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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das Erlebnis

muß der Lehrer beginnen. Die Einfassung einer Quelle, nachdem man vorher
mühsam sich bückend aus dem Waldbach getrunken hat, bietet Anlaß. Man stellt
die ordnende Menschenhand im Gegensatz zur Natnrschöpfung und zeigt, wie doch
ihr Werk sich der Natur einfügt, die wir so erkennen, weil wir Menschen sind.
Dann wählt man, wenn recht viel Kinder mitwandern, den Besuch irgendeines
historischen, möglichst engen, niederen Gewölbes aus. Sollte es darin dunkel sein,
um so besser. Die Kinder werden ein wenig ängstlich, beengt und bedrückt. Im
Herausgehen gibt der Lehrer dieser Empfindung selbst Ausdruck. Der Besuch
eines hohen, sonnenhellen Raumes wird dieser Besichtigung angeschlossen, der
Unterschied der Gefühle in den beiden Räumen, gegen die niemand stumpf bleibt,
klargelegt. Sind dann die Schulgebäude selbst noch gut gebaut mit großer Aula
und Turnsaal, so kann man gelegentlich des Unterrichts auf die Verhältnisse von
Höhe, Breite und Länge hinweisen, die dnrch den aufrechten Gang des Menschen
und seine Fortbewegung in einer Richtung bestimmt sind. Ferner zeigt man in
geschickter Auswahl an kleinen Modellen und Photographien, daß die konkreten
Maße, nicht allein die Proportionen, in der Architektur ausschlaggebend für die
Wirkung sind.

Diese Andeutungen müssen genügen. Die Ausführung kann nur durch
jahrelange Übung bei rechter Auswahl der Lehrenden zum Erfolg führen. Worauf
es mir ankommt, das ist gegen die Einführung der Kunstgeschichte in unserer mit
Unterrichtsfächern übergenug belasteten Schule als neue Disziplin ein Wort zu
reden.") Dennoch verkenne ich die Gründe nicht, die zu diesem Vorschlag geführt
haben. Man wählte ein Wissenschaftsgebiet, das die Kunst zu ihrem Inhalt hat,
um Kunst den Kindern nahe zu bringen, da man sich bewußt war, nur eine
Wissenschaft läßt sich durch Begriffe der Erkenntnis der Einzelnen zuführen. Die
Kunst und das Geschmacksurteil sind dem Begriffe unzugänglich. Wohl dem Be¬
griffe sage ich, aber was der Begriff für die Erkenntnis, für die Wissenschaft
bedeutet, das ist der Wert des Erlebnisses für die Kunst. Zum Erlebnis, mag
es bald tiefer, bald schwächer die Seele rühren, ist jeder befähigt. Nutze und
pflegt man die innere Resonanz unserer Gefühle, predigt man nicht mehr, daß
es männlich und würdig sei, das Fühlen zu verbergen (denn auch Achill weint
im Schmerz), dann schaffen wir fruchtbaren Boden für das Erlebnis. Die Kunst,
das Kunstempfinden, an sich umkehrbar, weil sie dem Begriff nicht zugänglich,
können auf diesem Wege herangezogen werden zur Bildung des Menschengeschlechts,
damit das Wort von der Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen nicht nur
ein totes Wort bleibe, sondern lebendig wirke.





*) Paul de Lagarde spricht ganz in gleichem Sinne "Deutsche Schriften". 4. Aufl. 1903
S. 16S: "Aber die Kultur hat in ihren geräumigen Speichern noch mehr Bildungsstoff, aus
welchen: man die Kunstgeschichte, und was weiß ich noch sonst, mit Vergnügen zur weiteren
Abtötung der Individualität hervorholen dürfte, so wie einmal irgend ein Phrasenmacher die
öffentliche Meinung beredet haben wird, dies nötig zu finden."
Grenzbots" IV 1911> t
Das Erlebnis

muß der Lehrer beginnen. Die Einfassung einer Quelle, nachdem man vorher
mühsam sich bückend aus dem Waldbach getrunken hat, bietet Anlaß. Man stellt
die ordnende Menschenhand im Gegensatz zur Natnrschöpfung und zeigt, wie doch
ihr Werk sich der Natur einfügt, die wir so erkennen, weil wir Menschen sind.
Dann wählt man, wenn recht viel Kinder mitwandern, den Besuch irgendeines
historischen, möglichst engen, niederen Gewölbes aus. Sollte es darin dunkel sein,
um so besser. Die Kinder werden ein wenig ängstlich, beengt und bedrückt. Im
Herausgehen gibt der Lehrer dieser Empfindung selbst Ausdruck. Der Besuch
eines hohen, sonnenhellen Raumes wird dieser Besichtigung angeschlossen, der
Unterschied der Gefühle in den beiden Räumen, gegen die niemand stumpf bleibt,
klargelegt. Sind dann die Schulgebäude selbst noch gut gebaut mit großer Aula
und Turnsaal, so kann man gelegentlich des Unterrichts auf die Verhältnisse von
Höhe, Breite und Länge hinweisen, die dnrch den aufrechten Gang des Menschen
und seine Fortbewegung in einer Richtung bestimmt sind. Ferner zeigt man in
geschickter Auswahl an kleinen Modellen und Photographien, daß die konkreten
Maße, nicht allein die Proportionen, in der Architektur ausschlaggebend für die
Wirkung sind.

