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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

man sonst anzunehmen brauchte. Denn nicht die starken Staaten lassen sich zu
Abenteuern treiben, sondern die schwachen... Doch warten wir ab.

Über der Tripolis-Angelegenheit ist der Marokkohandel recht in den
Hintergrund geraten. Selbst die chauvinistischen Blätter, die Marokko gern
zum "Grabe der deutschen Ehre" gestempelt hätten, haben auffallend wenig
Raum dafür übrig. Kein gutes Zeichen für ihre Gesinnungstreue! Sollte
die Angelegenheit nicht mehr sensationell genug sein? . .. Wie es scheint, ist
der Entwurf zu einem deutsch-französischen Marokkoabkommen nunmehr in die
Hände der Juristen geraten, deren Aufgabe es bekanntlich ist, Präzision des
Ausdrucks und Klarheit in Verträge zu bringen. Diese langwierige Arbeit
G, Li, dürfte sich demnach noch einige Tage hinziehen.


Bank und Geld

Der Krieg um Tripolis -- Wirtschaftliche Bedeutung und Folgen für Geldmarkt und
Industrie -- Deutsche Interessen in der Türkei -- Die Wirtschaftslage in Italien --
Der Oktobertermin -- Zahlungseinstellungen

Der zweiten Hälfte des Wirtschaftsjahres 1911 leuchtet kein günstiger Stern.
Die Friedensschalmeien werden plötzlich übertönt vom Donner der Kanonen.
Die Möglichkeit, vor der Monate lang die zivilisierte Welt gebangt hatte,
kriegerische Zusammenstöße zwischen europäischen Staaten, ist über Nacht Tat¬
sache geworden. Italien hat der Pforte den Krieg erklärt, weil diese nicht
binnen 24 Stunden einem kategorisch ausgesprochenen "öde-toi, que je in'y
molte" hinsichtlich ihrer Provinz Tripolis Gehorsam erwiesen hat. So vor¬
bedacht, schnell und rücksichtslos waren die Schritte Italiens, daß weder dem
angeblichen Gegner Zeit zur Überlegung, noch den übrigen Mächten Zeit und
Möglichkeit zur Vermittlung gelassen wurde, obwohl es sich doch um eine
Angelegenheit handelte, bei der sie, wenn auch nur indirekt, so doch erheblich
interessiert sind. Und die Folge des beinahe flibustierhaften Vorgehens unseres
italienischen Bundesgenossen ist die, daß das alte Europa plötzlich eine Lohe
aufflackern steht, an der gefährlichsten Stelle, ohne die Möglichkeit zu löschen,
ohne die Möglichkeit seine durch den Brand bedrohten Güter vorher zu retten
und zu sichern. Das Unheil ist so plötzlich, so unerwartet hereingebrochen, daß
es nicht möglich war, sofort das richtige Augenmaß für die Bedeutung und
Tragweite des Ereignisses zu gewinnen. Noch vor Wochenfrist schien die
Tripolisaffäre kaum eine Erwähnung zu verdienen, und heute schon haben die
Kanonen das Wort. In beinahe stumpfer Resignation hat die Börse und
die Geschäftswelt diese Ereignisse über sich hereinbrausen lassen; die monate¬
lange Spannung und Aufregung, in der sie hat leben müssen, hat ihr Empfäng¬
lichkeit und Elastizität geraubt. Sie hätte wohl auch noch einen größeren Schicksals¬
schlag mit anscheinender Gleichgültigkeit hingenommen. Indessen wird es doch
unvermeidlich sein, diese politische Katastrophe nach ihrer wahren wirtschaftlichen
Bedeutung für uns einzuschätzen. Da läßt sich denn nun nicht verkennen, daß,


Reichsspiegel

man sonst anzunehmen brauchte. Denn nicht die starken Staaten lassen sich zu
Abenteuern treiben, sondern die schwachen... Doch warten wir ab.

Über der Tripolis-Angelegenheit ist der Marokkohandel recht in den
Hintergrund geraten. Selbst die chauvinistischen Blätter, die Marokko gern
zum „Grabe der deutschen Ehre" gestempelt hätten, haben auffallend wenig
Raum dafür übrig. Kein gutes Zeichen für ihre Gesinnungstreue! Sollte
die Angelegenheit nicht mehr sensationell genug sein? . .. Wie es scheint, ist
der Entwurf zu einem deutsch-französischen Marokkoabkommen nunmehr in die
Hände der Juristen geraten, deren Aufgabe es bekanntlich ist, Präzision des
Ausdrucks und Klarheit in Verträge zu bringen. Diese langwierige Arbeit
G, Li, dürfte sich demnach noch einige Tage hinziehen.


Bank und Geld

Der Krieg um Tripolis — Wirtschaftliche Bedeutung und Folgen für Geldmarkt und
Industrie — Deutsche Interessen in der Türkei — Die Wirtschaftslage in Italien —
Der Oktobertermin — Zahlungseinstellungen

Der zweiten Hälfte des Wirtschaftsjahres 1911 leuchtet kein günstiger Stern.
Die Friedensschalmeien werden plötzlich übertönt vom Donner der Kanonen.
Die Möglichkeit, vor der Monate lang die zivilisierte Welt gebangt hatte,
kriegerische Zusammenstöße zwischen europäischen Staaten, ist über Nacht Tat¬
sache geworden. Italien hat der Pforte den Krieg erklärt, weil diese nicht
binnen 24 Stunden einem kategorisch ausgesprochenen „öde-toi, que je in'y
molte" hinsichtlich ihrer Provinz Tripolis Gehorsam erwiesen hat. So vor¬
bedacht, schnell und rücksichtslos waren die Schritte Italiens, daß weder dem
angeblichen Gegner Zeit zur Überlegung, noch den übrigen Mächten Zeit und
Möglichkeit zur Vermittlung gelassen wurde, obwohl es sich doch um eine
Angelegenheit handelte, bei der sie, wenn auch nur indirekt, so doch erheblich
interessiert sind. Und die Folge des beinahe flibustierhaften Vorgehens unseres
italienischen Bundesgenossen ist die, daß das alte Europa plötzlich eine Lohe
aufflackern steht, an der gefährlichsten Stelle, ohne die Möglichkeit zu löschen,
ohne die Möglichkeit seine durch den Brand bedrohten Güter vorher zu retten
und zu sichern. Das Unheil ist so plötzlich, so unerwartet hereingebrochen, daß
es nicht möglich war, sofort das richtige Augenmaß für die Bedeutung und
Tragweite des Ereignisses zu gewinnen. Noch vor Wochenfrist schien die
Tripolisaffäre kaum eine Erwähnung zu verdienen, und heute schon haben die
Kanonen das Wort. In beinahe stumpfer Resignation hat die Börse und
die Geschäftswelt diese Ereignisse über sich hereinbrausen lassen; die monate¬
lange Spannung und Aufregung, in der sie hat leben müssen, hat ihr Empfäng¬
lichkeit und Elastizität geraubt. Sie hätte wohl auch noch einen größeren Schicksals¬
schlag mit anscheinender Gleichgültigkeit hingenommen. Indessen wird es doch
unvermeidlich sein, diese politische Katastrophe nach ihrer wahren wirtschaftlichen
Bedeutung für uns einzuschätzen. Da läßt sich denn nun nicht verkennen, daß,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/57>, abgerufen am 23.07.2024.