Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religionsfreiheit und Kirchenreform

zurichten, wo zwingende Rücksichten es unmöglich wachen, das katholische Kirchen¬
recht und die katholische Kirchenregierung gewähren zu lassen. Solche Punkte,
wo niemals mehr erreichbar sein wird, als ein leidlicher IVWdu8 vivsnäi zwischen
Staat und Kirche, sind die Ordens- und die Schulfrage. Denn hier kommen
Interessen der Volkswohlfahrt und der nationalen Einheit in Betracht, die der
Staat nicht fahren lassen darf. Dagegen scheint die Zeit gekommen, wo der
Staat ohne Schaden, ja sich selbst zur Erleichterung die letzten Reste der Polizei¬
aufsicht fallen lassen kann, die er aus der Vergangenheit übernommen hat: also
jede Art Plazet oder Genehmigungsvorbehalt für Regierungshandlungen der
kirchlichen Autoritäten, jede Einflußnahme auf die Besetzung der Bischofsstühle,
jede Einwirkung auf die Berufsvorbildung des Klerus, jede Hinderung der
kirchlichen Strafgewalt, soweit sie sich nicht auf das bürgerliche Gebiet begibt.
Die Katholiken haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie alles dies ablehnen,
und sie sind mächtig genug, Versuche in dieser Richtung unwirksam zu machen.
Unter Religionsfreiheit wird der Katholik immer den Kampf gegen derartige
staatliche Maßnahmen verstehen; sobald sie aufgegeben sind, ist für ihn Re¬
ligionsfreiheit hergestellt. Nur wird der Staat darüber hinaus die Freiheit
des Einzelnen schirmen müssen, aus der katholischen Kirche auszutreten, und
jeden direkten oder indirekten Zwang verweigern müssen, als Katholiken Geborene
in der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu erhalten. Es muß durchaus
dem freien Entschluß des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich der kirchlichen
Autorität unterwerfen will, und es muß der katholischen Kirche überlassen bleiben,
mit welchen Mitteln sie, ohne Hilfe des Staates, das katholische Kirchenrecht
ihren Gliedern gegenüber zur Geltung bringt.

Im folgenden werde ich das Problem der Religionsfreiheit lediglich vom
Standpunkt des Nichtkatholiken behandeln.

Aber auch der Protestant wird gegenüber Überlegungen, wie wir sie im
folgenden anstellen wollen, schon an der Schwelle einen gewichtigen, freilich sehr
andersartigen Einwand ins Feld führen können, nämlich diesen: Eine voll¬
kommene Kirchenverfassung gibt es nicht; für Protestanten sind Verfassungen
immer nur Mittel zum Zweck, Notdächer des Lebens. Das Bett ist nicht der
Strom. Ein kräftiger Strom muß an den Ufern anprallen, sich an ihnen
stoßen, zuweilen über sie hinwegschäumen. Es genügt, wenn die Verfassung die
Arbeit der Theologie und das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Tat
nicht hindert, wenn sie Raum gibt für die Betätigung evangelischen Glaubens
in der Gemeinschaft. Und dazu ist ja im allgemeinen Raum. Wir sind unserer
Kirche dankbar, daß sie uns die äußere Möglichkeit dazu schafft; und wir verkennen
nicht, daß dies eine große Leistung ist. Es ist doch Tatsache, daß es in unserer
Kirche lebendige Gemeinden und freie Predigt des Evangeliums gibt. Es ist ebenso
Tatsache, daß der evangelische Glaube noch heute auf dem Boden der Landeskirchen
herrliche Früchte zeitigt. Dies geschieht vielleicht unter Schranken, die uns
unbequem sind, und unter Lasten, die uns drücken; aber die Tatsache ist damit


Religionsfreiheit und Kirchenreform

zurichten, wo zwingende Rücksichten es unmöglich wachen, das katholische Kirchen¬
recht und die katholische Kirchenregierung gewähren zu lassen. Solche Punkte,
wo niemals mehr erreichbar sein wird, als ein leidlicher IVWdu8 vivsnäi zwischen
Staat und Kirche, sind die Ordens- und die Schulfrage. Denn hier kommen
Interessen der Volkswohlfahrt und der nationalen Einheit in Betracht, die der
Staat nicht fahren lassen darf. Dagegen scheint die Zeit gekommen, wo der
Staat ohne Schaden, ja sich selbst zur Erleichterung die letzten Reste der Polizei¬
aufsicht fallen lassen kann, die er aus der Vergangenheit übernommen hat: also
jede Art Plazet oder Genehmigungsvorbehalt für Regierungshandlungen der
kirchlichen Autoritäten, jede Einflußnahme auf die Besetzung der Bischofsstühle,
jede Einwirkung auf die Berufsvorbildung des Klerus, jede Hinderung der
kirchlichen Strafgewalt, soweit sie sich nicht auf das bürgerliche Gebiet begibt.
Die Katholiken haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie alles dies ablehnen,
und sie sind mächtig genug, Versuche in dieser Richtung unwirksam zu machen.
Unter Religionsfreiheit wird der Katholik immer den Kampf gegen derartige
staatliche Maßnahmen verstehen; sobald sie aufgegeben sind, ist für ihn Re¬
ligionsfreiheit hergestellt. Nur wird der Staat darüber hinaus die Freiheit
des Einzelnen schirmen müssen, aus der katholischen Kirche auszutreten, und
jeden direkten oder indirekten Zwang verweigern müssen, als Katholiken Geborene
in der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu erhalten. Es muß durchaus
dem freien Entschluß des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich der kirchlichen
Autorität unterwerfen will, und es muß der katholischen Kirche überlassen bleiben,
mit welchen Mitteln sie, ohne Hilfe des Staates, das katholische Kirchenrecht
ihren Gliedern gegenüber zur Geltung bringt.

