Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.Lncfe aus China Solange wir in Ta-chiao-sse waren, lebte ich ganz meinem Studium und Mich erinnern die Chinesen in vielen Stücken an die Russen: sie haben Lncfe aus China Solange wir in Ta-chiao-sse waren, lebte ich ganz meinem Studium und Mich erinnern die Chinesen in vielen Stücken an die Russen: sie haben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0339" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319940"/> <fw type="header" place="top"> Lncfe aus China</fw><lb/> <p xml:id="ID_1384"> Solange wir in Ta-chiao-sse waren, lebte ich ganz meinem Studium und<lb/> behielt dadurch für Briefschreiben wenig Zeit übrig; daher mußt Du mir schon<lb/> meine Saumseligkeit zugute halten. Wie nicht anders zu erwarten war, bietet<lb/> mir der Aufenthalt in China so mächtige Anregung nach den verschiedensten<lb/> Richtungen hin, daß es mir oft schwer wird, mich zu konzentrieren. Wie ich<lb/> Dir, glaube ich, schon geschrieben habe, gehe ich in erster Linie darauf aus, die<lb/> Pekinger Volksbräuche zu studieren, durch die überhaupt erst eine intimere und der<lb/> Wirklichkeit entsprechende Anschauung der Lebensauffassung und Denkweise dieses<lb/> eigenartigsten aller Kulturvölker zu erlangen ist. Zum Glück habe ich für diesen<lb/> Zweck in meinem I^clere die denkbar geeignetste Persönlichkeit gefunden und bereits<lb/> eine reiche Fülle interessanten, zum größten Teile völlig unbekannten und daher<lb/> verwertbaren Materials gesammelt. Ich lasse den Mann in seiner Weise alles<lb/> erzählen, was er über den Gegenstand weiß, und schreibe mir, was er mir<lb/> chinesisch vorträgt, nahezu Wort für Wort deutsch nieder. Auf diese Weise erhalte<lb/> ich ein anschauliches und dabei ziemlich vollständiges Bild des chinesischen Lebens,<lb/> wie sich's in seinen typischen Erscheinungsformen von der Wiege bis zur Bahre<lb/> abspielt. Ich wundere mich, daß keiner vor mir hier in Peking auf diesen doch<lb/> recht naheliegenden Gedanken verfallen ist. Es gibt vielleicht kein zweites Volk,<lb/> dessen Lebensäußerungen auf allen Daseinsgebieten derart durch zahllose kodi¬<lb/> fizierte Vorschriften eingeengt und in feste, unverrückbare Grenzen gezwängt wäre,<lb/> wie das chinesische. Daher der marionettenhafte Zug in seiner ganzen Art zu<lb/> sein und sich zu geben, daher so oft gänzlicher Mangel wirklicher Individualität<lb/> des Einzelnen, während es vielleicht keine zweite, so charakteristisch und scharf<lb/> geprägte Volksindividualität gibt, wie gerade die chinesische. Ein solches Volk<lb/> soll entweder auf Grund eingehender Kenntnis oder gar nicht beurteilt werden.<lb/> Ein Buch wie das Obrutschewsche schadet im ganzen mehr als es nützt, denn<lb/> es ist unverantwortlich seicht und oberflächlich belletristisch. Der Mann ist sich<lb/> ja nicht einmal über das klar, was er mit eigenen Augen gesehen zu haben<lb/> behauptet. Erzählt er doch z. B., daß der schlafende Buddha im Tempel<lb/> Wo-fo-sse, den wir neulich auch besucht haben, eine stehende Figur sei, die nur<lb/> einfach umgestülpt worden, während sie in recht guter Ausführung den Buddha<lb/> in liegender Stellung, auf den rechten Ellbogen gestützt, darstellt. Um das zu<lb/> sehen, bedarf es wahrlich keiner Vorstudien!</p><lb/> <p xml:id="ID_1385" next="#ID_1386"> Mich erinnern die Chinesen in vielen Stücken an die Russen: sie haben<lb/> eine außerordentlich rasche Auffassungsgabe, sind dabei unzuverlässig und finden,<lb/> ganz wie der russische Bauer, eine brutale Behandlung selbstverständlich und in der<lb/> Ordnung; wie die Russen, sind auch sie konsequente Fatalisten, und ihr Ver¬<lb/> hältnis zu ihrem Beamtentum bietet auch viele Vergleichspunkte mit den russischen<lb/> Zuständen. Was die Unsauberkeit betrifft, so bin ich mir noch nicht ganz klar<lb/> darüber, wem die Palme gebührt — ich glaube jedoch den Russen. Wenigstens<lb/> sind wir auf unseren bisherigen Ausflügen oft überrascht gewesen, wie ver¬<lb/> hältnismäßig sauber die Nachtquartiere doch meist waren. Soweit Unterschiede</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0339]
