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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Wenn nun auch echte Frömmigkeit zweifellos einen starken Schutz gegen
unmoralisches Handeln in sich trägt, so wäre es doch recht voreilig und un¬
wissenschaftlich, die mangelhaften Kenntnisse an religiösem Lernstoff oder die
mangelhafte Bereitschaft an religiösen Gedanken in unmittelbaren ursächlichen
Zusammenhang zu bringen mit der Straffälligkeit der Jugendlichen. Denn auch
abgesehen davon, daß ein Teil unserer Angeschuldigten wegen Schwachsinns und
aus anderen Gründen von der Schuld notorisch freigesprochen wurde, sahen wir
keineswegs das Maximum der "Religiosität" mit den Jahrgängen der höchsten
allgemein ethischen Motivierungen zusammenfallen.

Eine noch ganz andere Beleuchtung aber erfährt unser Ergebnis, wenn
wir es unter dein strengeren Gesichtspunkt der neuzeitlichen Aussageforschungen
betrachten. Es muß genügen, zwei solcher tatsächlichen Feststellungen hier kurz
anzuführen, die weder an Sträflingen noch an Angeklagten, sondern an einem
kriminell durchaus nicht befangenen Material gewonnen wurden.

Es ist einmal die von Lobsien, Stern und späteren Forschern bestätigte
statistische Tatsache, daß gerade der Religionsunterricht zu den am wenigsten
beliebten Fächern gehört und somit am häufigsten der gefühlsmäßige Anteil des
Interesses fehlt, ohne den aber eine tiefere Verankerung alles Erlernten psycho¬
logisch unmöglich ist. Daß aber ferner die festgestellte Unfähigkeit unserer jugendlichen
Rechtsbrecher, die Religion auf die Vorgänge des praktischen Lebens anzuwenden,
für sie nicht spezifisch ist, nicht pathognostisch, wenn ein ärztlicher Fachausdruck
erlaubt ist, ja nicht einmal sür das Berliner Arbeitermilien, dem sie meist
entstammen, charakteristisch ist, das sehe ich erwiesen durch die interessanten Ver¬
öffentlichungen des Mannheimer Stadtoikars R. Enkeln*). Das von ihm an
Volksschulkindern der siebenten und achten Klasse am Tag vor der Schulent¬
lassung eingeforderte schriftliche Urteil über den Wert der Religion ergab für
den mit seinen Schülern offenbar sehr vertraut stehenden und beliebten Geist¬
lichen ein Resultat, welches er als "wahrhaft erschreckend" bezeichnet. Von
104 Knaben begannen 66: "Die Religion hat überhaupt keinen Wert. . ., denn
für unser Geschäft können wir sie nicht brauchen." Andere erklärten sie für
nützlich "wenn man alt ist", "wenn es einem schlecht geht" oder "wenn man
in der Fremde ist".

Die Wechselwirkung zwischen sittlicher Entwicklung und Religionsunterricht
ist -- von Kant angefangen -- ebenso viel bestritten wie verteidigt worden.
Die Forderung eines selbständigen Moralunterrichts wird auch bei uns in
neuerer Zeit dringlicher erhoben und bildet deu Gegenstand lebhaftester
Erörterungen.




") "Vom Kinderglauven". Monatsblätter f. den evang. Religionsunterricht. 3. Jahrg.
1910. S. 193 ff. Abgedruckt in Zeitschrift f. NeligionSPsychologie. Bd. 5. Heft. 6. S. 141 ff.
Vgl. N. Penzig in Adele Schreibers "Buch vom Kinde"; ferner "Zum Kulturkampf
um die Schule" und die Schriften des "Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moral-
unterricht".
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Wenn nun auch echte Frömmigkeit zweifellos einen starken Schutz gegen
unmoralisches Handeln in sich trägt, so wäre es doch recht voreilig und un¬
wissenschaftlich, die mangelhaften Kenntnisse an religiösem Lernstoff oder die
mangelhafte Bereitschaft an religiösen Gedanken in unmittelbaren ursächlichen
Zusammenhang zu bringen mit der Straffälligkeit der Jugendlichen. Denn auch
abgesehen davon, daß ein Teil unserer Angeschuldigten wegen Schwachsinns und
aus anderen Gründen von der Schuld notorisch freigesprochen wurde, sahen wir
keineswegs das Maximum der „Religiosität" mit den Jahrgängen der höchsten
allgemein ethischen Motivierungen zusammenfallen.

Eine noch ganz andere Beleuchtung aber erfährt unser Ergebnis, wenn
wir es unter dein strengeren Gesichtspunkt der neuzeitlichen Aussageforschungen
betrachten. Es muß genügen, zwei solcher tatsächlichen Feststellungen hier kurz
anzuführen, die weder an Sträflingen noch an Angeklagten, sondern an einem
kriminell durchaus nicht befangenen Material gewonnen wurden.

