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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

land infolgedessen als Interessent in Marokko durch die Ententemächte anerkannt
werden mußte. Die deutsche Diplomatie aber erhielt einen Hebel in die Hand,
mit dem sie in der Marokkofrage wirken konnte. Wie solches geschehen, ist
bekannt. Wenn der Sieg zunächst nicht voll und in einer bestimmten Richtung
überhaupt nicht ausgenutzt werden konnte, so lag das an der fehlerhaften, jetzt
von der deutschen Diplomatie selbst als solche anerkannten Bewertung der
Scherifischen Macht. (Vergl. Grenzboten 1911, Ur. 45 S. 292.) ^ , .

Spanien begann seine ihm durch Frankreich eingeräumten Rechte geltend
zu machen, nachdem Frankreich, entsprechend seinem Vertrage mit England,
angefangen hatte, sich Marokkos zu bemächtigen. Im Jahre 1909 führte es den
Krieg im Rifgebiet und eroberte Melitta, und als die Franzosen nach Fez
zogen, gingen die Spanier nach Larasch und El Ksar, an der westlichsten
Peripherie der ihnen eingeräumten Zone. Die Franzosen protestierten gegen
das Vorgehen der Spanier, da sie aber den Protesten keinen Nachdruck gaben,
so wurden diese mehr als eine Aktion zur Verschleierung der bestehenden Verträge
aufgefaßt. ° ^ . ^

Jetzt, nachdem Frankreich sich mit Deutschland verständigt, glaubte es,, ans
die Freundschaft Englands bauend, den Spaniern Halt gebieten zu können.
Spanien berufe sich mit Unrecht auf die Verträge von 1904 und 1905. Zwar
sei ihm dort das Recht, sich in Nordmarokko festzusetzen, eingeräumt, aber doch
nur unter gewissen Bedingungen. Spanien habe sich einerseits mit dem Sultan
verständigen müssen und andererseits sei es gehalten gewesen, den Franzosen
Nachricht zu geben, sobald es eine militärische Aktion beginne. Beides sei
unterblieben. Ergo, habe Spanien Marokko unverzüglich zu räumen; Marokko
gehöre gemäß dem mit Deutschland abgeschlossenen Vertrage vollständig den
Franzosen. Dies die Sprache der französischen Presse. Die spanische antwortet
nicht minder entschlossen: nicht einen Schritt zurück! Von den beiderseitigen
Regierungen verlautet noch nichts.

Doch es geschehen Wunder und Zeichen. ^

Frankreichs Freund, Sir Edward Grey, erklärt unaufgefordert: Spanien
hat Recht! und unwillkürlich erinnert man sich der Worte, die Balfour am
6- Mai 1904 dem Aprilvertrage auf dem Banquet der?rimro8e I^saM widmete:
"Es ist ein Tausch, bei dem derjenige, der gibt, wenig oder gar keine Opfer
bringt, während derjenige, der empfängt, dasjenige erhält, was für ihn von
enormer Bedeutung ist." Sollte Spanien der tsrtiu8 xauäens sein? Dann
wäre Frankreich von England hintergangen. Aber auch England dürfte end¬
gültig darauf verzichten müssen, sich gegenüber von Gibraltar auf afrikanischen
Boden festzusetzen. Denn die Algecimsakte besteht, und die Mehrheit ihrer
Unterzeichner hat heute genau dieselben Interessen an Marokko wie Deutschland.




Die Vertrauensmänner der Altdeutschen holen nach, was der Herr Reichs¬
kanzler in seiner Rede am 9. November versäumt hat: sie geben sich jetzt selbst


Reichsspiegel

land infolgedessen als Interessent in Marokko durch die Ententemächte anerkannt
werden mußte. Die deutsche Diplomatie aber erhielt einen Hebel in die Hand,
mit dem sie in der Marokkofrage wirken konnte. Wie solches geschehen, ist
bekannt. Wenn der Sieg zunächst nicht voll und in einer bestimmten Richtung
überhaupt nicht ausgenutzt werden konnte, so lag das an der fehlerhaften, jetzt
von der deutschen Diplomatie selbst als solche anerkannten Bewertung der
Scherifischen Macht. (Vergl. Grenzboten 1911, Ur. 45 S. 292.) ^ , .

Spanien begann seine ihm durch Frankreich eingeräumten Rechte geltend
zu machen, nachdem Frankreich, entsprechend seinem Vertrage mit England,
angefangen hatte, sich Marokkos zu bemächtigen. Im Jahre 1909 führte es den
Krieg im Rifgebiet und eroberte Melitta, und als die Franzosen nach Fez
zogen, gingen die Spanier nach Larasch und El Ksar, an der westlichsten
Peripherie der ihnen eingeräumten Zone. Die Franzosen protestierten gegen
das Vorgehen der Spanier, da sie aber den Protesten keinen Nachdruck gaben,
so wurden diese mehr als eine Aktion zur Verschleierung der bestehenden Verträge
aufgefaßt. ° ^ . ^

Jetzt, nachdem Frankreich sich mit Deutschland verständigt, glaubte es,, ans
die Freundschaft Englands bauend, den Spaniern Halt gebieten zu können.
Spanien berufe sich mit Unrecht auf die Verträge von 1904 und 1905. Zwar
sei ihm dort das Recht, sich in Nordmarokko festzusetzen, eingeräumt, aber doch
nur unter gewissen Bedingungen. Spanien habe sich einerseits mit dem Sultan
verständigen müssen und andererseits sei es gehalten gewesen, den Franzosen
Nachricht zu geben, sobald es eine militärische Aktion beginne. Beides sei
unterblieben. Ergo, habe Spanien Marokko unverzüglich zu räumen; Marokko
gehöre gemäß dem mit Deutschland abgeschlossenen Vertrage vollständig den
Franzosen. Dies die Sprache der französischen Presse. Die spanische antwortet
nicht minder entschlossen: nicht einen Schritt zurück! Von den beiderseitigen
Regierungen verlautet noch nichts.

