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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

Wir logierten dort in den schönen, luftigen, aber gänzlich prunklosen Räumen,
in denen die Kaiserin-Witwe auf ihren Wallfahrten zu nächtigen pflegt. Ich
gewann das Herz des freundlichen Abtes im Sturm dadurch, daß ich ihm meine
Brille zur Probe auf die Nase setzte und ihm zugleich einen lehrreichen Einblick
in das innere Getriebe meiner Uhr gewährte. Dafür lud er uns in sein Zimmer
ein, das von musterhafter Sauberkeit und voll der herrlichsten Kunstschätze war.
Er wurde zum Lohn dafür inmitten seines mit duftenden Oleanderbäumen und
Lotosblumen geschmückten Tempelhofes photographiert. Glücklicher Alter, der
sich in seinem wonnigen Erdenwinkel in süßem Nichtstun ans das Nirwana
vorbereitet! . . .




An seine Schwester.

Shanghai, 8. Okt. 1897.


Meine liebe Weinande!

Nun bin ich Dir ja noch den versprochenen Bericht über unseren letzten
Ausflug schuldig. Also los! -- Du weißt, daß Herr und Frau v. P. eine kleine
Reise in die Mongolei unternommen und uns dabei das Versprechen abgenommen
hatten, ihnen auf ihrem Rückwege bis Ch'a-tao entgegenzukommen. So zogen
wir denn an dem verabredeten Tage von Ta-chiao-sse ab, Lilly im Tragstuhl,
ich auf einem Maultier. Bis Nan-k'on war der Ritt durch die Ebene, abgesehen
von kleineren und größeren Dörfern, ziemlich einförmig, so daß wir froh waren,
nach fünf vollen Stunden ununterbrochenen Reitens endlich Nan-k'on erreicht zu
haben. Hier gönnten wir uns eine halbe Stunde Rast, die wir zum Futtern
benutzten. Dann ging es wieder weiter, und jetzt änderte sich das Bild, denn
nun betraten wir das landschaftlich sehr schöne Tal, durch welches die große
chinesisch-russische Handelsstraße von Peking über Kalgcm nach Kiächta führt.
Hier sahen wir lange Karawanenzüge von meist mit Tee beladenen Kamelen,
die meist von Mongolen geführt werden. Bei dem Tore Pa-ta-ling erreichten
wir die Paßhöhe (etwa 2000 Fuß), über welche die große Mauer führt. Das
war wieder einer der unvergeßlichen Eindrücke unserer an interessanten Ein¬
drücken so reichen Reise! Wie hier in dieser unwirklich rauhen Berglandschaft
sich eins dem andern fügt, Natur und Menschenwerk sich zu schaurig-großartiger
Harmonie vereinen, ist eigenartig und bewältigend. Von Gipfel zu Gipfel
klimmt die gezackte Mauer, unabsehbar weit, um auf einer Strecke von weit über
1000 Kilometern das Reich gegen die Einfälle der wilden Horden des Nordens
zu schützen. Ihren Zweck hat sie ja freilich nicht erreicht, denn China ist zu
wiederholten Malen von jenen Horden nicht nur überfallen, sondern auch erobert
worden; aber dafür ist die Mauer ein Bauwerk von wunderbarer Kühnheit und
von einer Größe, die von keinem anderen erreicht wird. Die ganze Szenerie
trägt in ihrer schaurig öden Kahlheit und der Rhythmik ihrer zahllosen scharf¬
gezackten Gebirgszüge ein echt balladenhaftes Gepräge.


Briefe aus China

Wir logierten dort in den schönen, luftigen, aber gänzlich prunklosen Räumen,
in denen die Kaiserin-Witwe auf ihren Wallfahrten zu nächtigen pflegt. Ich
gewann das Herz des freundlichen Abtes im Sturm dadurch, daß ich ihm meine
Brille zur Probe auf die Nase setzte und ihm zugleich einen lehrreichen Einblick
in das innere Getriebe meiner Uhr gewährte. Dafür lud er uns in sein Zimmer
ein, das von musterhafter Sauberkeit und voll der herrlichsten Kunstschätze war.
Er wurde zum Lohn dafür inmitten seines mit duftenden Oleanderbäumen und
Lotosblumen geschmückten Tempelhofes photographiert. Glücklicher Alter, der
sich in seinem wonnigen Erdenwinkel in süßem Nichtstun ans das Nirwana
vorbereitet! . . .




An seine Schwester.

Shanghai, 8. Okt. 1897.


Meine liebe Weinande!