Es ist einmal die von Lobsien, Stern und späteren Forschern bestätigte
statistische Tatsache, daß gerade der Religionsunterricht zu den am wenigsten
beliebten Fächern gehört und somit am häufigsten der gefühlsmäßige Anteil des
Interesses fehlt, ohne den aber eine tiefere Verankerung alles Erlernten psycho¬
logisch unmöglich ist. Daß aber ferner die festgestellte Unfähigkeit unserer jugendlichen
Rechtsbrecher, die Religion auf die Vorgänge des praktischen Lebens anzuwenden,
für sie nicht spezifisch ist, nicht pathognostisch, wenn ein ärztlicher Fachausdruck
erlaubt ist, ja nicht einmal sür das Berliner Arbeitermilien, dem sie meist
entstammen, charakteristisch ist, das sehe ich erwiesen durch die interessanten Ver¬
öffentlichungen des Mannheimer Stadtoikars R. Enkeln*). Das von ihm an
Volksschulkindern der siebenten und achten Klasse am Tag vor der Schulent¬
lassung eingeforderte schriftliche Urteil über den Wert der Religion ergab für
den mit seinen Schülern offenbar sehr vertraut stehenden und beliebten Geist¬
lichen ein Resultat, welches er als „wahrhaft erschreckend" bezeichnet. Von
104 Knaben begannen 66: „Die Religion hat überhaupt keinen Wert. . ., denn
für unser Geschäft können wir sie nicht brauchen." Andere erklärten sie für
nützlich „wenn man alt ist", „wenn es einem schlecht geht" oder „wenn man
in der Fremde ist".

Die Wechselwirkung zwischen sittlicher Entwicklung und Religionsunterricht
ist — von Kant angefangen — ebenso viel bestritten wie verteidigt worden.
Die Forderung eines selbständigen Moralunterrichts wird auch bei uns in
neuerer Zeit dringlicher erhoben und bildet deu Gegenstand lebhaftester
Erörterungen.




") „Vom Kinderglauven". Monatsblätter f. den evang. Religionsunterricht. 3. Jahrg.
1910. S. 193 ff. Abgedruckt in Zeitschrift f. NeligionSPsychologie. Bd. 5. Heft. 6. S. 141 ff.
Vgl. N. Penzig in Adele Schreibers „Buch vom Kinde"; ferner „Zum Kulturkampf
um die Schule" und die Schriften des „Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moral-
unterricht".
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[0503] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife Wenn nun auch echte Frömmigkeit zweifellos einen starken Schutz gegen unmoralisches Handeln in sich trägt, so wäre es doch recht voreilig und un¬ wissenschaftlich, die mangelhaften Kenntnisse an religiösem Lernstoff oder die mangelhafte Bereitschaft an religiösen Gedanken in unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang zu bringen mit der Straffälligkeit der Jugendlichen. Denn auch abgesehen davon, daß ein Teil unserer Angeschuldigten wegen Schwachsinns und aus anderen Gründen von der Schuld notorisch freigesprochen wurde, sahen wir keineswegs das Maximum der „Religiosität" mit den Jahrgängen der höchsten allgemein ethischen Motivierungen zusammenfallen. Eine noch ganz andere Beleuchtung aber erfährt unser Ergebnis, wenn wir es unter dein strengeren Gesichtspunkt der neuzeitlichen Aussageforschungen betrachten. Es muß genügen, zwei solcher tatsächlichen Feststellungen hier kurz anzuführen, die weder an Sträflingen noch an Angeklagten, sondern an einem kriminell durchaus nicht befangenen Material gewonnen wurden. Es ist einmal die von Lobsien, Stern und späteren Forschern bestätigte statistische Tatsache, daß gerade der Religionsunterricht zu den am wenigsten beliebten Fächern gehört und somit am häufigsten der gefühlsmäßige Anteil des Interesses fehlt, ohne den aber eine tiefere Verankerung alles Erlernten psycho¬ logisch unmöglich ist. Daß aber ferner die festgestellte Unfähigkeit unserer jugendlichen Rechtsbrecher, die Religion auf die Vorgänge des praktischen Lebens anzuwenden, für sie nicht spezifisch ist, nicht pathognostisch, wenn ein ärztlicher Fachausdruck erlaubt ist, ja nicht einmal sür das Berliner Arbeitermilien, dem sie meist entstammen, charakteristisch ist, das sehe ich erwiesen durch die interessanten Ver¬ öffentlichungen des Mannheimer Stadtoikars R. Enkeln*). Das von ihm an Volksschulkindern der siebenten und achten Klasse am Tag vor der Schulent¬ lassung eingeforderte schriftliche Urteil über den Wert der Religion ergab für den mit seinen Schülern offenbar sehr vertraut stehenden und beliebten Geist¬ lichen ein Resultat, welches er als „wahrhaft erschreckend" bezeichnet. Von 104 Knaben begannen 66: „Die Religion hat überhaupt keinen Wert. . ., denn für unser Geschäft können wir sie nicht brauchen." Andere erklärten sie für nützlich „wenn man alt ist", „wenn es einem schlecht geht" oder „wenn man in der Fremde ist". Die Wechselwirkung zwischen sittlicher Entwicklung und Religionsunterricht ist — von Kant angefangen — ebenso viel bestritten wie verteidigt worden. Die Forderung eines selbständigen Moralunterrichts wird auch bei uns in neuerer Zeit dringlicher erhoben und bildet deu Gegenstand lebhaftester Erörterungen. ") „Vom Kinderglauven". Monatsblätter f. den evang. Religionsunterricht. 3. Jahrg. 1910. S. 193 ff. Abgedruckt in Zeitschrift f. NeligionSPsychologie. Bd. 5. Heft. 6. S. 141 ff. Vgl. N. Penzig in Adele Schreibers „Buch vom Kinde"; ferner „Zum Kulturkampf um die Schule" und die Schriften des „Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moral- unterricht".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/503>, abgerufen am 03.07.2024.