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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Wilhelm Meister

sich so natürlich, wie nur immer ein Goethe sie sich bewegen lassen kann. Sie
lieben und hassen ehrlich, wie nur immer rechte Menschen tun können. Sie
kokettieren allerdings nicht mit demokratischen Grundsätzen, denn überzeugtere
Anhänger des Aristokratismus kann es nicht geben. Und doch halten sie es
nicht unter ihrer Würde, recht menschlich vertraulich mit dem Volk zu verkehren,
von einem Barbier sich Märchen erzählen zu lassen und bei Garnspinnern und
Webern, sogar frommen Webern, in deren Hausindustrie sich zu unterrichten.
Der aristokratischste aller Aristokraten, Jarno, heiratet sogar ein einfaches, von dem
Geliebten verlassenes Mädchen, und fühlt sich, wie es scheint, ganz wohl dabei.

Was die äußere Kultur betrifft, so ist die Kleidung, die jene Herren und
Damen tragen, vornehm genug, und in ihr könnten sie eine recht gute Figur
machen auch in unserer Zeit. Gelegentlich ist auch die Rede von wertvollen
Schmuck, von vortrefflichen Kunstgegenständen und mancherlei angenehmen
Dingen, die zum Leben gerade nicht notwendig sind, die aber das Leben recht
verschönern können.

Es fragt sich, ob ein Romanschriftsteller, der sich mit den Gesellschafts¬
menschen unserer Zeit herumplagen muß, um sie in den Rahmen seiner Fabel
zu zwingen, nach hundert Jahren noch so jugendfrisch und ursprünglich auf die
späten Enkel wirken wird, wie Goethe noch heute auf uns, selbst wenn er mit
einem so lebendigen Stil zu uns redete wie Goethe. Denn heute fehlen die
originellen Originale der Goethescher Zeit. Man findet die "persönliche Note"
der Menschen nicht mehr so in ihrer Ausdrücklichkeit wie damals. Die Per¬
sönlichkeit ist unter der langweilig tyrannischen Herrschaft technischer und
mechanistischer Weltanschauungspfaffen fast zugrunde gegangen. Wo aber Per¬
sönlichkeit ist, da ist Leben und da ist das wahrhaft Moderne, trotz Monismus,
trotz Sozialismus, trotz der Fixigkeit der Massenmenschen unserer Zeit, die als
Räder und Räderchen im Getriebe nur einen Kreislauf, nur einen Gedanken
kennen.

Wilhelm Meisters Persönlichkeit offenbart sich darin, daß er trotz seines
bezeichnenden Namens nie fertig ist und nie eine vollendete Meisterschaft erringt.
Er steht gerade hier im ausgesprochenen Gegensatz zu vielen Menschen unserer
Zeit und zur allgemeinen oberflächlichen Ansicht vieler Zeitgenossen. Goethe
hat eben das als Meisterschaft bezeichnen wollen, daß man stets lebendig bleibe
und in der Entwicklung stehe, daß man immer wachse, organisch, regelmäßig,
stetig, nicht wie ein Musterknabe, der emporschießt. Goethe selbst war solch ein
Wachsender bis in sein höchstes Greisenalter. Und das soll's sein: in den
Lebensformen und im Gestalten kein Stillstand, kein fertiges Meistertum, aber
die immer sich erneuernden Früchte sind die Meisterschaften und die Meister¬
werke. Das sollte uns eine Lebensweisung sein in unserer selbstbewußten, stets
auf Erfolge und fertige Resultate pochenden Zeit. Glücklich ist der zu nennen,
den die verdammte Nützlichkeitsmoral noch nicht so verwirrt hat, daß er noch
das Faustwort versteht:


Goethes Wilhelm Meister

sich so natürlich, wie nur immer ein Goethe sie sich bewegen lassen kann. Sie
lieben und hassen ehrlich, wie nur immer rechte Menschen tun können. Sie
kokettieren allerdings nicht mit demokratischen Grundsätzen, denn überzeugtere
Anhänger des Aristokratismus kann es nicht geben. Und doch halten sie es
nicht unter ihrer Würde, recht menschlich vertraulich mit dem Volk zu verkehren,
von einem Barbier sich Märchen erzählen zu lassen und bei Garnspinnern und
Webern, sogar frommen Webern, in deren Hausindustrie sich zu unterrichten.
Der aristokratischste aller Aristokraten, Jarno, heiratet sogar ein einfaches, von dem
Geliebten verlassenes Mädchen, und fühlt sich, wie es scheint, ganz wohl dabei.

Was die äußere Kultur betrifft, so ist die Kleidung, die jene Herren und
Damen tragen, vornehm genug, und in ihr könnten sie eine recht gute Figur
machen auch in unserer Zeit. Gelegentlich ist auch die Rede von wertvollen
Schmuck, von vortrefflichen Kunstgegenständen und mancherlei angenehmen
Dingen, die zum Leben gerade nicht notwendig sind, die aber das Leben recht
verschönern können.

