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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

zwingt, in allen Fällen geistige Minderwertigkeit mit geminderter Zurechnungs¬
fähigkeit gleichzustellen. Die Anerkennung, daß ein Mensch geistig minderwertig
ist, d. h. daß seine Geistestätigkeit im ganzen genommen von geringerem Wert
ist als die eines normalen Menschen seines Kulturkreises, schließt keineswegs in
jedem Fall die Ansicht ein, daß dieser Mensch bei einer Straftat milder zu
bestrafen sei. Allerdings schließt sie diese Ansicht auch nicht immer aus, überläßt
vielmehr die Entscheidung von Fall zu Fall allen einschlägigen Erwägungen.
Die vom Vorentwurf beabsichtigte obligatorische Strafmilderung dagegen ist eine
unabwendbare Folge der Anschauung, daß das Vorhandensein der freien Willens¬
bestimmung Voraussetzung für die Strafbarkeit sei, und daß es eine "verminderte"
freie Willensbestimmung gäbe.

Es ist mir nicht unbekannt, daß auch einzelne Psychiater die obligatorische
Strafmilderung für die geistig Minderwertigen als etwas Selbstverständliches
betrachten. Folgerichtig ist solcher Standpunkt bei einem Deterministen ganz
und gar nicht. Denn der Determinist straft nicht, um zu vergelten, sondern im
wesentlichen, um vorzubeugen und abzuschrecken. Nichts hindert ihn also, bei
gewissen geistig Minderwertigen, bei denen die Strafe als Hemmungsmittel
leichter versagen kann, das Hemmungsmittel wirksamer zu gestalten. Mit anderen
Worten: der Determinist handelt folgerichtig, wenn er solche Menschen härter
bestraft, von denen er weiß, daß sie stärkerer Hemmungen bedürfen, um von
Rechtsverletzungen abgehalten zu werden. Er wird deshalb unter Umständen
für einen geistig minderwertigen Verbrecher, z. B. für einen der Gruppe der
moralisch Depravierten angehörenden, eine härtere Strafe fordern als für den
normalen bei gleicher Straftat. Nur unter Anerkennung der Vergeltungstheorie
kann der Determinist folgerichtig die obligatorische Strafmilderung für die
wünschen, die wegen ihres Geisteszustandes der Möglichkeit, eine Straftat zu
begehen, eher ausgesetzt sind als die Normalen.

Auch der auf indeterministischem Standpunkt stehende Leser wird, wenn er
an die gesellschaftsfeindlichen, moralisch Entarteten unter den geistig Minder¬
wertigen denkt, sich ernster Bedenken gegen die bisher mitgeteilten Bestimmungen
des Vorentwurfs über die strafrechtliche Behandlung der "gemindert Zurechnungs¬
fähigen" nicht erwehren können. Es ist daher wohl der Mühe wert, über eine
andere Fassung der Bestimmungen nachzudenken. Zunächst wäre es wünschens¬
wert, wenn der Begriff der "geminderten Zurechnnngssühigkeit" überhaupt fallen
gelassen würde. Er ist es, der die bedenkliche obligatorische Strafmilderung
zur Folge hat und dabei durchaus entbehrlich ist. Man kann sehr wohl alle
Menschen, die zu der in Aussicht genommenen strafrechtlichen Zwischenstufe
gehören, unter der Bezeichnung "geistig Minderwertige" zusammenfassen. Der
Ausdruck ist einfach und klar verständlich, ohne uns die Hände zu binden, und
ohne Beziehung zu einer bestimmten Weltanschauung.

Was nun die beanstandete Fassung des Z 63, Abs. 2 des Vorentwurfs
betrifft, so liegen selbstverständlich in den bisher veröffentlichten Kritiken schon


Die geistig Minderwertigen

zwingt, in allen Fällen geistige Minderwertigkeit mit geminderter Zurechnungs¬
fähigkeit gleichzustellen. Die Anerkennung, daß ein Mensch geistig minderwertig
ist, d. h. daß seine Geistestätigkeit im ganzen genommen von geringerem Wert
ist als die eines normalen Menschen seines Kulturkreises, schließt keineswegs in
jedem Fall die Ansicht ein, daß dieser Mensch bei einer Straftat milder zu
bestrafen sei. Allerdings schließt sie diese Ansicht auch nicht immer aus, überläßt
vielmehr die Entscheidung von Fall zu Fall allen einschlägigen Erwägungen.
Die vom Vorentwurf beabsichtigte obligatorische Strafmilderung dagegen ist eine
unabwendbare Folge der Anschauung, daß das Vorhandensein der freien Willens¬
bestimmung Voraussetzung für die Strafbarkeit sei, und daß es eine „verminderte"
freie Willensbestimmung gäbe.

Es ist mir nicht unbekannt, daß auch einzelne Psychiater die obligatorische
Strafmilderung für die geistig Minderwertigen als etwas Selbstverständliches
betrachten. Folgerichtig ist solcher Standpunkt bei einem Deterministen ganz
und gar nicht. Denn der Determinist straft nicht, um zu vergelten, sondern im
wesentlichen, um vorzubeugen und abzuschrecken. Nichts hindert ihn also, bei
gewissen geistig Minderwertigen, bei denen die Strafe als Hemmungsmittel
leichter versagen kann, das Hemmungsmittel wirksamer zu gestalten. Mit anderen
Worten: der Determinist handelt folgerichtig, wenn er solche Menschen härter
bestraft, von denen er weiß, daß sie stärkerer Hemmungen bedürfen, um von
Rechtsverletzungen abgehalten zu werden. Er wird deshalb unter Umständen
für einen geistig minderwertigen Verbrecher, z. B. für einen der Gruppe der
moralisch Depravierten angehörenden, eine härtere Strafe fordern als für den
normalen bei gleicher Straftat. Nur unter Anerkennung der Vergeltungstheorie
kann der Determinist folgerichtig die obligatorische Strafmilderung für die
wünschen, die wegen ihres Geisteszustandes der Möglichkeit, eine Straftat zu
begehen, eher ausgesetzt sind als die Normalen.

