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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Wilhelm Meister

Ein guter Mensch, in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges Wohl bewußt --

und dasWortShakespeares: Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin es geht!

Es scheint, als ob die Zeit vorüber sei, wo man in keiner "gebildeten"
Gesellschaft sein konnte, ohne einige Male das Wort Weltanschauung hören zu
müssen, und wo man kein würdiges Mitglied dieser Gesellschaft war, wenn man
sich nicht auf eine der vielen, natürlich modemen Weltanschauungen hatte fest¬
legen lassen. Zwar einige Bildungsfanatiker spuken wohl noch, und es klingt
uns noch die Forderung in den Ohren, man müsse sich die Weltanschauung des
Monismus aneignen, wenn man nicht zu den Dummköpfen, Heuchlern und
Finsterlingen gezählt werden wolle. Heute tritt "die Forderung des Tages"
wieder an uns heran, und das Leben ruft uns in die Schranken. Da können
und wollen wir uns nicht von einer Lehrmeinung gefangen nehmen lassen, käme
sie nun von Rom oder von -- Jena. Wir wollen das tausendfältige Leben
nicht in irgend eine Schablone pressen lassen, und würden uns die schulmeister¬
lichen Methoden noch so eindringlich gepriesen.

Das aber ist auch Wilhelm Meisters Meinung, und selbst da zeigt sie sich,
wo Goethe seine Erziehungsmethode" niederlegt in jener Schilderung der
Erziehungsanstalt, in der der junge Felix, -- der Glückliche! -- Aufnahme
findet: Nur nicht schablonisieren! nur nicht irgend einen Weg als den einzigen
durch das Leben gelten lassen!

Es scheint geboten darauf hinzuweisen, daß die Kunstform des Romans
ein vortreffliches Hilfsmittel sei, uns die Lehren und Weisungen zu geben, die
uns Führer und Lebensbegleiter sein sollen. Dabei freilich sei gleich ausdrücklich
bemerkt, daß wir in dieser Darstellung die Bibel durchaus beiseite lassen müssen,
die ja allerdings im höchsten Sinne nicht dogmatisierend, sondern praktisch unsere
Lehrmeisterin sein könnte. In Erwägung des Prophetenwortes: Aber wer glaubt
unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar? und obgleich
auch Goethe gelegentlich die Bibel das beste Volksbuch genannt hat, würde man
leicht auf unüberwindliches Mißtrauen stoßen, wenn man sie modernen Menschen
gegenüber als ein Erziehungs- und Lebensbuch empfehlen wollte. Im Roman
wird uns das mannigfaltig sich gestaltende Leben in immer neu variierenden
Formen und Bildungen vor die Augen gerückt, und es bedarf nur des klaren
Blickes eines Künstlers, der gerechten Beurteilung eines guten Menschen (gut
im Goethescher Sinne), der Lebenserfahrung einer charakterfester Persönlichkeit,
daß die Schöpfungen einer Romanwelt uns etwas sagen und unsere Meister
sein können, indem sie unsern: Charakter einen stets sich erneuernden Halt und
unseren Neigungen nicht zwar einen endgültigen Abschluß, aber eine feste
Richtung geben.

Wilhelm Meister ist eine solche Schöpfung. Und zumal in der neuesten
Zeit, die uns weniger Weltanschauungsfragen als Kulturforderungen vorlegt,
mag er deutlich zu uns reden.


Grenzboten IV 1911 35
Goethes Wilhelm Meister

Ein guter Mensch, in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges Wohl bewußt —

und dasWortShakespeares: Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin es geht!

Es scheint, als ob die Zeit vorüber sei, wo man in keiner „gebildeten"
Gesellschaft sein konnte, ohne einige Male das Wort Weltanschauung hören zu
müssen, und wo man kein würdiges Mitglied dieser Gesellschaft war, wenn man
sich nicht auf eine der vielen, natürlich modemen Weltanschauungen hatte fest¬
legen lassen. Zwar einige Bildungsfanatiker spuken wohl noch, und es klingt
uns noch die Forderung in den Ohren, man müsse sich die Weltanschauung des
Monismus aneignen, wenn man nicht zu den Dummköpfen, Heuchlern und
Finsterlingen gezählt werden wolle. Heute tritt „die Forderung des Tages"
wieder an uns heran, und das Leben ruft uns in die Schranken. Da können
und wollen wir uns nicht von einer Lehrmeinung gefangen nehmen lassen, käme
sie nun von Rom oder von — Jena. Wir wollen das tausendfältige Leben
nicht in irgend eine Schablone pressen lassen, und würden uns die schulmeister¬
lichen Methoden noch so eindringlich gepriesen.

Das aber ist auch Wilhelm Meisters Meinung, und selbst da zeigt sie sich,
wo Goethe seine Erziehungsmethode" niederlegt in jener Schilderung der
Erziehungsanstalt, in der der junge Felix, — der Glückliche! — Aufnahme
findet: Nur nicht schablonisieren! nur nicht irgend einen Weg als den einzigen
durch das Leben gelten lassen!