Es fragt sich, ob ein Romanschriftsteller, der sich mit den Gesellschafts¬
menschen unserer Zeit herumplagen muß, um sie in den Rahmen seiner Fabel
zu zwingen, nach hundert Jahren noch so jugendfrisch und ursprünglich auf die
späten Enkel wirken wird, wie Goethe noch heute auf uns, selbst wenn er mit
einem so lebendigen Stil zu uns redete wie Goethe. Denn heute fehlen die
originellen Originale der Goethescher Zeit. Man findet die „persönliche Note"
der Menschen nicht mehr so in ihrer Ausdrücklichkeit wie damals. Die Per¬
sönlichkeit ist unter der langweilig tyrannischen Herrschaft technischer und
mechanistischer Weltanschauungspfaffen fast zugrunde gegangen. Wo aber Per¬
sönlichkeit ist, da ist Leben und da ist das wahrhaft Moderne, trotz Monismus,
trotz Sozialismus, trotz der Fixigkeit der Massenmenschen unserer Zeit, die als
Räder und Räderchen im Getriebe nur einen Kreislauf, nur einen Gedanken
kennen.

Wilhelm Meisters Persönlichkeit offenbart sich darin, daß er trotz seines
bezeichnenden Namens nie fertig ist und nie eine vollendete Meisterschaft erringt.
Er steht gerade hier im ausgesprochenen Gegensatz zu vielen Menschen unserer
Zeit und zur allgemeinen oberflächlichen Ansicht vieler Zeitgenossen. Goethe
hat eben das als Meisterschaft bezeichnen wollen, daß man stets lebendig bleibe
und in der Entwicklung stehe, daß man immer wachse, organisch, regelmäßig,
stetig, nicht wie ein Musterknabe, der emporschießt. Goethe selbst war solch ein
Wachsender bis in sein höchstes Greisenalter. Und das soll's sein: in den
Lebensformen und im Gestalten kein Stillstand, kein fertiges Meistertum, aber
die immer sich erneuernden Früchte sind die Meisterschaften und die Meister¬
werke. Das sollte uns eine Lebensweisung sein in unserer selbstbewußten, stets
auf Erfolge und fertige Resultate pochenden Zeit. Glücklich ist der zu nennen,
den die verdammte Nützlichkeitsmoral noch nicht so verwirrt hat, daß er noch
das Faustwort versteht:


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[0284] Goethes Wilhelm Meister sich so natürlich, wie nur immer ein Goethe sie sich bewegen lassen kann. Sie lieben und hassen ehrlich, wie nur immer rechte Menschen tun können. Sie kokettieren allerdings nicht mit demokratischen Grundsätzen, denn überzeugtere Anhänger des Aristokratismus kann es nicht geben. Und doch halten sie es nicht unter ihrer Würde, recht menschlich vertraulich mit dem Volk zu verkehren, von einem Barbier sich Märchen erzählen zu lassen und bei Garnspinnern und Webern, sogar frommen Webern, in deren Hausindustrie sich zu unterrichten. Der aristokratischste aller Aristokraten, Jarno, heiratet sogar ein einfaches, von dem Geliebten verlassenes Mädchen, und fühlt sich, wie es scheint, ganz wohl dabei. Was die äußere Kultur betrifft, so ist die Kleidung, die jene Herren und Damen tragen, vornehm genug, und in ihr könnten sie eine recht gute Figur machen auch in unserer Zeit. Gelegentlich ist auch die Rede von wertvollen Schmuck, von vortrefflichen Kunstgegenständen und mancherlei angenehmen Dingen, die zum Leben gerade nicht notwendig sind, die aber das Leben recht verschönern können. Es fragt sich, ob ein Romanschriftsteller, der sich mit den Gesellschafts¬ menschen unserer Zeit herumplagen muß, um sie in den Rahmen seiner Fabel zu zwingen, nach hundert Jahren noch so jugendfrisch und ursprünglich auf die späten Enkel wirken wird, wie Goethe noch heute auf uns, selbst wenn er mit einem so lebendigen Stil zu uns redete wie Goethe. Denn heute fehlen die originellen Originale der Goethescher Zeit. Man findet die „persönliche Note" der Menschen nicht mehr so in ihrer Ausdrücklichkeit wie damals. Die Per¬ sönlichkeit ist unter der langweilig tyrannischen Herrschaft technischer und mechanistischer Weltanschauungspfaffen fast zugrunde gegangen. Wo aber Per¬ sönlichkeit ist, da ist Leben und da ist das wahrhaft Moderne, trotz Monismus, trotz Sozialismus, trotz der Fixigkeit der Massenmenschen unserer Zeit, die als Räder und Räderchen im Getriebe nur einen Kreislauf, nur einen Gedanken kennen. Wilhelm Meisters Persönlichkeit offenbart sich darin, daß er trotz seines bezeichnenden Namens nie fertig ist und nie eine vollendete Meisterschaft erringt. Er steht gerade hier im ausgesprochenen Gegensatz zu vielen Menschen unserer Zeit und zur allgemeinen oberflächlichen Ansicht vieler Zeitgenossen. Goethe hat eben das als Meisterschaft bezeichnen wollen, daß man stets lebendig bleibe und in der Entwicklung stehe, daß man immer wachse, organisch, regelmäßig, stetig, nicht wie ein Musterknabe, der emporschießt. Goethe selbst war solch ein Wachsender bis in sein höchstes Greisenalter. Und das soll's sein: in den Lebensformen und im Gestalten kein Stillstand, kein fertiges Meistertum, aber die immer sich erneuernden Früchte sind die Meisterschaften und die Meister¬ werke. Das sollte uns eine Lebensweisung sein in unserer selbstbewußten, stets auf Erfolge und fertige Resultate pochenden Zeit. Glücklich ist der zu nennen, den die verdammte Nützlichkeitsmoral noch nicht so verwirrt hat, daß er noch das Faustwort versteht:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/284>, abgerufen am 03.07.2024.