Im folgenden werde ich das Problem der Religionsfreiheit lediglich vom
Standpunkt des Nichtkatholiken behandeln.

Aber auch der Protestant wird gegenüber Überlegungen, wie wir sie im
folgenden anstellen wollen, schon an der Schwelle einen gewichtigen, freilich sehr
andersartigen Einwand ins Feld führen können, nämlich diesen: Eine voll¬
kommene Kirchenverfassung gibt es nicht; für Protestanten sind Verfassungen
immer nur Mittel zum Zweck, Notdächer des Lebens. Das Bett ist nicht der
Strom. Ein kräftiger Strom muß an den Ufern anprallen, sich an ihnen
stoßen, zuweilen über sie hinwegschäumen. Es genügt, wenn die Verfassung die
Arbeit der Theologie und das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Tat
nicht hindert, wenn sie Raum gibt für die Betätigung evangelischen Glaubens
in der Gemeinschaft. Und dazu ist ja im allgemeinen Raum. Wir sind unserer
Kirche dankbar, daß sie uns die äußere Möglichkeit dazu schafft; und wir verkennen
nicht, daß dies eine große Leistung ist. Es ist doch Tatsache, daß es in unserer
Kirche lebendige Gemeinden und freie Predigt des Evangeliums gibt. Es ist ebenso
Tatsache, daß der evangelische Glaube noch heute auf dem Boden der Landeskirchen
herrliche Früchte zeitigt. Dies geschieht vielleicht unter Schranken, die uns
unbequem sind, und unter Lasten, die uns drücken; aber die Tatsache ist damit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320027"/>
          <fw type="header" place="top"> Religionsfreiheit und Kirchenreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1794" prev="#ID_1793"> zurichten, wo zwingende Rücksichten es unmöglich wachen, das katholische Kirchen¬<lb/>
recht und die katholische Kirchenregierung gewähren zu lassen. Solche Punkte,<lb/>
wo niemals mehr erreichbar sein wird, als ein leidlicher IVWdu8 vivsnäi zwischen<lb/>
Staat und Kirche, sind die Ordens- und die Schulfrage. Denn hier kommen<lb/>
Interessen der Volkswohlfahrt und der nationalen Einheit in Betracht, die der<lb/>
Staat nicht fahren lassen darf. Dagegen scheint die Zeit gekommen, wo der<lb/>
Staat ohne Schaden, ja sich selbst zur Erleichterung die letzten Reste der Polizei¬<lb/>
aufsicht fallen lassen kann, die er aus der Vergangenheit übernommen hat: also<lb/>
jede Art Plazet oder Genehmigungsvorbehalt für Regierungshandlungen der<lb/>
kirchlichen Autoritäten, jede Einflußnahme auf die Besetzung der Bischofsstühle,<lb/>
jede Einwirkung auf die Berufsvorbildung des Klerus, jede Hinderung der<lb/>
kirchlichen Strafgewalt, soweit sie sich nicht auf das bürgerliche Gebiet begibt.<lb/>
Die Katholiken haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie alles dies ablehnen,<lb/>
und sie sind mächtig genug, Versuche in dieser Richtung unwirksam zu machen.<lb/>
Unter Religionsfreiheit wird der Katholik immer den Kampf gegen derartige<lb/>
staatliche Maßnahmen verstehen; sobald sie aufgegeben sind, ist für ihn Re¬<lb/>
ligionsfreiheit hergestellt. Nur wird der Staat darüber hinaus die Freiheit<lb/>
des Einzelnen schirmen müssen, aus der katholischen Kirche auszutreten, und<lb/>
jeden direkten oder indirekten Zwang verweigern müssen, als Katholiken Geborene<lb/>
in der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu erhalten. Es muß durchaus<lb/>
dem freien Entschluß des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich der kirchlichen<lb/>
Autorität unterwerfen will, und es muß der katholischen Kirche überlassen bleiben,<lb/>
mit welchen Mitteln sie, ohne Hilfe des Staates, das katholische Kirchenrecht<lb/>
ihren Gliedern gegenüber zur Geltung bringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1795"> Im folgenden werde ich das Problem der Religionsfreiheit lediglich vom<lb/>
Standpunkt des Nichtkatholiken behandeln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1796" next="#ID_1797"> Aber auch der Protestant wird gegenüber Überlegungen, wie wir sie im<lb/>
folgenden anstellen wollen, schon an der Schwelle einen gewichtigen, freilich sehr<lb/>
andersartigen Einwand ins Feld führen können, nämlich diesen: Eine voll¬<lb/>
kommene Kirchenverfassung gibt es nicht; für Protestanten sind Verfassungen<lb/>
immer nur Mittel zum Zweck, Notdächer des Lebens. Das Bett ist nicht der<lb/>
Strom. Ein kräftiger Strom muß an den Ufern anprallen, sich an ihnen<lb/>