Auch der auf indeterministischem Standpunkt stehende Leser wird, wenn er
an die gesellschaftsfeindlichen, moralisch Entarteten unter den geistig Minder¬
wertigen denkt, sich ernster Bedenken gegen die bisher mitgeteilten Bestimmungen
des Vorentwurfs über die strafrechtliche Behandlung der „gemindert Zurechnungs¬
fähigen" nicht erwehren können. Es ist daher wohl der Mühe wert, über eine
andere Fassung der Bestimmungen nachzudenken. Zunächst wäre es wünschens¬
wert, wenn der Begriff der „geminderten Zurechnnngssühigkeit" überhaupt fallen
gelassen würde. Er ist es, der die bedenkliche obligatorische Strafmilderung
zur Folge hat und dabei durchaus entbehrlich ist. Man kann sehr wohl alle
Menschen, die zu der in Aussicht genommenen strafrechtlichen Zwischenstufe
gehören, unter der Bezeichnung „geistig Minderwertige" zusammenfassen. Der
Ausdruck ist einfach und klar verständlich, ohne uns die Hände zu binden, und
ohne Beziehung zu einer bestimmten Weltanschauung.

Was nun die beanstandete Fassung des Z 63, Abs. 2 des Vorentwurfs
betrifft, so liegen selbstverständlich in den bisher veröffentlichten Kritiken schon


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[0031] Die geistig Minderwertigen zwingt, in allen Fällen geistige Minderwertigkeit mit geminderter Zurechnungs¬ fähigkeit gleichzustellen. Die Anerkennung, daß ein Mensch geistig minderwertig ist, d. h. daß seine Geistestätigkeit im ganzen genommen von geringerem Wert ist als die eines normalen Menschen seines Kulturkreises, schließt keineswegs in jedem Fall die Ansicht ein, daß dieser Mensch bei einer Straftat milder zu bestrafen sei. Allerdings schließt sie diese Ansicht auch nicht immer aus, überläßt vielmehr die Entscheidung von Fall zu Fall allen einschlägigen Erwägungen. Die vom Vorentwurf beabsichtigte obligatorische Strafmilderung dagegen ist eine unabwendbare Folge der Anschauung, daß das Vorhandensein der freien Willens¬ bestimmung Voraussetzung für die Strafbarkeit sei, und daß es eine „verminderte" freie Willensbestimmung gäbe. Es ist mir nicht unbekannt, daß auch einzelne Psychiater die obligatorische Strafmilderung für die geistig Minderwertigen als etwas Selbstverständliches betrachten. Folgerichtig ist solcher Standpunkt bei einem Deterministen ganz und gar nicht. Denn der Determinist straft nicht, um zu vergelten, sondern im wesentlichen, um vorzubeugen und abzuschrecken. Nichts hindert ihn also, bei gewissen geistig Minderwertigen, bei denen die Strafe als Hemmungsmittel leichter versagen kann, das Hemmungsmittel wirksamer zu gestalten. Mit anderen Worten: der Determinist handelt folgerichtig, wenn er solche Menschen härter bestraft, von denen er weiß, daß sie stärkerer Hemmungen bedürfen, um von Rechtsverletzungen abgehalten zu werden. Er wird deshalb unter Umständen für einen geistig minderwertigen Verbrecher, z. B. für einen der Gruppe der moralisch Depravierten angehörenden, eine härtere Strafe fordern als für den normalen bei gleicher Straftat. Nur unter Anerkennung der Vergeltungstheorie kann der Determinist folgerichtig die obligatorische Strafmilderung für die wünschen, die wegen ihres Geisteszustandes der Möglichkeit, eine Straftat zu begehen, eher ausgesetzt sind als die Normalen. Auch der auf indeterministischem Standpunkt stehende Leser wird, wenn er an die gesellschaftsfeindlichen, moralisch Entarteten unter den geistig Minder¬ wertigen denkt, sich ernster Bedenken gegen die bisher mitgeteilten Bestimmungen des Vorentwurfs über die strafrechtliche Behandlung der „gemindert Zurechnungs¬ fähigen" nicht erwehren können. Es ist daher wohl der Mühe wert, über eine andere Fassung der Bestimmungen nachzudenken. Zunächst wäre es wünschens¬ wert, wenn der Begriff der „geminderten Zurechnnngssühigkeit" überhaupt fallen gelassen würde. Er ist es, der die bedenkliche obligatorische Strafmilderung zur Folge hat und dabei durchaus entbehrlich ist. Man kann sehr wohl alle Menschen, die zu der in Aussicht genommenen strafrechtlichen Zwischenstufe gehören, unter der Bezeichnung „geistig Minderwertige" zusammenfassen. Der Ausdruck ist einfach und klar verständlich, ohne uns die Hände zu binden, und ohne Beziehung zu einer bestimmten Weltanschauung. Was nun die beanstandete Fassung des Z 63, Abs. 2 des Vorentwurfs betrifft, so liegen selbstverständlich in den bisher veröffentlichten Kritiken schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/31>, abgerufen am 23.07.2024.