Lncfe aus China
Solange wir in Ta-chiao-sse waren, lebte ich ganz meinem Studium und
behielt dadurch für Briefschreiben wenig Zeit übrig; daher mußt Du mir schon
meine Saumseligkeit zugute halten. Wie nicht anders zu erwarten war, bietet
mir der Aufenthalt in China so mächtige Anregung nach den verschiedensten
Richtungen hin, daß es mir oft schwer wird, mich zu konzentrieren. Wie ich
Dir, glaube ich, schon geschrieben habe, gehe ich in erster Linie darauf aus, die
Pekinger Volksbräuche zu studieren, durch die überhaupt erst eine intimere und der
Wirklichkeit entsprechende Anschauung der Lebensauffassung und Denkweise dieses
eigenartigsten aller Kulturvölker zu erlangen ist. Zum Glück habe ich für diesen
Zweck in meinem I^clere die denkbar geeignetste Persönlichkeit gefunden und bereits
eine reiche Fülle interessanten, zum größten Teile völlig unbekannten und daher
verwertbaren Materials gesammelt. Ich lasse den Mann in seiner Weise alles
erzählen, was er über den Gegenstand weiß, und schreibe mir, was er mir
chinesisch vorträgt, nahezu Wort für Wort deutsch nieder. Auf diese Weise erhalte
ich ein anschauliches und dabei ziemlich vollständiges Bild des chinesischen Lebens,
wie sich's in seinen typischen Erscheinungsformen von der Wiege bis zur Bahre
abspielt. Ich wundere mich, daß keiner vor mir hier in Peking auf diesen doch
recht naheliegenden Gedanken verfallen ist. Es gibt vielleicht kein zweites Volk,
dessen Lebensäußerungen auf allen Daseinsgebieten derart durch zahllose kodi¬
fizierte Vorschriften eingeengt und in feste, unverrückbare Grenzen gezwängt wäre,
wie das chinesische. Daher der marionettenhafte Zug in seiner ganzen Art zu
sein und sich zu geben, daher so oft gänzlicher Mangel wirklicher Individualität
des Einzelnen, während es vielleicht keine zweite, so charakteristisch und scharf
geprägte Volksindividualität gibt, wie gerade die chinesische. Ein solches Volk
soll entweder auf Grund eingehender Kenntnis oder gar nicht beurteilt werden.
Ein Buch wie das Obrutschewsche schadet im ganzen mehr als es nützt, denn
es ist unverantwortlich seicht und oberflächlich belletristisch. Der Mann ist sich
ja nicht einmal über das klar, was er mit eigenen Augen gesehen zu haben
behauptet. Erzählt er doch z. B., daß der schlafende Buddha im Tempel
Wo-fo-sse, den wir neulich auch besucht haben, eine stehende Figur sei, die nur
einfach umgestülpt worden, während sie in recht guter Ausführung den Buddha
in liegender Stellung, auf den rechten Ellbogen gestützt, darstellt. Um das zu
sehen, bedarf es wahrlich keiner Vorstudien!
Mich erinnern die Chinesen in vielen Stücken an die Russen: sie haben
eine außerordentlich rasche Auffassungsgabe, sind dabei unzuverlässig und finden,
ganz wie der russische Bauer, eine brutale Behandlung selbstverständlich und in der
Ordnung; wie die Russen, sind auch sie konsequente Fatalisten, und ihr Ver¬
hältnis zu ihrem Beamtentum bietet auch viele Vergleichspunkte mit den russischen
Zuständen. Was die Unsauberkeit betrifft, so bin ich mir noch nicht ganz klar
darüber, wem die Palme gebührt — ich glaube jedoch den Russen. Wenigstens
sind wir auf unseren bisherigen Ausflügen oft überrascht gewesen, wie ver¬
hältnismäßig sauber die Nachtquartiere doch meist waren. Soweit Unterschiede
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