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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

Verbesserungsvorschläge vor. Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, sei der
Wortlaut des Vorentwurfs, der oben nur teilweise wiedergegeben wurde, noch¬
mals und vollständig angeführt. Nachdem im Abs. 1 des ß 63 bestimmt ist:
"Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder
bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
wurde", lautet der Abs. 2: "War die freie Willensbestimmung durch einen der
vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade ver¬
mindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch
(H 76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon aus¬
genommen." -- Ganz abgesehen von unseren bisherigen Aussetzungen an dieser
Fassung, die zum Teil schon durch unsere Kritik an dem zugrunde liegenden
Abs. 1 bedingt waren, ist sie schon deshalb nicht annehmbar, weil sie die in
Betracht kommenden Individuen nicht richtig kennzeichnet. Wenn nämlich das,
was die Indeterminismen freie Willensbestimmung nennen, durch "einen der
vorbezeichneten Zustände", d. h. (s. Abs. 1) durch Geisteskrankheit, Blödsinn oder
Bewußtlosigkeit in hohem Grade vermindert ist, so liegt doch auch ein "hoher
Grad" von Geisteskrankheit, Blödsinn oder Bewußtlosigkeit vor, also ein Zustand,
der straflos macht. Die Fassung des Vorentwurfs kennzeichnet also gar nicht
die, die gekennzeichnet werden sollen. Sie würde zweifellos Verwirrung stiften,
und die Befürchtung derer, die da meinen, sie würde es dem Richter ermöglichen,
über das Gutachten des Sachverständigen hinweg Unzurechnungsfähigkeit zu
statuieren, wo nur geistige Minderwertigkeit vorliegt, oder umgekehrt auch bei
ausgesprochen Geisteskranken lediglich einen hohen Grad von Verminderung der
sogenannten freien Willensbestimmung anzunehmen, ist vielleicht nicht ganz un¬
begründet. Wird der Abs. 2 des Vorentwurfs in seiner jetzigen Fassung Gesetz,
so werden wir das Schauspiel erleben, daß Richter und Sachverständige über
hochgradige Verminderung oder Ausgeschlossensein der freien Willensbestimmung
uneinig sind, wobei die Aufgabe des Sachverständigen dadurch unendlich erschwert
wird, daß er sich über hochgradige Verminderung oder Nichtvorhandensein eines
Dings äußern soll, an das er ja überhaupt nicht glaubt. Er könnte von seinem
Standpunkt durchaus folgerichtig stets behaupten, daß die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war, und er muß sich immer gleichsam auf ein ganz anderes
Niveau begeben, um mit dem Begriff der freien Willensbestimmung gemäß den
Anforderungen der Praxis zu arbeiten.

Wir haben also eine Menge von triftigen Gründen, die eine andere Fassung
des Abs. 2 Z 63 wünschenswert erscheinen lassen.

Die Psychiater haben sich zum Teil für eine Anlehnung an den entsprechenden
Paragraphen des österreichischen Vorentwurfs ausgesprochen, der mit der von
Aschaffenburg (für die Kennzeichnung der Straflosigkeit bedingenden Zustände)
vorgeschlagenen Änderung lauten würde: "War die Fähigkeit des Täters, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln, zur Zeit
der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert,,


Die geistig Minderwertigen

Verbesserungsvorschläge vor. Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, sei der
Wortlaut des Vorentwurfs, der oben nur teilweise wiedergegeben wurde, noch¬
mals und vollständig angeführt. Nachdem im Abs. 1 des ß 63 bestimmt ist:
„Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder
bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
wurde", lautet der Abs. 2: „War die freie Willensbestimmung durch einen der
vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade ver¬
mindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch
(H 76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon aus¬
genommen." — Ganz abgesehen von unseren bisherigen Aussetzungen an dieser
Fassung, die zum Teil schon durch unsere Kritik an dem zugrunde liegenden
Abs. 1 bedingt waren, ist sie schon deshalb nicht annehmbar, weil sie die in
Betracht kommenden Individuen nicht richtig kennzeichnet. Wenn nämlich das,
was die Indeterminismen freie Willensbestimmung nennen, durch „einen der
vorbezeichneten Zustände", d. h. (s. Abs. 1) durch Geisteskrankheit, Blödsinn oder
Bewußtlosigkeit in hohem Grade vermindert ist, so liegt doch auch ein „hoher
Grad" von Geisteskrankheit, Blödsinn oder Bewußtlosigkeit vor, also ein Zustand,
der straflos macht. Die Fassung des Vorentwurfs kennzeichnet also gar nicht
die, die gekennzeichnet werden sollen. Sie würde zweifellos Verwirrung stiften,
und die Befürchtung derer, die da meinen, sie würde es dem Richter ermöglichen,
über das Gutachten des Sachverständigen hinweg Unzurechnungsfähigkeit zu
statuieren, wo nur geistige Minderwertigkeit vorliegt, oder umgekehrt auch bei
ausgesprochen Geisteskranken lediglich einen hohen Grad von Verminderung der
sogenannten freien Willensbestimmung anzunehmen, ist vielleicht nicht ganz un¬
begründet. Wird der Abs. 2 des Vorentwurfs in seiner jetzigen Fassung Gesetz,
so werden wir das Schauspiel erleben, daß Richter und Sachverständige über
hochgradige Verminderung oder Ausgeschlossensein der freien Willensbestimmung
uneinig sind, wobei die Aufgabe des Sachverständigen dadurch unendlich erschwert
wird, daß er sich über hochgradige Verminderung oder Nichtvorhandensein eines
Dings äußern soll, an das er ja überhaupt nicht glaubt. Er könnte von seinem
Standpunkt durchaus folgerichtig stets behaupten, daß die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war, und er muß sich immer gleichsam auf ein ganz anderes
Niveau begeben, um mit dem Begriff der freien Willensbestimmung gemäß den
Anforderungen der Praxis zu arbeiten.

