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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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trag vom 8. April 1904 zu einem Gegenstand des Streites zwischen Frankreich
und England machen würden. Das aber ist eingetreten. Nachdem in Frankreich,
zunächst freilich nur von der Presse, erklärt worden ist, das deutsch-französische
Abkommen hebe alle übrigen Vereinbarungen bezüglich Marokkos, insbesondere
auch die französisch-spanischen Verträge vom Z.Oktober 1904 und vom
1. September 1905 auf, hat die britische Regierung die bisher geheim gehaltenen
Artikel des französisch-englischen Abkommens von 1904 veröffentlicht und ihnen
eine Auslegung beigefügt, die mit der in Frankreich geläufigen in direktem
Widerspruch steht. Die so viel gefeierte enteilte cvlcZiale hat einen Sprung
bekommen. Wie ist er hineingekommen?

Als England anfing, Afrika auszuteilen, ging es selbst darauf aus, alle
wichtigen Küstenplätze, die es noch nicht innehatte, in Besitz zubekommen. Das
Teilungswerk, durch den Burenkrieg unterbrochen, wurde bald nach dem Friedens¬
schluß wieder aufgenommen und fand seinen vorläufigen Abschluß in dem Vertrage
vom 8. April 1904 mit Frankreich, der den Franzosen die Vorherrschaft im
Nordwesten, den Engländern die Herrschaft im Osten garantierte. England nahm
das Protektorat über Ägypten, Frankreich begann die Tunifizierung Marokkos.
Deutschland fand in dem Abkommen keinerlei Berücksichtigung, nachdem es ein
von Chamberlain gemachtes Angebot, sich in Südmarokko eine Einflußsphäre zu
sichern, abgelehnt hatte. Die Ablehnung scheint damals aus zwei Gründen erfolgt
zu sein: einmal glaubten wir, der marokkanische Staat sei lebenskräftiger, als er
es tatsächlich war, und dann wollten wir Frankreichs politischen Bestrebungen nicht
in den Weg kommen, solange sie unsere wirtschaftlichen Interessen nicht störten.
Durch unsere Weigerung sah England sich um die Hoffnung betrogen, mit unserer
Hilfe den Hafen von Tanger besetzen zu können. Was auf direktem Wege
nicht gelang, sollte auf Umwegen erreicht werden. Konnte England nicht an
der Nordküste Marokkos herrschen, so durfte dort wenigstens kein starker Freund,
sondern höchstens ein schwächerer sitzen. Dieser aber war Spanien. Auf Be¬
treiben Englands wurde Spaniens Interesse an der Nordküste Marokkos der¬
gestalt sichergestellt, daß Frankreich sich verpflichten mußte, die Schritte gutzu¬
heißen, die Spanien unternehmen würde, um die Umgebung der spanischen
Presidios bis zum Gebirge am rechten Sebuufer der Autorität des Sultans zu
entziehen. Herr Delcassö erklärte sich um so leichter mit dieser Klausel ein¬
verstanden, als er Spaniens Bundesgenossenschaft auf der durch Deutschland
bewirkten Konferenz von Algeciras gegen Deutschland bedürfte, das bekanntlich
die Internationalisiern"^ Marokkos betrieb.

Algeciras stellte sich der Öffentlichkeit als eine Niederlage Deutsch¬
lands dar oder besser gesagt: wurde von Deutschlands Gegnern als Triumph
der enteilte corcUale und der durch Frankreich und England getragenen Friedens¬
idee gefeiert. Wie seinerzeit in den Grenzboten von sachkundiger Seite nach¬
gewiesen werden konnte, war aber Algeciras ein Erfolg unserer Diplomatie, da
durch die Akte tatsächlich die Internationalisierung erreicht wurde und Deutsch-


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trag vom 8. April 1904 zu einem Gegenstand des Streites zwischen Frankreich
und England machen würden. Das aber ist eingetreten. Nachdem in Frankreich,
zunächst freilich nur von der Presse, erklärt worden ist, das deutsch-französische
Abkommen hebe alle übrigen Vereinbarungen bezüglich Marokkos, insbesondere
auch die französisch-spanischen Verträge vom Z.Oktober 1904 und vom
1. September 1905 auf, hat die britische Regierung die bisher geheim gehaltenen
Artikel des französisch-englischen Abkommens von 1904 veröffentlicht und ihnen
eine Auslegung beigefügt, die mit der in Frankreich geläufigen in direktem
Widerspruch steht. Die so viel gefeierte enteilte cvlcZiale hat einen Sprung
bekommen. Wie ist er hineingekommen?

