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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife
4, Hätten Sie nicht noch andere Grunde, Es würden mich noch mehr Gründe davon
andere Bedenken dagegen? abhalten.
4". Und welche sind das? Der Ruf meiner Eltern und Geschwister.
6. Von wem ist der Diebstahl Verbote" ? Durch die Gebote, durch dieKirchc, und zweitens
durch den Staat.

Sehen wir von den mancherlei interessanten Zügen des immer wieder
individuell gefärbten Einzelfalles notgedrungen an dieser Stelle ab, so ergibt
sich bei einem zusammenfassenden Überblick folgendes Bild.

Alls der Gesamtzahl der hundert Fälle stechen zunächst drei Prüflinge da¬
durch ab, daß sie die in den obigen Fragen liegende Unterstellung eines unehr¬
lichen Verhaltens nicht schlankweg verneinen. Es gehörten zu ihnen ein siebzehn-
einhalbjähriger leicht Schwachsinniger, aus schlecht beleumdetem Milieu, der nach
richtigem Verständnis der Frage lächelnd zugab, wieder zu stehlen, wenn er sicher
nicht erwischt werde; ferner ein dreizehneinhalbjähriges, geistig noch tiefer stehendes
Mädchen, das auf die Frage 2 des ersten Beispiels antwortete: "Dann darf man's."
Der dritte Fall schließlich betraf einen siebzehneinhalbjährigen Psychopathen aus
bürgerlicher Familie, ohne eigentlichen Jntelligenzdefekt, dagegen mit mangelhafter
Gefühls- und Willensbildung. Er erklärte bei dem wie oben gegebenen kon¬
kreten Diebstahlsbeispiel: "Wenn ich ehrlich sagen soll -- ich würde es nehmen
(nämlich ein fremdes Portemonnaie), nur uni mir wieder einen vergnügten Tag
zu verschaffen." Zu seiner Verteidigung versuchte er die moralische Berechtigung
des geltenden Eigentumsbegriffs und der herrschenden Staatsgesetze anzuzweifeln
und zu bestreiten.

Im übrigen habe ich, wie ich hier vorwegnehme, auch bei den meist dem
Arbeiterstand entsprossenen Kindern ähnliche, etwa sozialistisch gefärbte An¬
schauungen in den Motivierungen nicht beobachten können.

Ein Sitllichkeitsbewußtsein im höheren Sinne dürfen wir wohl unbedingt
erkennen in den Fällen, in welchen der Diebstahl verworfen wird, nicht im Hin¬
blick auf die Folgen der Handlung, sondern lediglich aus unmittelbarer Achtung
vor dem Gebot; in reinster Form da, wo das Gebot des eigenen Gewissens
als einzige und höchste Instanz den zugrunde gelegten Konflikt entscheidet. Eine
solche ethische Höhe kommt unzweifelhaft nur ganz vereinzelt in unseren Ant¬
worten zum Ausdruck, z. B. bei einem siebzehnjährigen Laufburschen, der des
Diebstahls beschuldigt wurde. Er antwortete auf Frage 1: "Das verbietet
sich schon von selbst"; auf Frage 2: "Es bliebe trotzdem Diebstahl"; auf
Frage 3: "Das Gewissen, das Bewußtsein, einen Diebstahl begangen
zu haben".

Die Seltenheit einer so hohen sittlichen Auffassung kann uns bei unseren
Prüfungen nicht Wunder nehmen; schon darum nicht, weil sie auch eine rein
intellektuelle Entwicklung zur Voraussetzung hat, wie sie in diesem Alter selten
vorhanden sein kann. Auch Erwachsene erreichen gewiß nur vereinzelt, ungeachtet
Kants Lehre, die Stufe der autonomen Sittlichkeit. Sagt doch Schopenhauer in


Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife
4, Hätten Sie nicht noch andere Grunde, Es würden mich noch mehr Gründe davon
andere Bedenken dagegen? abhalten.
4«. Und welche sind das? Der Ruf meiner Eltern und Geschwister.
6. Von wem ist der Diebstahl Verbote» ? Durch die Gebote, durch dieKirchc, und zweitens
durch den Staat.

Sehen wir von den mancherlei interessanten Zügen des immer wieder
individuell gefärbten Einzelfalles notgedrungen an dieser Stelle ab, so ergibt
sich bei einem zusammenfassenden Überblick folgendes Bild.

Alls der Gesamtzahl der hundert Fälle stechen zunächst drei Prüflinge da¬
durch ab, daß sie die in den obigen Fragen liegende Unterstellung eines unehr¬
lichen Verhaltens nicht schlankweg verneinen. Es gehörten zu ihnen ein siebzehn-
einhalbjähriger leicht Schwachsinniger, aus schlecht beleumdetem Milieu, der nach
richtigem Verständnis der Frage lächelnd zugab, wieder zu stehlen, wenn er sicher
nicht erwischt werde; ferner ein dreizehneinhalbjähriges, geistig noch tiefer stehendes
Mädchen, das auf die Frage 2 des ersten Beispiels antwortete: „Dann darf man's."
Der dritte Fall schließlich betraf einen siebzehneinhalbjährigen Psychopathen aus
bürgerlicher Familie, ohne eigentlichen Jntelligenzdefekt, dagegen mit mangelhafter
Gefühls- und Willensbildung. Er erklärte bei dem wie oben gegebenen kon¬
kreten Diebstahlsbeispiel: „Wenn ich ehrlich sagen soll — ich würde es nehmen
(nämlich ein fremdes Portemonnaie), nur uni mir wieder einen vergnügten Tag
zu verschaffen." Zu seiner Verteidigung versuchte er die moralische Berechtigung
des geltenden Eigentumsbegriffs und der herrschenden Staatsgesetze anzuzweifeln
und zu bestreiten.