Es scheint geboten darauf hinzuweisen, daß die Kunstform des Romans
ein vortreffliches Hilfsmittel sei, uns die Lehren und Weisungen zu geben, die
uns Führer und Lebensbegleiter sein sollen. Dabei freilich sei gleich ausdrücklich
bemerkt, daß wir in dieser Darstellung die Bibel durchaus beiseite lassen müssen,
die ja allerdings im höchsten Sinne nicht dogmatisierend, sondern praktisch unsere
Lehrmeisterin sein könnte. In Erwägung des Prophetenwortes: Aber wer glaubt
unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar? und obgleich
auch Goethe gelegentlich die Bibel das beste Volksbuch genannt hat, würde man
leicht auf unüberwindliches Mißtrauen stoßen, wenn man sie modernen Menschen
gegenüber als ein Erziehungs- und Lebensbuch empfehlen wollte. Im Roman
wird uns das mannigfaltig sich gestaltende Leben in immer neu variierenden
Formen und Bildungen vor die Augen gerückt, und es bedarf nur des klaren
Blickes eines Künstlers, der gerechten Beurteilung eines guten Menschen (gut
im Goethescher Sinne), der Lebenserfahrung einer charakterfester Persönlichkeit,
daß die Schöpfungen einer Romanwelt uns etwas sagen und unsere Meister
sein können, indem sie unsern: Charakter einen stets sich erneuernden Halt und
unseren Neigungen nicht zwar einen endgültigen Abschluß, aber eine feste
Richtung geben.

Wilhelm Meister ist eine solche Schöpfung. Und zumal in der neuesten
Zeit, die uns weniger Weltanschauungsfragen als Kulturforderungen vorlegt,
mag er deutlich zu uns reden.


Grenzboten IV 1911 35
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[0285] Goethes Wilhelm Meister Ein guter Mensch, in seinem dunkeln Drange, Ist sich des rechten Weges Wohl bewußt — und dasWortShakespeares: Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin es geht! Es scheint, als ob die Zeit vorüber sei, wo man in keiner „gebildeten" Gesellschaft sein konnte, ohne einige Male das Wort Weltanschauung hören zu müssen, und wo man kein würdiges Mitglied dieser Gesellschaft war, wenn man sich nicht auf eine der vielen, natürlich modemen Weltanschauungen hatte fest¬ legen lassen. Zwar einige Bildungsfanatiker spuken wohl noch, und es klingt uns noch die Forderung in den Ohren, man müsse sich die Weltanschauung des Monismus aneignen, wenn man nicht zu den Dummköpfen, Heuchlern und Finsterlingen gezählt werden wolle. Heute tritt „die Forderung des Tages" wieder an uns heran, und das Leben ruft uns in die Schranken. Da können und wollen wir uns nicht von einer Lehrmeinung gefangen nehmen lassen, käme sie nun von Rom oder von — Jena. Wir wollen das tausendfältige Leben nicht in irgend eine Schablone pressen lassen, und würden uns die schulmeister¬ lichen Methoden noch so eindringlich gepriesen. Das aber ist auch Wilhelm Meisters Meinung, und selbst da zeigt sie sich, wo Goethe seine Erziehungsmethode" niederlegt in jener Schilderung der Erziehungsanstalt, in der der junge Felix, — der Glückliche! — Aufnahme findet: Nur nicht schablonisieren! nur nicht irgend einen Weg als den einzigen durch das Leben gelten lassen! Es scheint geboten darauf hinzuweisen, daß die Kunstform des Romans ein vortreffliches Hilfsmittel sei, uns die Lehren und Weisungen zu geben, die uns Führer und Lebensbegleiter sein sollen. Dabei freilich sei gleich ausdrücklich bemerkt, daß wir in dieser Darstellung die Bibel durchaus beiseite lassen müssen, die ja allerdings im höchsten Sinne nicht dogmatisierend, sondern praktisch unsere Lehrmeisterin sein könnte. In Erwägung des Prophetenwortes: Aber wer glaubt unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar? und obgleich auch Goethe gelegentlich die Bibel das beste Volksbuch genannt hat, würde man leicht auf unüberwindliches Mißtrauen stoßen, wenn man sie modernen Menschen gegenüber als ein Erziehungs- und Lebensbuch empfehlen wollte. Im Roman wird uns das mannigfaltig sich gestaltende Leben in immer neu variierenden Formen und Bildungen vor die Augen gerückt, und es bedarf nur des klaren Blickes eines Künstlers, der gerechten Beurteilung eines guten Menschen (gut im Goethescher Sinne), der Lebenserfahrung einer charakterfester Persönlichkeit, daß die Schöpfungen einer Romanwelt uns etwas sagen und unsere Meister sein können, indem sie unsern: Charakter einen stets sich erneuernden Halt und unseren Neigungen nicht zwar einen endgültigen Abschluß, aber eine feste Richtung geben. Wilhelm Meister ist eine solche Schöpfung. Und zumal in der neuesten Zeit, die uns weniger Weltanschauungsfragen als Kulturforderungen vorlegt, mag er deutlich zu uns reden. Grenzboten IV 1911 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/285>, abgerufen am 28.09.2024.