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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Airchenrcform

nicht aus der Welt geschafft. Schönheitsfehler. Zöpfe, Altertümlichkeiten
kann man tragen. Fehler und Mißgriffe in der Leitung find bei keiner
Institution dieser Welt zu vermeiden. Kommen sie vor, so wollen wir
uns wehren, protestieren, kämpfen, leiden. Aber bedenken wir die großen,
unzweifelhaften Vorteile, die wir durch die Landeskirche genießen, so scheinen
uns die Bürden und Bedrängnisse gering. Opfer fordert jede größere
Gemeinschaft.

In solcher Gelassenheit können uns drei weitere Momente bestärken.

Zunächst: der Gedanke einer Kirche, einer großen umfassenden, dauerhaften
religiösen Gemeinschaft hat eine Gewalt über die Seele, der sich niemand ent¬
ziehen kann. Um der Kirche willen, sollte man da nicht viel tragen können?
Ist es nicht wirklich viel mehr wert, solch einen großen religiösen Körper zu
erhalten, als jedem Subjektivismen und Individualisten Raum zu geben? Es
ist also ein ideales Motiv, das die Erhaltung der Landeskirche fordert. Mit
diesem Gedanken kann die Kirchenregierung wohl rechtfertigen, wenn sie die
Altgläubigen auffordert, auf konsequente Geltendmachung ihrer Maßstäbe und
Ausprägung ihrer Eigenart zu verzichten, und wenn sie radikale Stürmer und
Dränger ausscheidet. Die faszinierende Kraft dieses Gedankens erklärt es, wenn
auch freigestnnte Geister dabei auf ihre Seite treten. Das Dogma von der
Kirche entfaltet immer wieder seine wunderbare Kraft, alle anderen Fragen der
Theologie und der Praxis in den Hintergrund zu drängen. Läßt sich aber eine
solche große Idee jemals anders als unvollkommen und halb in die Wirklichkeit
übersetzen, müssen wir nicht um die Größe der Idee willen die Schwächen und
Mängel ihrer empirischen Erscheinung tragen?

Sodann: es ist kein Zweifel, daß die Wichtigkeit der Kirche innerhalb
des Volkslebens auch für die Pflege christlicher Frömmigkeit zurückgeht. Im
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die Kirche, war das Tun des Pfarrers
in Abhaltung des Gottesdienstes, in Kirchenzucht und Jugendlehre, wozu der
Pietismus die spezielle Seelsorge gefügt hatte, das einzige Organ der Evan¬
gelisation und Christianisierung. Der Polizeistaat gestattete kein freies Vereins-
leben, gewährte keine Versammlung^- und Redefreiheit, hielt das gedruckte Wort
unter strenger Zensur. Und dieses erreichte nur eine unglaublich dünne Schicht.
Das ist heute anders geworden. Auf hundert Wegen kann heute jeder, dem
es um evangelische Frömmigkeit zu tun ist, ins Volk dringen, auf hundert
Wegen jeder seinem religiösen Bedürfnis genügen. Diese Wege stehen offen.
Und sicherlich, was heute durch weit verzweigte literarische Tätigkeit, durch
Vereinsbildung. Versammlungen und Vorträge getan wird, ist kirchliche Arbeit
"eben und außerhalb der Kirche. Der Stand des religiösen Lebens in unserem
Volke ist vielleicht mehr davon abhängig, als vom Tun der organisierten
Kirche, an deren Gottesdiensten sich nur noch ein Bruchteil von höchstens
20 Prozent der Bevölkerung beteiligt, deren Handlungen als dekorative Akte zur
Gesinnungsbildung so gut wie nichts beitragen, deren Konfirmandenunterricht


Religionsfreiheit und Airchenrcform

nicht aus der Welt geschafft. Schönheitsfehler. Zöpfe, Altertümlichkeiten
kann man tragen. Fehler und Mißgriffe in der Leitung find bei keiner
Institution dieser Welt zu vermeiden. Kommen sie vor, so wollen wir
uns wehren, protestieren, kämpfen, leiden. Aber bedenken wir die großen,
unzweifelhaften Vorteile, die wir durch die Landeskirche genießen, so scheinen
uns die Bürden und Bedrängnisse gering. Opfer fordert jede größere
Gemeinschaft.

In solcher Gelassenheit können uns drei weitere Momente bestärken.

Zunächst: der Gedanke einer Kirche, einer großen umfassenden, dauerhaften
religiösen Gemeinschaft hat eine Gewalt über die Seele, der sich niemand ent¬
ziehen kann. Um der Kirche willen, sollte man da nicht viel tragen können?
Ist es nicht wirklich viel mehr wert, solch einen großen religiösen Körper zu
erhalten, als jedem Subjektivismen und Individualisten Raum zu geben? Es
ist also ein ideales Motiv, das die Erhaltung der Landeskirche fordert. Mit
diesem Gedanken kann die Kirchenregierung wohl rechtfertigen, wenn sie die
Altgläubigen auffordert, auf konsequente Geltendmachung ihrer Maßstäbe und
Ausprägung ihrer Eigenart zu verzichten, und wenn sie radikale Stürmer und
Dränger ausscheidet. Die faszinierende Kraft dieses Gedankens erklärt es, wenn
auch freigestnnte Geister dabei auf ihre Seite treten. Das Dogma von der
Kirche entfaltet immer wieder seine wunderbare Kraft, alle anderen Fragen der
Theologie und der Praxis in den Hintergrund zu drängen. Läßt sich aber eine
solche große Idee jemals anders als unvollkommen und halb in die Wirklichkeit
übersetzen, müssen wir nicht um die Größe der Idee willen die Schwächen und
Mängel ihrer empirischen Erscheinung tragen?