Im übrigen habe ich, wie ich hier vorwegnehme, auch bei den meist dem
Arbeiterstand entsprossenen Kindern ähnliche, etwa sozialistisch gefärbte An¬
schauungen in den Motivierungen nicht beobachten können.

Ein Sitllichkeitsbewußtsein im höheren Sinne dürfen wir wohl unbedingt
erkennen in den Fällen, in welchen der Diebstahl verworfen wird, nicht im Hin¬
blick auf die Folgen der Handlung, sondern lediglich aus unmittelbarer Achtung
vor dem Gebot; in reinster Form da, wo das Gebot des eigenen Gewissens
als einzige und höchste Instanz den zugrunde gelegten Konflikt entscheidet. Eine
solche ethische Höhe kommt unzweifelhaft nur ganz vereinzelt in unseren Ant¬
worten zum Ausdruck, z. B. bei einem siebzehnjährigen Laufburschen, der des
Diebstahls beschuldigt wurde. Er antwortete auf Frage 1: „Das verbietet
sich schon von selbst"; auf Frage 2: „Es bliebe trotzdem Diebstahl"; auf
Frage 3: „Das Gewissen, das Bewußtsein, einen Diebstahl begangen
zu haben".

Die Seltenheit einer so hohen sittlichen Auffassung kann uns bei unseren
Prüfungen nicht Wunder nehmen; schon darum nicht, weil sie auch eine rein
intellektuelle Entwicklung zur Voraussetzung hat, wie sie in diesem Alter selten
vorhanden sein kann. Auch Erwachsene erreichen gewiß nur vereinzelt, ungeachtet
Kants Lehre, die Stufe der autonomen Sittlichkeit. Sagt doch Schopenhauer in


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[0499] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife 4, Hätten Sie nicht noch andere Grunde, Es würden mich noch mehr Gründe davon andere Bedenken dagegen? abhalten. 4«. Und welche sind das? Der Ruf meiner Eltern und Geschwister. 6. Von wem ist der Diebstahl Verbote» ? Durch die Gebote, durch dieKirchc, und zweitens durch den Staat. Sehen wir von den mancherlei interessanten Zügen des immer wieder individuell gefärbten Einzelfalles notgedrungen an dieser Stelle ab, so ergibt sich bei einem zusammenfassenden Überblick folgendes Bild. Alls der Gesamtzahl der hundert Fälle stechen zunächst drei Prüflinge da¬ durch ab, daß sie die in den obigen Fragen liegende Unterstellung eines unehr¬ lichen Verhaltens nicht schlankweg verneinen. Es gehörten zu ihnen ein siebzehn- einhalbjähriger leicht Schwachsinniger, aus schlecht beleumdetem Milieu, der nach richtigem Verständnis der Frage lächelnd zugab, wieder zu stehlen, wenn er sicher nicht erwischt werde; ferner ein dreizehneinhalbjähriges, geistig noch tiefer stehendes Mädchen, das auf die Frage 2 des ersten Beispiels antwortete: „Dann darf man's." Der dritte Fall schließlich betraf einen siebzehneinhalbjährigen Psychopathen aus bürgerlicher Familie, ohne eigentlichen Jntelligenzdefekt, dagegen mit mangelhafter Gefühls- und Willensbildung. Er erklärte bei dem wie oben gegebenen kon¬ kreten Diebstahlsbeispiel: „Wenn ich ehrlich sagen soll — ich würde es nehmen (nämlich ein fremdes Portemonnaie), nur uni mir wieder einen vergnügten Tag zu verschaffen." Zu seiner Verteidigung versuchte er die moralische Berechtigung des geltenden Eigentumsbegriffs und der herrschenden Staatsgesetze anzuzweifeln und zu bestreiten. Im übrigen habe ich, wie ich hier vorwegnehme, auch bei den meist dem Arbeiterstand entsprossenen Kindern ähnliche, etwa sozialistisch gefärbte An¬ schauungen in den Motivierungen nicht beobachten können. Ein Sitllichkeitsbewußtsein im höheren Sinne dürfen wir wohl unbedingt erkennen in den Fällen, in welchen der Diebstahl verworfen wird, nicht im Hin¬ blick auf die Folgen der Handlung, sondern lediglich aus unmittelbarer Achtung vor dem Gebot; in reinster Form da, wo das Gebot des eigenen Gewissens als einzige und höchste Instanz den zugrunde gelegten Konflikt entscheidet. Eine solche ethische Höhe kommt unzweifelhaft nur ganz vereinzelt in unseren Ant¬ worten zum Ausdruck, z. B. bei einem siebzehnjährigen Laufburschen, der des Diebstahls beschuldigt wurde. Er antwortete auf Frage 1: „Das verbietet sich schon von selbst"; auf Frage 2: „Es bliebe trotzdem Diebstahl"; auf Frage 3: „Das Gewissen, das Bewußtsein, einen Diebstahl begangen zu haben". Die Seltenheit einer so hohen sittlichen Auffassung kann uns bei unseren Prüfungen nicht Wunder nehmen; schon darum nicht, weil sie auch eine rein intellektuelle Entwicklung zur Voraussetzung hat, wie sie in diesem Alter selten vorhanden sein kann. Auch Erwachsene erreichen gewiß nur vereinzelt, ungeachtet Kants Lehre, die Stufe der autonomen Sittlichkeit. Sagt doch Schopenhauer in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/499>, abgerufen am 23.07.2024.