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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

fragung einige religiöse Motivierungen zutage gefördert', die bei der einfachen
Frage: Warum darf man nicht stehlen? verborgen geblieben waren, z, B.

"Gott sieht es doch."

"Weils der liebe Gott sieht."

"Weil das siebente Gebot übertreten wird."

"Stehlen ist eine Sünde."

"Gott ist ja überall und würde es sehen."

"Ich denke, wenns keiner sieht, der liebe Gott sieht es."

Überblicken wir aber das Gesamtergebnis dieser Feststellungen im zweiten Teil,
so überrascht uns auch hier die ungewöhnliche Seltenheit solcher religiöser Ge¬
dankengänge. Es fanden sich nämlich einschließlich der im ersten Teil gewonnenen
Aussagen in noch nicht 25 Prozent der Fälle religiöse Anklänge in den Moti¬
vierungen. Selbst in der Frage 5, nach dem Urheber des Verbots, wurde der
religiöse Gesichtspunkt in kaun: mehr als der Hälfte der Fälle geltend gemacht,
und auch hierbei gelang es öfters erst durch meinen eindringlichen Hinweis auf
den Schulunterricht, die Erinnerung zu erwecken. Bisweilen vermochte selbst die
Frage nach dem Religionsunterricht diese Gedankenverknüpfung nicht herzustellen.
So erklärte z. B. ein Fünfzehneinhalbjähriger auf Vorhalt: "Da haben wir
weiter nichts gemacht wie gesungen." Die Autorität Gottes erschien somit
zurückgedrängt gegenüber der der Polizei, des "Polizeipräsidenten", des
"Magistrats", des "Kaisers", des "Lehrers" usw.

Anderseits läßt sich in den die Konfirmation umschließenden Jahren recht
wohl der belebende Einfluß der religiösen Unterweisung auf die Vorstellungen
erkennen. In dem Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren war nämlich der
prozentuale Anteil der "Religiösen" mehr als doppelt so groß als der durch¬
schnittliche Anteil der übrigen Altersklassen.

Wer gewohnt ist, in der Religion die wichtigste Stütze der Moral zu
sehen, wird sich dem auffälligen Befund gegenüber schwer des Gedankens
erwehren, daß die Hingabe an die verbrecherischen Neigungen bei unseren
Angeklagten eben aus jenem Mangel an religiösen Hemmungen hervorgegangen
sei; er wird vielleicht darin nichts anderes erkennen als ein Symptom der all¬
gemeinen Unmoral, nach den Worten der Bergpredigt: "An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen".

Und wirklich könnte es wie eine Bestätigung erscheinen, wenn man die
kompetenten Beobachtungen hinzunimmt, die Pastor Metz") über jugendliche
Gefängnisinsassen veröffentlicht hat. Neben dem allgemeinen Wissensmangel
fand er an seinen über vierzehn Jahre alten Gefängnisschülern eine solche Un¬
kenntnis in der Religion, daß er sie "als einfach ganz unglaublich" bezeichnen
mußte. "Keiner von ihnen," erwähnt er als Beispiel, "konnte noch die zehn
Gebote, das Glaubensbekenntnis auswendig."



*i "Unsere Jugendlichen." Von Pastor Metz, Anstaltsgeistlicher am Königl. Zentral¬
gefängnis zu Gollnow. Monatsschr. f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform. 5. Jahrg.
S. 123 ff. 1908.
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

fragung einige religiöse Motivierungen zutage gefördert', die bei der einfachen
Frage: Warum darf man nicht stehlen? verborgen geblieben waren, z, B.

„Gott sieht es doch."

„Weils der liebe Gott sieht."

„Weil das siebente Gebot übertreten wird."

„Stehlen ist eine Sünde."

„Gott ist ja überall und würde es sehen."

„Ich denke, wenns keiner sieht, der liebe Gott sieht es."

Überblicken wir aber das Gesamtergebnis dieser Feststellungen im zweiten Teil,
so überrascht uns auch hier die ungewöhnliche Seltenheit solcher religiöser Ge¬
dankengänge. Es fanden sich nämlich einschließlich der im ersten Teil gewonnenen
Aussagen in noch nicht 25 Prozent der Fälle religiöse Anklänge in den Moti¬
vierungen. Selbst in der Frage 5, nach dem Urheber des Verbots, wurde der
religiöse Gesichtspunkt in kaun: mehr als der Hälfte der Fälle geltend gemacht,
und auch hierbei gelang es öfters erst durch meinen eindringlichen Hinweis auf
den Schulunterricht, die Erinnerung zu erwecken. Bisweilen vermochte selbst die
Frage nach dem Religionsunterricht diese Gedankenverknüpfung nicht herzustellen.
So erklärte z. B. ein Fünfzehneinhalbjähriger auf Vorhalt: „Da haben wir
weiter nichts gemacht wie gesungen." Die Autorität Gottes erschien somit
zurückgedrängt gegenüber der der Polizei, des „Polizeipräsidenten", des
„Magistrats", des „Kaisers", des „Lehrers" usw.

