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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegcl

Österreich-Ungarn als die Führenden in dem Spiel übrig ließen. Diese Über¬
legung erklärt uns auch die Haltung der russischen, amtlich beeinflußten Presse.
Wir gehen auch nicht fehl, wenn wir annehmen, daß neben Montenegro auch
Serbien und Bulgarien von Petersburg aus zur Ruhe gemahnt worden
sind. Solange solche Mahnungen befolgt werden, darf man auch annehmen,
daß Österreich-Ungarn der Entwicklung auf dem Mittelländischen Meer mit
Gewehr bei Fuß, wenn auch mit aufgepflanzten Bajonett, zuschauen wird. Die
letzten Nachrichten aus Wien unterstützen diese Auffassung.

Einen zweiten Gefahrenherd neben Montenegro bildet Griechenland.
Dessen Ambitionen auf Kreta sind bekannt, ebenso bekannt ist, daß die Nationalisten
die Gelegenheit zu einem Feldzuge gegen die Türkei für gekommen erachten.
Wir glauben, daß hier eine Rechnung ohne den Wirt gemacht wird. Die
türkische Negierung würde ohne Zweifel durch einen griechischen Angriff in die
angenehme Lage kommen, einen schwerwiegenden Grund zum Friedensschluß
mit Italien und zur Preisgabe von Tripolis zu erhalten, und sich mit kon¬
zentrierter Gewalt auf die Griechen werfen. Ein Krieg gegen Griechenland
wäre populär in der Türkei und vielleicht für die gegenwärtigen Machthaber
am Goldenen Horn eine willkommene Ablenkung. Die Griechen aber müßten
aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechnung an die Türkei begleichen.

Bei einiger ruhiger Überlegung stellt sich somit der italienisch-tripolitanische
Streit nur dann als eine europäische Gefahr hin, wenn durch das Vorgehen
Montenegros Österreich-Ungarn gezwungen werden sollte, zum Schutz seiner
Grenzen Nord-Albanien, also türkisches Gebiet, zu besetzen. Denn dann wäre
es nicht mehr zu berechnen, ob Rußlands Einfluß in Serbien und Bulgarien
ausreichte, um diese Staaten vor kriegerischen Schritten gegen die Türkei zu
bewahren.

Die Schuld an allen diesen Verwicklungen aber müßte der italienischen
Negierung zur Last gelegt werden, und wenn sie auch aus dem Abenteuer mit
heilen Gliedern herauskommt, hat sie sich doch nach innen und außen stark
kompromittiert. Italien gehörte zu den Staaten, die auf der letzten Haag er
Friedenskonferenz im Jahre 1904 in allen Fragen das größte Entgegen¬
kommen zur Schau trugen, und Italiens Bevollmächtigter, Graf Nigra, war,
wie Meurer sich ausdrückt, "sozusagen der Doyen zur Wahrung des diplomatischen
Herkommens und der internationalen Schicklichkeit.. ."*). Wie ernsthafte Nach¬
richten besagen, soll auch die Negierung nicht ganz freiwillig an die Tripolis¬
affäre herangegangen sein, sondern mehr unter dem Druck rationalistischer
und klerikaler Einflüsse. Wenn diese Auffassung begründet sein sollte, dann
freilich wäre die Gefahr der Ausbreitung des Brandes doch noch größer als



") Christian Meurer: "Die Haager Friedenskonferenz", Bd. I. 190S. Bd. it, Z907.
München, I. Schweitzers Verlag (Arthur Sellier). Das ausgezeichnet orientierende Werk des
Würzburger Rechtsgelehrten sei jeden: warm empfohlen, der sich aus Neigung oder seines
Berufes wegen durch das Labyrinth der Friedensbestrevungen hindurchzufinden wünscht.
Reichsspiegcl

Österreich-Ungarn als die Führenden in dem Spiel übrig ließen. Diese Über¬
legung erklärt uns auch die Haltung der russischen, amtlich beeinflußten Presse.
Wir gehen auch nicht fehl, wenn wir annehmen, daß neben Montenegro auch
Serbien und Bulgarien von Petersburg aus zur Ruhe gemahnt worden
sind. Solange solche Mahnungen befolgt werden, darf man auch annehmen,
daß Österreich-Ungarn der Entwicklung auf dem Mittelländischen Meer mit
Gewehr bei Fuß, wenn auch mit aufgepflanzten Bajonett, zuschauen wird. Die
letzten Nachrichten aus Wien unterstützen diese Auffassung.

Einen zweiten Gefahrenherd neben Montenegro bildet Griechenland.
Dessen Ambitionen auf Kreta sind bekannt, ebenso bekannt ist, daß die Nationalisten
die Gelegenheit zu einem Feldzuge gegen die Türkei für gekommen erachten.
Wir glauben, daß hier eine Rechnung ohne den Wirt gemacht wird. Die
türkische Negierung würde ohne Zweifel durch einen griechischen Angriff in die
angenehme Lage kommen, einen schwerwiegenden Grund zum Friedensschluß
mit Italien und zur Preisgabe von Tripolis zu erhalten, und sich mit kon¬
zentrierter Gewalt auf die Griechen werfen. Ein Krieg gegen Griechenland
wäre populär in der Türkei und vielleicht für die gegenwärtigen Machthaber
am Goldenen Horn eine willkommene Ablenkung. Die Griechen aber müßten
aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechnung an die Türkei begleichen.