Diese Andeutungen müssen genügen. Die Ausführung kann nur durch
jahrelange Übung bei rechter Auswahl der Lehrenden zum Erfolg führen. Worauf
es mir ankommt, das ist gegen die Einführung der Kunstgeschichte in unserer mit
Unterrichtsfächern übergenug belasteten Schule als neue Disziplin ein Wort zu
reden.") Dennoch verkenne ich die Gründe nicht, die zu diesem Vorschlag geführt
haben. Man wählte ein Wissenschaftsgebiet, das die Kunst zu ihrem Inhalt hat,
um Kunst den Kindern nahe zu bringen, da man sich bewußt war, nur eine
Wissenschaft läßt sich durch Begriffe der Erkenntnis der Einzelnen zuführen. Die
Kunst und das Geschmacksurteil sind dem Begriffe unzugänglich. Wohl dem Be¬
griffe sage ich, aber was der Begriff für die Erkenntnis, für die Wissenschaft
bedeutet, das ist der Wert des Erlebnisses für die Kunst. Zum Erlebnis, mag
es bald tiefer, bald schwächer die Seele rühren, ist jeder befähigt. Nutze und
pflegt man die innere Resonanz unserer Gefühle, predigt man nicht mehr, daß
es männlich und würdig sei, das Fühlen zu verbergen (denn auch Achill weint
im Schmerz), dann schaffen wir fruchtbaren Boden für das Erlebnis. Die Kunst,
das Kunstempfinden, an sich umkehrbar, weil sie dem Begriff nicht zugänglich,
können auf diesem Wege herangezogen werden zur Bildung des Menschengeschlechts,
damit das Wort von der Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen nicht nur
ein totes Wort bleibe, sondern lebendig wirke.





*) Paul de Lagarde spricht ganz in gleichem Sinne „Deutsche Schriften". 4. Aufl. 1903
S. 16S: „Aber die Kultur hat in ihren geräumigen Speichern noch mehr Bildungsstoff, aus
welchen: man die Kunstgeschichte, und was weiß ich noch sonst, mit Vergnügen zur weiteren
Abtötung der Individualität hervorholen dürfte, so wie einmal irgend ein Phrasenmacher die
öffentliche Meinung beredet haben wird, dies nötig zu finden."
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[0353] Das Erlebnis muß der Lehrer beginnen. Die Einfassung einer Quelle, nachdem man vorher mühsam sich bückend aus dem Waldbach getrunken hat, bietet Anlaß. Man stellt die ordnende Menschenhand im Gegensatz zur Natnrschöpfung und zeigt, wie doch ihr Werk sich der Natur einfügt, die wir so erkennen, weil wir Menschen sind. Dann wählt man, wenn recht viel Kinder mitwandern, den Besuch irgendeines historischen, möglichst engen, niederen Gewölbes aus. Sollte es darin dunkel sein, um so besser. Die Kinder werden ein wenig ängstlich, beengt und bedrückt. Im Herausgehen gibt der Lehrer dieser Empfindung selbst Ausdruck. Der Besuch eines hohen, sonnenhellen Raumes wird dieser Besichtigung angeschlossen, der Unterschied der Gefühle in den beiden Räumen, gegen die niemand stumpf bleibt, klargelegt. Sind dann die Schulgebäude selbst noch gut gebaut mit großer Aula und Turnsaal, so kann man gelegentlich des Unterrichts auf die Verhältnisse von Höhe, Breite und Länge hinweisen, die dnrch den aufrechten Gang des Menschen und seine Fortbewegung in einer Richtung bestimmt sind. Ferner zeigt man in geschickter Auswahl an kleinen Modellen und Photographien, daß die konkreten Maße, nicht allein die Proportionen, in der Architektur ausschlaggebend für die Wirkung sind. Diese Andeutungen müssen genügen. Die Ausführung kann nur durch jahrelange Übung bei rechter Auswahl der Lehrenden zum Erfolg führen. Worauf es mir ankommt, das ist gegen die Einführung der Kunstgeschichte in unserer mit Unterrichtsfächern übergenug belasteten Schule als neue Disziplin ein Wort zu reden.") Dennoch verkenne ich die Gründe nicht, die zu diesem Vorschlag geführt haben. Man wählte ein Wissenschaftsgebiet, das die Kunst zu ihrem Inhalt hat, um Kunst den Kindern nahe zu bringen, da man sich bewußt war, nur eine Wissenschaft läßt sich durch Begriffe der Erkenntnis der Einzelnen zuführen. Die Kunst und das Geschmacksurteil sind dem Begriffe unzugänglich. Wohl dem Be¬ griffe sage ich, aber was der Begriff für die Erkenntnis, für die Wissenschaft bedeutet, das ist der Wert des Erlebnisses für die Kunst. Zum Erlebnis, mag es bald tiefer, bald schwächer die Seele rühren, ist jeder befähigt. Nutze und pflegt man die innere Resonanz unserer Gefühle, predigt man nicht mehr, daß es männlich und würdig sei, das Fühlen zu verbergen (denn auch Achill weint im Schmerz), dann schaffen wir fruchtbaren Boden für das Erlebnis. Die Kunst, das Kunstempfinden, an sich umkehrbar, weil sie dem Begriff nicht zugänglich, können auf diesem Wege herangezogen werden zur Bildung des Menschengeschlechts, damit das Wort von der Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen nicht nur ein totes Wort bleibe, sondern lebendig wirke. *) Paul de Lagarde spricht ganz in gleichem Sinne „Deutsche Schriften". 4. Aufl. 1903 S. 16S: „Aber die Kultur hat in ihren geräumigen Speichern noch mehr Bildungsstoff, aus welchen: man die Kunstgeschichte, und was weiß ich noch sonst, mit Vergnügen zur weiteren Abtötung der Individualität hervorholen dürfte, so wie einmal irgend ein Phrasenmacher die öffentliche Meinung beredet haben wird, dies nötig zu finden." Grenzbots» IV 1911> t

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/353>, abgerufen am 23.07.2024.