutschland sind glücklicherweise nicht mehr in erheblichem Maße<lb/>
Besitzer italienischer Staatsrente. Seit der Konversion hat dieselbe ihre frühere<lb/>
Beliebtheit verloren und ist in das Heimatland und nach Frankreich, welches<lb/>
stets für die italienischen Werte sehr aufnahmebereit war, abgewandert. Unsere<lb/>
sonstigen Handelsbeziehungen zu Italien werden durch den Krieg kaum geschädigt<lb/>
werden, nur daß eine längere Dauer der kriegerischen Verwicklungen die italienische<lb/>
Industrie selbst in starke Mitleidenschaft ziehen wird. Diese ist nämlich gegen<lb/>
eine solche wirtschaftliche Kalamität nicht gut gerüstet. Die Baunnvollenindustrie<lb/>
befindet sich in einer schweren Krise, das Seidengewerbe klagt, die Maschinen-,<lb/>
Automobil- und Fahrradindustrie stockt. An dem Streitobjekt selbst ist wirt¬<lb/>
schaftlich niemand, selbst die Türkei nicht, erheblich interessiert; fühlt daher<lb/>
Italien den Beruf und die Kraft, diese afrikanische Sandwüste zu kolonisieren,<lb/>
obwohl seiner im eigenen Lande, in Apulien, Katalonien und Sizilien,<lb/>
die dringlichsten Kulturaufgaben harren, die anzugreifen es bisher weder<lb/>
Mut noch Geschick besessen hat &#x2014; so wird niemand hiergegen Einwürfe<lb/>
erheben, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit der Türkei in honoriger Weise<lb/>
beglichen wird. Vielleicht gibt das von der Pforte an die Mächte gerichtete<lb/>
Rundschreiben doch die Basis zu einer unter sanftem Druck sich vollziehenden<lb/>
Verständigung. An der Hoffnung auf eine solche muß man jedenfalls so lange<lb/>
als möglich festhalten; es wäre verderblich, wollte die Börse sich vorzeitig einem<lb/>
Pessimismus überlassen, für den einstweilen kein Grund vorliegt und mit den:<lb/>
sie in den vergangenen Wochen so schlimme Erfahrungen gemacht hat.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_213"> Der schwere Geldtermin ist vorübergegangen, ohne daß er bemerkenswerte<lb/>
Erscheinungen gebracht hätte, obwohl doch die politischen Komplikationen recht<lb/>
unangenehm mit dem Geldbedarf des Monatsendes zusammentrafen. Es war<lb/>
aber allseitig so frühzeitig an die Versorgung gedacht worden, die Engagements<lb/>
waren derart vermindert, daß die Abwicklung am Monatsende sich ohne Schwierig¬<lb/>
keiten vollzog; ja, am letzten Tag war das Geldangebot schon wieder so über¬<lb/>
wiegend, daß der Privatdiskont um V» Prozent zurückwich. Ultimogeld ist mit<lb/>
ca. 6^ Prozent bezahlt worden, Darlehen über Monatsende mußten selbst¬<lb/>
verständlich den bekannten Reichsbankaufschlag zahlen. Wie sich der Status der<lb/>
Reichsbank gestalten wird, läßt sich heute uoch nicht übersehen; trotz der unzweifel¬<lb/>
haften enormen Anspannung wird aber, wie schon die Entwicklung der letzten<lb/>
Tage zeigt, mit Beginn des Oktober ein sehr kräftiger Rückfluß einsetzen, der<lb/>
vielleicht nur durch die politischen Verhältnisse eine Hemmung erfährt. Bemerkens¬<lb/>
wert ist, daß sich auch in Paris eine Entspannung am Geldmarkt fühlbar macht;<lb/>
es darf daher die jüngst so bedrohlich erscheinende Geldklemme als überwunden gelten.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0059] Rcichsspicglil fünfzigtausend Italiener in den Städten der europäischen und kleinasiatischen Türkei und ist deren Anteil an: Levantehandel ein so starker, daß dessen Ge¬ fährdung wirtschaftlich durch die Okkupation von Tripolis nicht ausgeglichen werden kann. Indessen es ist ja Sache Italiens, die wirtschaftlichen Chancen des Abenteuers und die möglichen Folgen für seinen Staatskredit abzuwägen. Wir selbst in Deutschland sind glücklicherweise nicht mehr in erheblichem Maße Besitzer italienischer Staatsrente. Seit der Konversion hat dieselbe ihre frühere Beliebtheit verloren und ist in das Heimatland und nach Frankreich, welches stets für die italienischen Werte sehr aufnahmebereit war, abgewandert. Unsere sonstigen Handelsbeziehungen zu Italien werden durch den Krieg kaum geschädigt werden, nur daß eine längere Dauer der kriegerischen Verwicklungen die italienische Industrie selbst in starke Mitleidenschaft ziehen wird. Diese ist nämlich gegen eine solche wirtschaftliche Kalamität nicht gut gerüstet. Die Baunnvollenindustrie befindet sich in einer schweren Krise, das Seidengewerbe klagt, die Maschinen-, Automobil- und Fahrradindustrie stockt. An dem Streitobjekt selbst ist wirt¬ schaftlich niemand, selbst die Türkei nicht, erheblich interessiert; fühlt daher Italien den Beruf und die Kraft, diese afrikanische Sandwüste zu kolonisieren, obwohl seiner im eigenen Lande, in Apulien, Katalonien und Sizilien, die dringlichsten Kulturaufgaben harren, die anzugreifen es bisher weder Mut noch Geschick besessen hat — so wird niemand hiergegen Einwürfe erheben, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit der Türkei in honoriger Weise beglichen wird. Vielleicht gibt das von der Pforte an die Mächte gerichtete Rundschreiben doch die Basis zu einer unter sanftem Druck sich vollziehenden Verständigung. An der Hoffnung auf eine solche muß man jedenfalls so lange als möglich festhalten; es wäre verderblich, wollte die Börse sich vorzeitig einem Pessimismus überlassen, für den einstweilen kein Grund vorliegt und mit den: sie in den vergangenen Wochen so schlimme Erfahrungen gemacht hat. Der schwere Geldtermin ist vorübergegangen, ohne daß er bemerkenswerte Erscheinungen gebracht hätte, obwohl doch die politischen Komplikationen recht unangenehm mit dem Geldbedarf des Monatsendes zusammentrafen. Es war aber allseitig so frühzeitig an die Versorgung gedacht worden, die Engagements waren derart vermindert, daß die Abwicklung am Monatsende sich ohne Schwierig¬ keiten vollzog; ja, am letzten Tag war das Geldangebot schon wieder so über¬ wiegend, daß der Privatdiskont um V» Prozent zurückwich. Ultimogeld ist mit ca. 6^ Prozent bezahlt worden, Darlehen über Monatsende mußten selbst¬ verständlich den bekannten Reichsbankaufschlag zahlen. Wie sich der Status der Reichsbank gestalten wird, läßt sich heute uoch nicht übersehen; trotz der unzweifel¬ haften enormen Anspannung wird aber, wie schon die Entwicklung der letzten Tage zeigt, mit Beginn des Oktober ein sehr kräftiger Rückfluß einsetzen, der vielleicht nur durch die politischen Verhältnisse eine Hemmung erfährt. Bemerkens¬ wert ist, daß sich auch in Paris eine Entspannung am Geldmarkt fühlbar macht; es darf daher die jüngst so bedrohlich erscheinende Geldklemme als überwunden gelten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/59
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/59>, abgerufen am 03.07.2024.