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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

seiner sarkastischen Art: "Es gibt in der Tat wahrhaft ehrliche Leute -- wie es
auch wirklich vierblätterigen Klee gibt."

Etwas sittlich Wertvolles müssen wir immerhin auch den Hinweisen der
Prüflinge aufs Gebot zuerkennen, in welchen die Motive nicht autonom, sondern
einem anerzogenen oder gefühlmäßigen Gehorsam gegen Gott, gegen die Staats¬
hoheit, die Eltern oder andere Autoritäten entsprungen waren. Sie sind eine
häufigere Erscheinung; es bleiben aber auch von ihnen nur wenige übrig, wenn
wir diejenigen ausschließen, bei welchen die Befolgung des Gebots sich als nichts
anderes darstellte als Furcht vor Strafe im Falle des Ungehorsams. Selbst
die Angabe "Mein Gewissen verbietet es mir" enthüllte sich in einem Fall
lediglich als Angst vor der dauernden künftigen Bedrohung und der dadurch
erzeugten inneren Unruhe.

Im weitaus größten Teil der Untersuchten, nämlich in Vierfünfteln der
hundert Fälle, spielen lediglich Erwägungen des Nutzens oder Schadens, sei es
für die eigene Person, sei es für die Mitmenschen, eine Rolle. An überragender
Stelle stehen die egoistischen Beweggründe in ihrer ursprünglichsten persönlichen
Form, wie sie für das Kindesalter bekannt sind. Trotz des bestimmt zu¬
gesicherten Schutzes vor Entdeckung und Erfaßtwerden tritt hier immer wieder
nur die eine Erwägung zutage: "Es kann doch einmal rauskommen, man könnte
doch auf die Spur kommen oder erwischt werden", und es enthüllt sich somit als
eigentliches Motiv doch nur: Furcht vor Polizei, Gefängnis, Gericht, vor der
Strafverschärfung wegen des Rückfalls, die Angst vor der Fürsorgeerziehung und
bisweilen auch vor elterlicher Strafe und etwa noch vor künftiger innerer Unruhe.

In einem Teil der Fälle ließen sich bei tieferer Sondierung neben solchen
Äußerungen oft noch andere, ethisch höher zu bewertende Begründungen feststellen.
Vielleicht hat auch hie und da unser Verfahren manches im Grunde der Seele
schlummerndes nicht ans Licht zu bringen vermocht; jedenfalls betrug die Zahl
derer, die ausschließlich vom Egoismus in dieser ursprünglichsten unmittelbaren
Form geleitet zu sein schienen, kaum mehr als ein Drittel der Gesamtheit.

In einer etwas höheren Form tritt diese "Ethik" des rein individuellen
Nutzens und Schadens auf, wenn sie sich als Sorge um künftige soziale Nachteile
in materieller oder ideeller Hinsicht kundgibt. Derartige Begründungen lauteten
beispielsweise:

"Daß ich niemals Meister werden kann.""

"Weil einen doch niemand in Arbeit nimmt,
"

"Die öffentliche Schande,

Ferner kam die Sorge um die eigene und die Familienehre in folgenden
Angaben zum Ausdruck:

"Man blamiert sich, es wird in ein Buch geschrieben, wenn man Gefängnis bekommen hat,"

"Weil es ein Schandfleck auf mir ist,"

"Ich mach' meinen Eltern zu große Schande."

"Der Ruf der Familie und der gu!e Name,"


Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

seiner sarkastischen Art: „Es gibt in der Tat wahrhaft ehrliche Leute — wie es
auch wirklich vierblätterigen Klee gibt."

Etwas sittlich Wertvolles müssen wir immerhin auch den Hinweisen der
Prüflinge aufs Gebot zuerkennen, in welchen die Motive nicht autonom, sondern
einem anerzogenen oder gefühlmäßigen Gehorsam gegen Gott, gegen die Staats¬
hoheit, die Eltern oder andere Autoritäten entsprungen waren. Sie sind eine
häufigere Erscheinung; es bleiben aber auch von ihnen nur wenige übrig, wenn
wir diejenigen ausschließen, bei welchen die Befolgung des Gebots sich als nichts
anderes darstellte als Furcht vor Strafe im Falle des Ungehorsams. Selbst
die Angabe „Mein Gewissen verbietet es mir" enthüllte sich in einem Fall
lediglich als Angst vor der dauernden künftigen Bedrohung und der dadurch
erzeugten inneren Unruhe.

Im weitaus größten Teil der Untersuchten, nämlich in Vierfünfteln der
hundert Fälle, spielen lediglich Erwägungen des Nutzens oder Schadens, sei es
für die eigene Person, sei es für die Mitmenschen, eine Rolle. An überragender
Stelle stehen die egoistischen Beweggründe in ihrer ursprünglichsten persönlichen
Form, wie sie für das Kindesalter bekannt sind. Trotz des bestimmt zu¬
gesicherten Schutzes vor Entdeckung und Erfaßtwerden tritt hier immer wieder
nur die eine Erwägung zutage: „Es kann doch einmal rauskommen, man könnte
doch auf die Spur kommen oder erwischt werden", und es enthüllt sich somit als
eigentliches Motiv doch nur: Furcht vor Polizei, Gefängnis, Gericht, vor der
Strafverschärfung wegen des Rückfalls, die Angst vor der Fürsorgeerziehung und
bisweilen auch vor elterlicher Strafe und etwa noch vor künftiger innerer Unruhe.