Doch es geschehen Wunder und Zeichen. ^

Frankreichs Freund, Sir Edward Grey, erklärt unaufgefordert: Spanien
hat Recht! und unwillkürlich erinnert man sich der Worte, die Balfour am
6- Mai 1904 dem Aprilvertrage auf dem Banquet der?rimro8e I^saM widmete:
„Es ist ein Tausch, bei dem derjenige, der gibt, wenig oder gar keine Opfer
bringt, während derjenige, der empfängt, dasjenige erhält, was für ihn von
enormer Bedeutung ist." Sollte Spanien der tsrtiu8 xauäens sein? Dann
wäre Frankreich von England hintergangen. Aber auch England dürfte end¬
gültig darauf verzichten müssen, sich gegenüber von Gibraltar auf afrikanischen
Boden festzusetzen. Denn die Algecimsakte besteht, und die Mehrheit ihrer
Unterzeichner hat heute genau dieselben Interessen an Marokko wie Deutschland.




Die Vertrauensmänner der Altdeutschen holen nach, was der Herr Reichs¬
kanzler in seiner Rede am 9. November versäumt hat: sie geben sich jetzt selbst


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[0463] Reichsspiegel land infolgedessen als Interessent in Marokko durch die Ententemächte anerkannt werden mußte. Die deutsche Diplomatie aber erhielt einen Hebel in die Hand, mit dem sie in der Marokkofrage wirken konnte. Wie solches geschehen, ist bekannt. Wenn der Sieg zunächst nicht voll und in einer bestimmten Richtung überhaupt nicht ausgenutzt werden konnte, so lag das an der fehlerhaften, jetzt von der deutschen Diplomatie selbst als solche anerkannten Bewertung der Scherifischen Macht. (Vergl. Grenzboten 1911, Ur. 45 S. 292.) ^ , . Spanien begann seine ihm durch Frankreich eingeräumten Rechte geltend zu machen, nachdem Frankreich, entsprechend seinem Vertrage mit England, angefangen hatte, sich Marokkos zu bemächtigen. Im Jahre 1909 führte es den Krieg im Rifgebiet und eroberte Melitta, und als die Franzosen nach Fez zogen, gingen die Spanier nach Larasch und El Ksar, an der westlichsten Peripherie der ihnen eingeräumten Zone. Die Franzosen protestierten gegen das Vorgehen der Spanier, da sie aber den Protesten keinen Nachdruck gaben, so wurden diese mehr als eine Aktion zur Verschleierung der bestehenden Verträge aufgefaßt. ° ^ . ^ Jetzt, nachdem Frankreich sich mit Deutschland verständigt, glaubte es,, ans die Freundschaft Englands bauend, den Spaniern Halt gebieten zu können. Spanien berufe sich mit Unrecht auf die Verträge von 1904 und 1905. Zwar sei ihm dort das Recht, sich in Nordmarokko festzusetzen, eingeräumt, aber doch nur unter gewissen Bedingungen. Spanien habe sich einerseits mit dem Sultan verständigen müssen und andererseits sei es gehalten gewesen, den Franzosen Nachricht zu geben, sobald es eine militärische Aktion beginne. Beides sei unterblieben. Ergo, habe Spanien Marokko unverzüglich zu räumen; Marokko gehöre gemäß dem mit Deutschland abgeschlossenen Vertrage vollständig den Franzosen. Dies die Sprache der französischen Presse. Die spanische antwortet nicht minder entschlossen: nicht einen Schritt zurück! Von den beiderseitigen Regierungen verlautet noch nichts. Doch es geschehen Wunder und Zeichen. ^ Frankreichs Freund, Sir Edward Grey, erklärt unaufgefordert: Spanien hat Recht! und unwillkürlich erinnert man sich der Worte, die Balfour am 6- Mai 1904 dem Aprilvertrage auf dem Banquet der?rimro8e I^saM widmete: „Es ist ein Tausch, bei dem derjenige, der gibt, wenig oder gar keine Opfer bringt, während derjenige, der empfängt, dasjenige erhält, was für ihn von enormer Bedeutung ist." Sollte Spanien der tsrtiu8 xauäens sein? Dann wäre Frankreich von England hintergangen. Aber auch England dürfte end¬ gültig darauf verzichten müssen, sich gegenüber von Gibraltar auf afrikanischen Boden festzusetzen. Denn die Algecimsakte besteht, und die Mehrheit ihrer Unterzeichner hat heute genau dieselben Interessen an Marokko wie Deutschland. Die Vertrauensmänner der Altdeutschen holen nach, was der Herr Reichs¬ kanzler in seiner Rede am 9. November versäumt hat: sie geben sich jetzt selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/463>, abgerufen am 23.07.2024.