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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Es ist gewiß nicht Zufall und leicht verständlich, daß solche nicht gerade
häufigen Bedenken fast ausschließlich von Knaben stammen, die sich schon in
beruflicher Stellung befanden und fast alle über fünfzehn Jahre alt waren.

Sittlich weit höher zu bewerten sind natürlich alle die Argumente gegen den
Diebstahl, welche dem Mitleid, dem Gerechtigkeitssinn und der altruistischen Ein¬
fühlung in die Lage des Geschädigten, sei es ganz allgemein oder im konkreten
Beispiel entsprungen sind. Sie finden sich freilich noch nicht bei einem Zehntel
der Befragten, z. B.:

"Es würde mir leid tun, daß ein anderer unschuldig in Verdacht käme."

"Wenn mir's so ginge, wäre mir's auch nicht recht."

"Der Mann hatte kein Fahrgeld für nach Hause und vielleicht nichts zu essen."

"Der Mann hat auch Schaden."

"Die Nächstenliebe. Ich würde den andern schädigen."

Noch seltener sind die Fälle, in denen sozialaltruistische Beweggründe und
allgemeine Bedenken, etwa die Gefährdung der Staats- und Gesellschaftsordnung,
gegen den zugemuteten Diebstahl vorgebracht werden, wie in den folgenden
Äußerungen:

"Ich denke daran, niemandem einen Schaden zuzufügen."

"Weil man dadurch dem Eigentum der andern schadet."

"Sonst könnte jeder stehlen und könnten die Leute verarmen."

Nicht ohne Interesse M es, daß auch die Antworten der beiden letzten
Gruppen mit Ausnahme eines Vierzehnjährigen allesamt von Jugendlichen
gegeben wurden, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und meist um ein bis
zwei Jahre überschritten hatten. So klein auch relativ die Zahl dieser ethisch höher
Entwickelten ist, so sehe ich doch in ihrer fast ausschließlichen Rekrutierung
aus den letzten Jahrgängen der Jugendlichen eine volle Bestätigung der Auf¬
fassung Ziemkes, die er in seiner schon erwähnten Abhandlung darlegt, daß
nämlich in der Regel erst im sechszehnten bis siebzehnten Lebensjahr sich ein Sittlich¬
keitsbewußtsein im strengeren Sinne entwickelt hat. Mit Recht hat daher auch der
in den Motiven des Vorentwurfs zum neuen Strafgesetzbuch vertretene Stand¬
punkt eine fast allgemeine Anerkennung gefunden, daß nämlich Kinder in: Alter
von zwölf bis vierzehn Jahren fast durchweg sittlich und geistig noch dergestalt
in der Entwicklung begriffen und unfertig sind, daß sie strafrechtlich am besten
nicht verantwortlich gemacht werden.

Eine gesonderte Betrachtung erforderte die schon im ersten Teil berührte
Frage, in wie weit religiöse Vorstellungen in den Gründen anklingen, mit denen
unsere Prüflinge das ihnen nahegelegte unehrliche Verhalten zurückweisen.

Tatsächlich sind ja schon die zwölfjährigen Angeklagten der verschiedenen Be¬
kenntnisse in jahrelanger religiöser Unterweisung über den Inhalt des siebenten
Gebotes, über die Autorität, die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes, über
den Begriff der Sünde belehrt worden. Dieses theoretische Wissen praktisch
anzuwenden, dazu bot jede einzelne Frage unseres Schemas (vgl. Beispiel I und II)
Gelegenheit genug. Es wurden auch wirklich durch diese eindringlichere Be-


Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Es ist gewiß nicht Zufall und leicht verständlich, daß solche nicht gerade
häufigen Bedenken fast ausschließlich von Knaben stammen, die sich schon in
beruflicher Stellung befanden und fast alle über fünfzehn Jahre alt waren.

Sittlich weit höher zu bewerten sind natürlich alle die Argumente gegen den
Diebstahl, welche dem Mitleid, dem Gerechtigkeitssinn und der altruistischen Ein¬
fühlung in die Lage des Geschädigten, sei es ganz allgemein oder im konkreten
Beispiel entsprungen sind. Sie finden sich freilich noch nicht bei einem Zehntel
der Befragten, z. B.:

„Es würde mir leid tun, daß ein anderer unschuldig in Verdacht käme."

„Wenn mir's so ginge, wäre mir's auch nicht recht."

„Der Mann hatte kein Fahrgeld für nach Hause und vielleicht nichts zu essen."

„Der Mann hat auch Schaden."

„Die Nächstenliebe. Ich würde den andern schädigen."

Noch seltener sind die Fälle, in denen sozialaltruistische Beweggründe und
allgemeine Bedenken, etwa die Gefährdung der Staats- und Gesellschaftsordnung,
gegen den zugemuteten Diebstahl vorgebracht werden, wie in den folgenden
Äußerungen:

„Ich denke daran, niemandem einen Schaden zuzufügen."

„Weil man dadurch dem Eigentum der andern schadet."

„Sonst könnte jeder stehlen und könnten die Leute verarmen."