In einem Teil der Fälle ließen sich bei tieferer Sondierung neben solchen
Äußerungen oft noch andere, ethisch höher zu bewertende Begründungen feststellen.
Vielleicht hat auch hie und da unser Verfahren manches im Grunde der Seele
schlummerndes nicht ans Licht zu bringen vermocht; jedenfalls betrug die Zahl
derer, die ausschließlich vom Egoismus in dieser ursprünglichsten unmittelbaren
Form geleitet zu sein schienen, kaum mehr als ein Drittel der Gesamtheit.

In einer etwas höheren Form tritt diese „Ethik" des rein individuellen
Nutzens und Schadens auf, wenn sie sich als Sorge um künftige soziale Nachteile
in materieller oder ideeller Hinsicht kundgibt. Derartige Begründungen lauteten
beispielsweise:

„Daß ich niemals Meister werden kann.""

„Weil einen doch niemand in Arbeit nimmt,
"

„Die öffentliche Schande,

Ferner kam die Sorge um die eigene und die Familienehre in folgenden
Angaben zum Ausdruck:

„Man blamiert sich, es wird in ein Buch geschrieben, wenn man Gefängnis bekommen hat,"

„Weil es ein Schandfleck auf mir ist,"

„Ich mach' meinen Eltern zu große Schande."

„Der Ruf der Familie und der gu!e Name,"


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[0500] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife seiner sarkastischen Art: „Es gibt in der Tat wahrhaft ehrliche Leute — wie es auch wirklich vierblätterigen Klee gibt." Etwas sittlich Wertvolles müssen wir immerhin auch den Hinweisen der Prüflinge aufs Gebot zuerkennen, in welchen die Motive nicht autonom, sondern einem anerzogenen oder gefühlmäßigen Gehorsam gegen Gott, gegen die Staats¬ hoheit, die Eltern oder andere Autoritäten entsprungen waren. Sie sind eine häufigere Erscheinung; es bleiben aber auch von ihnen nur wenige übrig, wenn wir diejenigen ausschließen, bei welchen die Befolgung des Gebots sich als nichts anderes darstellte als Furcht vor Strafe im Falle des Ungehorsams. Selbst die Angabe „Mein Gewissen verbietet es mir" enthüllte sich in einem Fall lediglich als Angst vor der dauernden künftigen Bedrohung und der dadurch erzeugten inneren Unruhe. Im weitaus größten Teil der Untersuchten, nämlich in Vierfünfteln der hundert Fälle, spielen lediglich Erwägungen des Nutzens oder Schadens, sei es für die eigene Person, sei es für die Mitmenschen, eine Rolle. An überragender Stelle stehen die egoistischen Beweggründe in ihrer ursprünglichsten persönlichen Form, wie sie für das Kindesalter bekannt sind. Trotz des bestimmt zu¬ gesicherten Schutzes vor Entdeckung und Erfaßtwerden tritt hier immer wieder nur die eine Erwägung zutage: „Es kann doch einmal rauskommen, man könnte doch auf die Spur kommen oder erwischt werden", und es enthüllt sich somit als eigentliches Motiv doch nur: Furcht vor Polizei, Gefängnis, Gericht, vor der Strafverschärfung wegen des Rückfalls, die Angst vor der Fürsorgeerziehung und bisweilen auch vor elterlicher Strafe und etwa noch vor künftiger innerer Unruhe. In einem Teil der Fälle ließen sich bei tieferer Sondierung neben solchen Äußerungen oft noch andere, ethisch höher zu bewertende Begründungen feststellen. Vielleicht hat auch hie und da unser Verfahren manches im Grunde der Seele schlummerndes nicht ans Licht zu bringen vermocht; jedenfalls betrug die Zahl derer, die ausschließlich vom Egoismus in dieser ursprünglichsten unmittelbaren Form geleitet zu sein schienen, kaum mehr als ein Drittel der Gesamtheit. In einer etwas höheren Form tritt diese „Ethik" des rein individuellen Nutzens und Schadens auf, wenn sie sich als Sorge um künftige soziale Nachteile in materieller oder ideeller Hinsicht kundgibt. Derartige Begründungen lauteten beispielsweise: „Daß ich niemals Meister werden kann."" „Weil einen doch niemand in Arbeit nimmt, " „Die öffentliche Schande, Ferner kam die Sorge um die eigene und die Familienehre in folgenden Angaben zum Ausdruck: „Man blamiert sich, es wird in ein Buch geschrieben, wenn man Gefängnis bekommen hat," „Weil es ein Schandfleck auf mir ist," „Ich mach' meinen Eltern zu große Schande." „Der Ruf der Familie und der gu!e Name,"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/500>, abgerufen am 23.07.2024.