Als England anfing, Afrika auszuteilen, ging es selbst darauf aus, alle
wichtigen Küstenplätze, die es noch nicht innehatte, in Besitz zubekommen. Das
Teilungswerk, durch den Burenkrieg unterbrochen, wurde bald nach dem Friedens¬
schluß wieder aufgenommen und fand seinen vorläufigen Abschluß in dem Vertrage
vom 8. April 1904 mit Frankreich, der den Franzosen die Vorherrschaft im
Nordwesten, den Engländern die Herrschaft im Osten garantierte. England nahm
das Protektorat über Ägypten, Frankreich begann die Tunifizierung Marokkos.
Deutschland fand in dem Abkommen keinerlei Berücksichtigung, nachdem es ein
von Chamberlain gemachtes Angebot, sich in Südmarokko eine Einflußsphäre zu
sichern, abgelehnt hatte. Die Ablehnung scheint damals aus zwei Gründen erfolgt
zu sein: einmal glaubten wir, der marokkanische Staat sei lebenskräftiger, als er
es tatsächlich war, und dann wollten wir Frankreichs politischen Bestrebungen nicht
in den Weg kommen, solange sie unsere wirtschaftlichen Interessen nicht störten.
Durch unsere Weigerung sah England sich um die Hoffnung betrogen, mit unserer
Hilfe den Hafen von Tanger besetzen zu können. Was auf direktem Wege
nicht gelang, sollte auf Umwegen erreicht werden. Konnte England nicht an
der Nordküste Marokkos herrschen, so durfte dort wenigstens kein starker Freund,
sondern höchstens ein schwächerer sitzen. Dieser aber war Spanien. Auf Be¬
treiben Englands wurde Spaniens Interesse an der Nordküste Marokkos der¬
gestalt sichergestellt, daß Frankreich sich verpflichten mußte, die Schritte gutzu¬
heißen, die Spanien unternehmen würde, um die Umgebung der spanischen
Presidios bis zum Gebirge am rechten Sebuufer der Autorität des Sultans zu
entziehen. Herr Delcassö erklärte sich um so leichter mit dieser Klausel ein¬
verstanden, als er Spaniens Bundesgenossenschaft auf der durch Deutschland
bewirkten Konferenz von Algeciras gegen Deutschland bedürfte, das bekanntlich
die Internationalisiern»^ Marokkos betrieb.

Algeciras stellte sich der Öffentlichkeit als eine Niederlage Deutsch¬
lands dar oder besser gesagt: wurde von Deutschlands Gegnern als Triumph
der enteilte corcUale und der durch Frankreich und England getragenen Friedens¬
idee gefeiert. Wie seinerzeit in den Grenzboten von sachkundiger Seite nach¬
gewiesen werden konnte, war aber Algeciras ein Erfolg unserer Diplomatie, da
durch die Akte tatsächlich die Internationalisierung erreicht wurde und Deutsch-


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[0462] Reichsspwgel trag vom 8. April 1904 zu einem Gegenstand des Streites zwischen Frankreich und England machen würden. Das aber ist eingetreten. Nachdem in Frankreich, zunächst freilich nur von der Presse, erklärt worden ist, das deutsch-französische Abkommen hebe alle übrigen Vereinbarungen bezüglich Marokkos, insbesondere auch die französisch-spanischen Verträge vom Z.Oktober 1904 und vom 1. September 1905 auf, hat die britische Regierung die bisher geheim gehaltenen Artikel des französisch-englischen Abkommens von 1904 veröffentlicht und ihnen eine Auslegung beigefügt, die mit der in Frankreich geläufigen in direktem Widerspruch steht. Die so viel gefeierte enteilte cvlcZiale hat einen Sprung bekommen. Wie ist er hineingekommen? Als England anfing, Afrika auszuteilen, ging es selbst darauf aus, alle wichtigen Küstenplätze, die es noch nicht innehatte, in Besitz zubekommen. Das Teilungswerk, durch den Burenkrieg unterbrochen, wurde bald nach dem Friedens¬ schluß wieder aufgenommen und fand seinen vorläufigen Abschluß in dem Vertrage vom 8. April 1904 mit Frankreich, der den Franzosen die Vorherrschaft im Nordwesten, den Engländern die Herrschaft im Osten garantierte. England nahm das Protektorat über Ägypten, Frankreich begann die Tunifizierung Marokkos. Deutschland fand in dem Abkommen keinerlei Berücksichtigung, nachdem es ein von Chamberlain gemachtes Angebot, sich in Südmarokko eine Einflußsphäre zu sichern, abgelehnt hatte. Die Ablehnung scheint damals aus zwei Gründen erfolgt zu sein: einmal glaubten wir, der marokkanische Staat sei lebenskräftiger, als er es tatsächlich war, und dann wollten wir Frankreichs politischen Bestrebungen nicht in den Weg kommen, solange sie unsere wirtschaftlichen Interessen nicht störten. Durch unsere Weigerung sah England sich um die Hoffnung betrogen, mit unserer Hilfe den Hafen von Tanger besetzen zu können. Was auf direktem Wege nicht gelang, sollte auf Umwegen erreicht werden. Konnte England nicht an der Nordküste Marokkos herrschen, so durfte dort wenigstens kein starker Freund, sondern höchstens ein schwächerer sitzen. Dieser aber war Spanien. Auf Be¬ treiben Englands wurde Spaniens Interesse an der Nordküste Marokkos der¬ gestalt sichergestellt, daß Frankreich sich verpflichten mußte, die Schritte gutzu¬ heißen, die Spanien unternehmen würde, um die Umgebung der spanischen Presidios bis zum Gebirge am rechten Sebuufer der Autorität des Sultans zu entziehen. Herr Delcassö erklärte sich um so leichter mit dieser Klausel ein¬ verstanden, als er Spaniens Bundesgenossenschaft auf der durch Deutschland bewirkten Konferenz von Algeciras gegen Deutschland bedürfte, das bekanntlich die Internationalisiern»^ Marokkos betrieb. Algeciras stellte sich der Öffentlichkeit als eine Niederlage Deutsch¬ lands dar oder besser gesagt: wurde von Deutschlands Gegnern als Triumph der enteilte corcUale und der durch Frankreich und England getragenen Friedens¬ idee gefeiert. Wie seinerzeit in den Grenzboten von sachkundiger Seite nach¬ gewiesen werden konnte, war aber Algeciras ein Erfolg unserer Diplomatie, da durch die Akte tatsächlich die Internationalisierung erreicht wurde und Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/462>, abgerufen am 23.07.2024.