Nun bin ich Dir ja noch den versprochenen Bericht über unseren letzten
Ausflug schuldig. Also los! — Du weißt, daß Herr und Frau v. P. eine kleine
Reise in die Mongolei unternommen und uns dabei das Versprechen abgenommen
hatten, ihnen auf ihrem Rückwege bis Ch'a-tao entgegenzukommen. So zogen
wir denn an dem verabredeten Tage von Ta-chiao-sse ab, Lilly im Tragstuhl,
ich auf einem Maultier. Bis Nan-k'on war der Ritt durch die Ebene, abgesehen
von kleineren und größeren Dörfern, ziemlich einförmig, so daß wir froh waren,
nach fünf vollen Stunden ununterbrochenen Reitens endlich Nan-k'on erreicht zu
haben. Hier gönnten wir uns eine halbe Stunde Rast, die wir zum Futtern
benutzten. Dann ging es wieder weiter, und jetzt änderte sich das Bild, denn
nun betraten wir das landschaftlich sehr schöne Tal, durch welches die große
chinesisch-russische Handelsstraße von Peking über Kalgcm nach Kiächta führt.
Hier sahen wir lange Karawanenzüge von meist mit Tee beladenen Kamelen,
die meist von Mongolen geführt werden. Bei dem Tore Pa-ta-ling erreichten
wir die Paßhöhe (etwa 2000 Fuß), über welche die große Mauer führt. Das
war wieder einer der unvergeßlichen Eindrücke unserer an interessanten Ein¬
drücken so reichen Reise! Wie hier in dieser unwirklich rauhen Berglandschaft
sich eins dem andern fügt, Natur und Menschenwerk sich zu schaurig-großartiger
Harmonie vereinen, ist eigenartig und bewältigend. Von Gipfel zu Gipfel
klimmt die gezackte Mauer, unabsehbar weit, um auf einer Strecke von weit über
1000 Kilometern das Reich gegen die Einfälle der wilden Horden des Nordens
zu schützen. Ihren Zweck hat sie ja freilich nicht erreicht, denn China ist zu
wiederholten Malen von jenen Horden nicht nur überfallen, sondern auch erobert
worden; aber dafür ist die Mauer ein Bauwerk von wunderbarer Kühnheit und
von einer Größe, die von keinem anderen erreicht wird. Die ganze Szenerie
trägt in ihrer schaurig öden Kahlheit und der Rhythmik ihrer zahllosen scharf¬
gezackten Gebirgszüge ein echt balladenhaftes Gepräge.


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[0341] Briefe aus China Wir logierten dort in den schönen, luftigen, aber gänzlich prunklosen Räumen, in denen die Kaiserin-Witwe auf ihren Wallfahrten zu nächtigen pflegt. Ich gewann das Herz des freundlichen Abtes im Sturm dadurch, daß ich ihm meine Brille zur Probe auf die Nase setzte und ihm zugleich einen lehrreichen Einblick in das innere Getriebe meiner Uhr gewährte. Dafür lud er uns in sein Zimmer ein, das von musterhafter Sauberkeit und voll der herrlichsten Kunstschätze war. Er wurde zum Lohn dafür inmitten seines mit duftenden Oleanderbäumen und Lotosblumen geschmückten Tempelhofes photographiert. Glücklicher Alter, der sich in seinem wonnigen Erdenwinkel in süßem Nichtstun ans das Nirwana vorbereitet! . . . An seine Schwester. Shanghai, 8. Okt. 1897. Meine liebe Weinande! Nun bin ich Dir ja noch den versprochenen Bericht über unseren letzten Ausflug schuldig. Also los! — Du weißt, daß Herr und Frau v. P. eine kleine Reise in die Mongolei unternommen und uns dabei das Versprechen abgenommen hatten, ihnen auf ihrem Rückwege bis Ch'a-tao entgegenzukommen. So zogen wir denn an dem verabredeten Tage von Ta-chiao-sse ab, Lilly im Tragstuhl, ich auf einem Maultier. Bis Nan-k'on war der Ritt durch die Ebene, abgesehen von kleineren und größeren Dörfern, ziemlich einförmig, so daß wir froh waren, nach fünf vollen Stunden ununterbrochenen Reitens endlich Nan-k'on erreicht zu haben. Hier gönnten wir uns eine halbe Stunde Rast, die wir zum Futtern benutzten. Dann ging es wieder weiter, und jetzt änderte sich das Bild, denn nun betraten wir das landschaftlich sehr schöne Tal, durch welches die große chinesisch-russische Handelsstraße von Peking über Kalgcm nach Kiächta führt. Hier sahen wir lange Karawanenzüge von meist mit Tee beladenen Kamelen, die meist von Mongolen geführt werden. Bei dem Tore Pa-ta-ling erreichten wir die Paßhöhe (etwa 2000 Fuß), über welche die große Mauer führt. Das war wieder einer der unvergeßlichen Eindrücke unserer an interessanten Ein¬ drücken so reichen Reise! Wie hier in dieser unwirklich rauhen Berglandschaft sich eins dem andern fügt, Natur und Menschenwerk sich zu schaurig-großartiger Harmonie vereinen, ist eigenartig und bewältigend. Von Gipfel zu Gipfel klimmt die gezackte Mauer, unabsehbar weit, um auf einer Strecke von weit über 1000 Kilometern das Reich gegen die Einfälle der wilden Horden des Nordens zu schützen. Ihren Zweck hat sie ja freilich nicht erreicht, denn China ist zu wiederholten Malen von jenen Horden nicht nur überfallen, sondern auch erobert worden; aber dafür ist die Mauer ein Bauwerk von wunderbarer Kühnheit und von einer Größe, die von keinem anderen erreicht wird. Die ganze Szenerie trägt in ihrer schaurig öden Kahlheit und der Rhythmik ihrer zahllosen scharf¬ gezackten Gebirgszüge ein echt balladenhaftes Gepräge.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/341>, abgerufen am 03.07.2024.