Nicht ohne Interesse M es, daß auch die Antworten der beiden letzten
Gruppen mit Ausnahme eines Vierzehnjährigen allesamt von Jugendlichen
gegeben wurden, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und meist um ein bis
zwei Jahre überschritten hatten. So klein auch relativ die Zahl dieser ethisch höher
Entwickelten ist, so sehe ich doch in ihrer fast ausschließlichen Rekrutierung
aus den letzten Jahrgängen der Jugendlichen eine volle Bestätigung der Auf¬
fassung Ziemkes, die er in seiner schon erwähnten Abhandlung darlegt, daß
nämlich in der Regel erst im sechszehnten bis siebzehnten Lebensjahr sich ein Sittlich¬
keitsbewußtsein im strengeren Sinne entwickelt hat. Mit Recht hat daher auch der
in den Motiven des Vorentwurfs zum neuen Strafgesetzbuch vertretene Stand¬
punkt eine fast allgemeine Anerkennung gefunden, daß nämlich Kinder in: Alter
von zwölf bis vierzehn Jahren fast durchweg sittlich und geistig noch dergestalt
in der Entwicklung begriffen und unfertig sind, daß sie strafrechtlich am besten
nicht verantwortlich gemacht werden.

Eine gesonderte Betrachtung erforderte die schon im ersten Teil berührte
Frage, in wie weit religiöse Vorstellungen in den Gründen anklingen, mit denen
unsere Prüflinge das ihnen nahegelegte unehrliche Verhalten zurückweisen.

Tatsächlich sind ja schon die zwölfjährigen Angeklagten der verschiedenen Be¬
kenntnisse in jahrelanger religiöser Unterweisung über den Inhalt des siebenten
Gebotes, über die Autorität, die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes, über
den Begriff der Sünde belehrt worden. Dieses theoretische Wissen praktisch
anzuwenden, dazu bot jede einzelne Frage unseres Schemas (vgl. Beispiel I und II)
Gelegenheit genug. Es wurden auch wirklich durch diese eindringlichere Be-


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[0501] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife Es ist gewiß nicht Zufall und leicht verständlich, daß solche nicht gerade häufigen Bedenken fast ausschließlich von Knaben stammen, die sich schon in beruflicher Stellung befanden und fast alle über fünfzehn Jahre alt waren. Sittlich weit höher zu bewerten sind natürlich alle die Argumente gegen den Diebstahl, welche dem Mitleid, dem Gerechtigkeitssinn und der altruistischen Ein¬ fühlung in die Lage des Geschädigten, sei es ganz allgemein oder im konkreten Beispiel entsprungen sind. Sie finden sich freilich noch nicht bei einem Zehntel der Befragten, z. B.: „Es würde mir leid tun, daß ein anderer unschuldig in Verdacht käme." „Wenn mir's so ginge, wäre mir's auch nicht recht." „Der Mann hatte kein Fahrgeld für nach Hause und vielleicht nichts zu essen." „Der Mann hat auch Schaden." „Die Nächstenliebe. Ich würde den andern schädigen." Noch seltener sind die Fälle, in denen sozialaltruistische Beweggründe und allgemeine Bedenken, etwa die Gefährdung der Staats- und Gesellschaftsordnung, gegen den zugemuteten Diebstahl vorgebracht werden, wie in den folgenden Äußerungen: „Ich denke daran, niemandem einen Schaden zuzufügen." „Weil man dadurch dem Eigentum der andern schadet." „Sonst könnte jeder stehlen und könnten die Leute verarmen." Nicht ohne Interesse M es, daß auch die Antworten der beiden letzten Gruppen mit Ausnahme eines Vierzehnjährigen allesamt von Jugendlichen gegeben wurden, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und meist um ein bis zwei Jahre überschritten hatten. So klein auch relativ die Zahl dieser ethisch höher Entwickelten ist, so sehe ich doch in ihrer fast ausschließlichen Rekrutierung aus den letzten Jahrgängen der Jugendlichen eine volle Bestätigung der Auf¬ fassung Ziemkes, die er in seiner schon erwähnten Abhandlung darlegt, daß nämlich in der Regel erst im sechszehnten bis siebzehnten Lebensjahr sich ein Sittlich¬ keitsbewußtsein im strengeren Sinne entwickelt hat. Mit Recht hat daher auch der in den Motiven des Vorentwurfs zum neuen Strafgesetzbuch vertretene Stand¬ punkt eine fast allgemeine Anerkennung gefunden, daß nämlich Kinder in: Alter von zwölf bis vierzehn Jahren fast durchweg sittlich und geistig noch dergestalt in der Entwicklung begriffen und unfertig sind, daß sie strafrechtlich am besten nicht verantwortlich gemacht werden. Eine gesonderte Betrachtung erforderte die schon im ersten Teil berührte Frage, in wie weit religiöse Vorstellungen in den Gründen anklingen, mit denen unsere Prüflinge das ihnen nahegelegte unehrliche Verhalten zurückweisen. Tatsächlich sind ja schon die zwölfjährigen Angeklagten der verschiedenen Be¬ kenntnisse in jahrelanger religiöser Unterweisung über den Inhalt des siebenten Gebotes, über die Autorität, die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes, über den Begriff der Sünde belehrt worden. Dieses theoretische Wissen praktisch anzuwenden, dazu bot jede einzelne Frage unseres Schemas (vgl. Beispiel I und II) Gelegenheit genug. Es wurden auch wirklich durch diese eindringlichere Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/501>, abgerufen am 23.07.2024.