Wir haben also eine Menge von triftigen Gründen, die eine andere Fassung
des Abs. 2 Z 63 wünschenswert erscheinen lassen.

Die Psychiater haben sich zum Teil für eine Anlehnung an den entsprechenden
Paragraphen des österreichischen Vorentwurfs ausgesprochen, der mit der von
Aschaffenburg (für die Kennzeichnung der Straflosigkeit bedingenden Zustände)
vorgeschlagenen Änderung lauten würde: „War die Fähigkeit des Täters, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln, zur Zeit
der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert,,


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[0032] Die geistig Minderwertigen Verbesserungsvorschläge vor. Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, sei der Wortlaut des Vorentwurfs, der oben nur teilweise wiedergegeben wurde, noch¬ mals und vollständig angeführt. Nachdem im Abs. 1 des ß 63 bestimmt ist: „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde", lautet der Abs. 2: „War die freie Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade ver¬ mindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch (H 76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon aus¬ genommen." — Ganz abgesehen von unseren bisherigen Aussetzungen an dieser Fassung, die zum Teil schon durch unsere Kritik an dem zugrunde liegenden Abs. 1 bedingt waren, ist sie schon deshalb nicht annehmbar, weil sie die in Betracht kommenden Individuen nicht richtig kennzeichnet. Wenn nämlich das, was die Indeterminismen freie Willensbestimmung nennen, durch „einen der vorbezeichneten Zustände", d. h. (s. Abs. 1) durch Geisteskrankheit, Blödsinn oder Bewußtlosigkeit in hohem Grade vermindert ist, so liegt doch auch ein „hoher Grad" von Geisteskrankheit, Blödsinn oder Bewußtlosigkeit vor, also ein Zustand, der straflos macht. Die Fassung des Vorentwurfs kennzeichnet also gar nicht die, die gekennzeichnet werden sollen. Sie würde zweifellos Verwirrung stiften, und die Befürchtung derer, die da meinen, sie würde es dem Richter ermöglichen, über das Gutachten des Sachverständigen hinweg Unzurechnungsfähigkeit zu statuieren, wo nur geistige Minderwertigkeit vorliegt, oder umgekehrt auch bei ausgesprochen Geisteskranken lediglich einen hohen Grad von Verminderung der sogenannten freien Willensbestimmung anzunehmen, ist vielleicht nicht ganz un¬ begründet. Wird der Abs. 2 des Vorentwurfs in seiner jetzigen Fassung Gesetz, so werden wir das Schauspiel erleben, daß Richter und Sachverständige über hochgradige Verminderung oder Ausgeschlossensein der freien Willensbestimmung uneinig sind, wobei die Aufgabe des Sachverständigen dadurch unendlich erschwert wird, daß er sich über hochgradige Verminderung oder Nichtvorhandensein eines Dings äußern soll, an das er ja überhaupt nicht glaubt. Er könnte von seinem Standpunkt durchaus folgerichtig stets behaupten, daß die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, und er muß sich immer gleichsam auf ein ganz anderes Niveau begeben, um mit dem Begriff der freien Willensbestimmung gemäß den Anforderungen der Praxis zu arbeiten. Wir haben also eine Menge von triftigen Gründen, die eine andere Fassung des Abs. 2 Z 63 wünschenswert erscheinen lassen. Die Psychiater haben sich zum Teil für eine Anlehnung an den entsprechenden Paragraphen des österreichischen Vorentwurfs ausgesprochen, der mit der von Aschaffenburg (für die Kennzeichnung der Straflosigkeit bedingenden Zustände) vorgeschlagenen Änderung lauten würde: „War die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln, zur Zeit der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert,,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/32>, abgerufen am 23.07.2024.