stoßen, zuweilen über sie hinwegschäumen. Es genügt, wenn die Verfassung die<lb/>
Arbeit der Theologie und das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Tat<lb/>
nicht hindert, wenn sie Raum gibt für die Betätigung evangelischen Glaubens<lb/>
in der Gemeinschaft. Und dazu ist ja im allgemeinen Raum. Wir sind unserer<lb/>
Kirche dankbar, daß sie uns die äußere Möglichkeit dazu schafft; und wir verkennen<lb/>
nicht, daß dies eine große Leistung ist. Es ist doch Tatsache, daß es in unserer<lb/>
Kirche lebendige Gemeinden und freie Predigt des Evangeliums gibt. Es ist ebenso<lb/>
Tatsache, daß der evangelische Glaube noch heute auf dem Boden der Landeskirchen<lb/>
herrliche Früchte zeitigt. Dies geschieht vielleicht unter Schranken, die uns<lb/>
unbequem sind, und unter Lasten, die uns drücken; aber die Tatsache ist damit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] Religionsfreiheit und Kirchenreform zurichten, wo zwingende Rücksichten es unmöglich wachen, das katholische Kirchen¬ recht und die katholische Kirchenregierung gewähren zu lassen. Solche Punkte, wo niemals mehr erreichbar sein wird, als ein leidlicher IVWdu8 vivsnäi zwischen Staat und Kirche, sind die Ordens- und die Schulfrage. Denn hier kommen Interessen der Volkswohlfahrt und der nationalen Einheit in Betracht, die der Staat nicht fahren lassen darf. Dagegen scheint die Zeit gekommen, wo der Staat ohne Schaden, ja sich selbst zur Erleichterung die letzten Reste der Polizei¬ aufsicht fallen lassen kann, die er aus der Vergangenheit übernommen hat: also jede Art Plazet oder Genehmigungsvorbehalt für Regierungshandlungen der kirchlichen Autoritäten, jede Einflußnahme auf die Besetzung der Bischofsstühle, jede Einwirkung auf die Berufsvorbildung des Klerus, jede Hinderung der kirchlichen Strafgewalt, soweit sie sich nicht auf das bürgerliche Gebiet begibt. Die Katholiken haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie alles dies ablehnen, und sie sind mächtig genug, Versuche in dieser Richtung unwirksam zu machen. Unter Religionsfreiheit wird der Katholik immer den Kampf gegen derartige staatliche Maßnahmen verstehen; sobald sie aufgegeben sind, ist für ihn Re¬ ligionsfreiheit hergestellt. Nur wird der Staat darüber hinaus die Freiheit des Einzelnen schirmen müssen, aus der katholischen Kirche auszutreten, und jeden direkten oder indirekten Zwang verweigern müssen, als Katholiken Geborene in der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu erhalten. Es muß durchaus dem freien Entschluß des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich der kirchlichen Autorität unterwerfen will, und es muß der katholischen Kirche überlassen bleiben, mit welchen Mitteln sie, ohne Hilfe des Staates, das katholische Kirchenrecht ihren Gliedern gegenüber zur Geltung bringt. Im folgenden werde ich das Problem der Religionsfreiheit lediglich vom Standpunkt des Nichtkatholiken behandeln. Aber auch der Protestant wird gegenüber Überlegungen, wie wir sie im folgenden anstellen wollen, schon an der Schwelle einen gewichtigen, freilich sehr andersartigen Einwand ins Feld führen können, nämlich diesen: Eine voll¬ kommene Kirchenverfassung gibt es nicht; für Protestanten sind Verfassungen immer nur Mittel zum Zweck, Notdächer des Lebens. Das Bett ist nicht der Strom. Ein kräftiger Strom muß an den Ufern anprallen, sich an ihnen stoßen, zuweilen über sie hinwegschäumen. Es genügt, wenn die Verfassung die Arbeit der Theologie und das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Tat nicht hindert, wenn sie Raum gibt für die Betätigung evangelischen Glaubens in der Gemeinschaft. Und dazu ist ja im allgemeinen Raum. Wir sind unserer Kirche dankbar, daß sie uns die äußere Möglichkeit dazu schafft; und wir verkennen nicht, daß dies eine große Leistung ist. Es ist doch Tatsache, daß es in unserer Kirche lebendige Gemeinden und freie Predigt des Evangeliums gibt. Es ist ebenso Tatsache, daß der evangelische Glaube noch heute auf dem Boden der Landeskirchen herrliche Früchte zeitigt. Dies geschieht vielleicht unter Schranken, die uns unbequem sind, und unter Lasten, die uns drücken; aber die Tatsache ist damit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/426>, abgerufen am 23.07.2024.