Bei einiger ruhiger Überlegung stellt sich somit der italienisch-tripolitanische
Streit nur dann als eine europäische Gefahr hin, wenn durch das Vorgehen
Montenegros Österreich-Ungarn gezwungen werden sollte, zum Schutz seiner
Grenzen Nord-Albanien, also türkisches Gebiet, zu besetzen. Denn dann wäre
es nicht mehr zu berechnen, ob Rußlands Einfluß in Serbien und Bulgarien
ausreichte, um diese Staaten vor kriegerischen Schritten gegen die Türkei zu
bewahren.

Die Schuld an allen diesen Verwicklungen aber müßte der italienischen
Negierung zur Last gelegt werden, und wenn sie auch aus dem Abenteuer mit
heilen Gliedern herauskommt, hat sie sich doch nach innen und außen stark
kompromittiert. Italien gehörte zu den Staaten, die auf der letzten Haag er
Friedenskonferenz im Jahre 1904 in allen Fragen das größte Entgegen¬
kommen zur Schau trugen, und Italiens Bevollmächtigter, Graf Nigra, war,
wie Meurer sich ausdrückt, „sozusagen der Doyen zur Wahrung des diplomatischen
Herkommens und der internationalen Schicklichkeit.. ."*). Wie ernsthafte Nach¬
richten besagen, soll auch die Negierung nicht ganz freiwillig an die Tripolis¬
affäre herangegangen sein, sondern mehr unter dem Druck rationalistischer
und klerikaler Einflüsse. Wenn diese Auffassung begründet sein sollte, dann
freilich wäre die Gefahr der Ausbreitung des Brandes doch noch größer als



") Christian Meurer: „Die Haager Friedenskonferenz", Bd. I. 190S. Bd. it, Z907.
München, I. Schweitzers Verlag (Arthur Sellier). Das ausgezeichnet orientierende Werk des
Würzburger Rechtsgelehrten sei jeden: warm empfohlen, der sich aus Neigung oder seines
Berufes wegen durch das Labyrinth der Friedensbestrevungen hindurchzufinden wünscht.
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[0056] Reichsspiegcl Österreich-Ungarn als die Führenden in dem Spiel übrig ließen. Diese Über¬ legung erklärt uns auch die Haltung der russischen, amtlich beeinflußten Presse. Wir gehen auch nicht fehl, wenn wir annehmen, daß neben Montenegro auch Serbien und Bulgarien von Petersburg aus zur Ruhe gemahnt worden sind. Solange solche Mahnungen befolgt werden, darf man auch annehmen, daß Österreich-Ungarn der Entwicklung auf dem Mittelländischen Meer mit Gewehr bei Fuß, wenn auch mit aufgepflanzten Bajonett, zuschauen wird. Die letzten Nachrichten aus Wien unterstützen diese Auffassung. Einen zweiten Gefahrenherd neben Montenegro bildet Griechenland. Dessen Ambitionen auf Kreta sind bekannt, ebenso bekannt ist, daß die Nationalisten die Gelegenheit zu einem Feldzuge gegen die Türkei für gekommen erachten. Wir glauben, daß hier eine Rechnung ohne den Wirt gemacht wird. Die türkische Negierung würde ohne Zweifel durch einen griechischen Angriff in die angenehme Lage kommen, einen schwerwiegenden Grund zum Friedensschluß mit Italien und zur Preisgabe von Tripolis zu erhalten, und sich mit kon¬ zentrierter Gewalt auf die Griechen werfen. Ein Krieg gegen Griechenland wäre populär in der Türkei und vielleicht für die gegenwärtigen Machthaber am Goldenen Horn eine willkommene Ablenkung. Die Griechen aber müßten aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechnung an die Türkei begleichen. Bei einiger ruhiger Überlegung stellt sich somit der italienisch-tripolitanische Streit nur dann als eine europäische Gefahr hin, wenn durch das Vorgehen Montenegros Österreich-Ungarn gezwungen werden sollte, zum Schutz seiner Grenzen Nord-Albanien, also türkisches Gebiet, zu besetzen. Denn dann wäre es nicht mehr zu berechnen, ob Rußlands Einfluß in Serbien und Bulgarien ausreichte, um diese Staaten vor kriegerischen Schritten gegen die Türkei zu bewahren. Die Schuld an allen diesen Verwicklungen aber müßte der italienischen Negierung zur Last gelegt werden, und wenn sie auch aus dem Abenteuer mit heilen Gliedern herauskommt, hat sie sich doch nach innen und außen stark kompromittiert. Italien gehörte zu den Staaten, die auf der letzten Haag er Friedenskonferenz im Jahre 1904 in allen Fragen das größte Entgegen¬ kommen zur Schau trugen, und Italiens Bevollmächtigter, Graf Nigra, war, wie Meurer sich ausdrückt, „sozusagen der Doyen zur Wahrung des diplomatischen Herkommens und der internationalen Schicklichkeit.. ."*). Wie ernsthafte Nach¬ richten besagen, soll auch die Negierung nicht ganz freiwillig an die Tripolis¬ affäre herangegangen sein, sondern mehr unter dem Druck rationalistischer und klerikaler Einflüsse. Wenn diese Auffassung begründet sein sollte, dann freilich wäre die Gefahr der Ausbreitung des Brandes doch noch größer als ") Christian Meurer: „Die Haager Friedenskonferenz", Bd. I. 190S. Bd. it, Z907. München, I. Schweitzers Verlag (Arthur Sellier). Das ausgezeichnet orientierende Werk des Würzburger Rechtsgelehrten sei jeden: warm empfohlen, der sich aus Neigung oder seines Berufes wegen durch das Labyrinth der Friedensbestrevungen hindurchzufinden wünscht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/56>, abgerufen am 23.07.2024.