Anderseits läßt sich in den die Konfirmation umschließenden Jahren recht
wohl der belebende Einfluß der religiösen Unterweisung auf die Vorstellungen
erkennen. In dem Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren war nämlich der
prozentuale Anteil der „Religiösen" mehr als doppelt so groß als der durch¬
schnittliche Anteil der übrigen Altersklassen.

Wer gewohnt ist, in der Religion die wichtigste Stütze der Moral zu
sehen, wird sich dem auffälligen Befund gegenüber schwer des Gedankens
erwehren, daß die Hingabe an die verbrecherischen Neigungen bei unseren
Angeklagten eben aus jenem Mangel an religiösen Hemmungen hervorgegangen
sei; er wird vielleicht darin nichts anderes erkennen als ein Symptom der all¬
gemeinen Unmoral, nach den Worten der Bergpredigt: „An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen".

Und wirklich könnte es wie eine Bestätigung erscheinen, wenn man die
kompetenten Beobachtungen hinzunimmt, die Pastor Metz") über jugendliche
Gefängnisinsassen veröffentlicht hat. Neben dem allgemeinen Wissensmangel
fand er an seinen über vierzehn Jahre alten Gefängnisschülern eine solche Un¬
kenntnis in der Religion, daß er sie „als einfach ganz unglaublich" bezeichnen
mußte. „Keiner von ihnen," erwähnt er als Beispiel, „konnte noch die zehn
Gebote, das Glaubensbekenntnis auswendig."



*i „Unsere Jugendlichen." Von Pastor Metz, Anstaltsgeistlicher am Königl. Zentral¬
gefängnis zu Gollnow. Monatsschr. f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform. 5. Jahrg.
S. 123 ff. 1908.
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[0502] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife fragung einige religiöse Motivierungen zutage gefördert', die bei der einfachen Frage: Warum darf man nicht stehlen? verborgen geblieben waren, z, B. „Gott sieht es doch." „Weils der liebe Gott sieht." „Weil das siebente Gebot übertreten wird." „Stehlen ist eine Sünde." „Gott ist ja überall und würde es sehen." „Ich denke, wenns keiner sieht, der liebe Gott sieht es." Überblicken wir aber das Gesamtergebnis dieser Feststellungen im zweiten Teil, so überrascht uns auch hier die ungewöhnliche Seltenheit solcher religiöser Ge¬ dankengänge. Es fanden sich nämlich einschließlich der im ersten Teil gewonnenen Aussagen in noch nicht 25 Prozent der Fälle religiöse Anklänge in den Moti¬ vierungen. Selbst in der Frage 5, nach dem Urheber des Verbots, wurde der religiöse Gesichtspunkt in kaun: mehr als der Hälfte der Fälle geltend gemacht, und auch hierbei gelang es öfters erst durch meinen eindringlichen Hinweis auf den Schulunterricht, die Erinnerung zu erwecken. Bisweilen vermochte selbst die Frage nach dem Religionsunterricht diese Gedankenverknüpfung nicht herzustellen. So erklärte z. B. ein Fünfzehneinhalbjähriger auf Vorhalt: „Da haben wir weiter nichts gemacht wie gesungen." Die Autorität Gottes erschien somit zurückgedrängt gegenüber der der Polizei, des „Polizeipräsidenten", des „Magistrats", des „Kaisers", des „Lehrers" usw. Anderseits läßt sich in den die Konfirmation umschließenden Jahren recht wohl der belebende Einfluß der religiösen Unterweisung auf die Vorstellungen erkennen. In dem Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren war nämlich der prozentuale Anteil der „Religiösen" mehr als doppelt so groß als der durch¬ schnittliche Anteil der übrigen Altersklassen. Wer gewohnt ist, in der Religion die wichtigste Stütze der Moral zu sehen, wird sich dem auffälligen Befund gegenüber schwer des Gedankens erwehren, daß die Hingabe an die verbrecherischen Neigungen bei unseren Angeklagten eben aus jenem Mangel an religiösen Hemmungen hervorgegangen sei; er wird vielleicht darin nichts anderes erkennen als ein Symptom der all¬ gemeinen Unmoral, nach den Worten der Bergpredigt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Und wirklich könnte es wie eine Bestätigung erscheinen, wenn man die kompetenten Beobachtungen hinzunimmt, die Pastor Metz") über jugendliche Gefängnisinsassen veröffentlicht hat. Neben dem allgemeinen Wissensmangel fand er an seinen über vierzehn Jahre alten Gefängnisschülern eine solche Un¬ kenntnis in der Religion, daß er sie „als einfach ganz unglaublich" bezeichnen mußte. „Keiner von ihnen," erwähnt er als Beispiel, „konnte noch die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis auswendig." *i „Unsere Jugendlichen." Von Pastor Metz, Anstaltsgeistlicher am Königl. Zentral¬ gefängnis zu Gollnow. Monatsschr. f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform. 5. Jahrg. S. 123 ff. 1908.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/502>, abgerufen am 23.07.2024.