Sodann: es ist kein Zweifel, daß die Wichtigkeit der Kirche innerhalb
des Volkslebens auch für die Pflege christlicher Frömmigkeit zurückgeht. Im
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die Kirche, war das Tun des Pfarrers
in Abhaltung des Gottesdienstes, in Kirchenzucht und Jugendlehre, wozu der
Pietismus die spezielle Seelsorge gefügt hatte, das einzige Organ der Evan¬
gelisation und Christianisierung. Der Polizeistaat gestattete kein freies Vereins-
leben, gewährte keine Versammlung^- und Redefreiheit, hielt das gedruckte Wort
unter strenger Zensur. Und dieses erreichte nur eine unglaublich dünne Schicht.
Das ist heute anders geworden. Auf hundert Wegen kann heute jeder, dem
es um evangelische Frömmigkeit zu tun ist, ins Volk dringen, auf hundert
Wegen jeder seinem religiösen Bedürfnis genügen. Diese Wege stehen offen.
Und sicherlich, was heute durch weit verzweigte literarische Tätigkeit, durch
Vereinsbildung. Versammlungen und Vorträge getan wird, ist kirchliche Arbeit
«eben und außerhalb der Kirche. Der Stand des religiösen Lebens in unserem
Volke ist vielleicht mehr davon abhängig, als vom Tun der organisierten
Kirche, an deren Gottesdiensten sich nur noch ein Bruchteil von höchstens
20 Prozent der Bevölkerung beteiligt, deren Handlungen als dekorative Akte zur
Gesinnungsbildung so gut wie nichts beitragen, deren Konfirmandenunterricht


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[0427] Religionsfreiheit und Airchenrcform nicht aus der Welt geschafft. Schönheitsfehler. Zöpfe, Altertümlichkeiten kann man tragen. Fehler und Mißgriffe in der Leitung find bei keiner Institution dieser Welt zu vermeiden. Kommen sie vor, so wollen wir uns wehren, protestieren, kämpfen, leiden. Aber bedenken wir die großen, unzweifelhaften Vorteile, die wir durch die Landeskirche genießen, so scheinen uns die Bürden und Bedrängnisse gering. Opfer fordert jede größere Gemeinschaft. In solcher Gelassenheit können uns drei weitere Momente bestärken. Zunächst: der Gedanke einer Kirche, einer großen umfassenden, dauerhaften religiösen Gemeinschaft hat eine Gewalt über die Seele, der sich niemand ent¬ ziehen kann. Um der Kirche willen, sollte man da nicht viel tragen können? Ist es nicht wirklich viel mehr wert, solch einen großen religiösen Körper zu erhalten, als jedem Subjektivismen und Individualisten Raum zu geben? Es ist also ein ideales Motiv, das die Erhaltung der Landeskirche fordert. Mit diesem Gedanken kann die Kirchenregierung wohl rechtfertigen, wenn sie die Altgläubigen auffordert, auf konsequente Geltendmachung ihrer Maßstäbe und Ausprägung ihrer Eigenart zu verzichten, und wenn sie radikale Stürmer und Dränger ausscheidet. Die faszinierende Kraft dieses Gedankens erklärt es, wenn auch freigestnnte Geister dabei auf ihre Seite treten. Das Dogma von der Kirche entfaltet immer wieder seine wunderbare Kraft, alle anderen Fragen der Theologie und der Praxis in den Hintergrund zu drängen. Läßt sich aber eine solche große Idee jemals anders als unvollkommen und halb in die Wirklichkeit übersetzen, müssen wir nicht um die Größe der Idee willen die Schwächen und Mängel ihrer empirischen Erscheinung tragen? Sodann: es ist kein Zweifel, daß die Wichtigkeit der Kirche innerhalb des Volkslebens auch für die Pflege christlicher Frömmigkeit zurückgeht. Im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die Kirche, war das Tun des Pfarrers in Abhaltung des Gottesdienstes, in Kirchenzucht und Jugendlehre, wozu der Pietismus die spezielle Seelsorge gefügt hatte, das einzige Organ der Evan¬ gelisation und Christianisierung. Der Polizeistaat gestattete kein freies Vereins- leben, gewährte keine Versammlung^- und Redefreiheit, hielt das gedruckte Wort unter strenger Zensur. Und dieses erreichte nur eine unglaublich dünne Schicht. Das ist heute anders geworden. Auf hundert Wegen kann heute jeder, dem es um evangelische Frömmigkeit zu tun ist, ins Volk dringen, auf hundert Wegen jeder seinem religiösen Bedürfnis genügen. Diese Wege stehen offen. Und sicherlich, was heute durch weit verzweigte literarische Tätigkeit, durch Vereinsbildung. Versammlungen und Vorträge getan wird, ist kirchliche Arbeit «eben und außerhalb der Kirche. Der Stand des religiösen Lebens in unserem Volke ist vielleicht mehr davon abhängig, als vom Tun der organisierten Kirche, an deren Gottesdiensten sich nur noch ein Bruchteil von höchstens 20 Prozent der Bevölkerung beteiligt, deren Handlungen als dekorative Akte zur Gesinnungsbildung so gut wie nichts beitragen, deren Konfirmandenunterricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/427>, abgerufen am 23.07.2024.