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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Wilhelm Meister

Da ist seine reine Menschlichkeit. Nicht überwachsen und überrankt ist sie
von Vorurteilen und Bedenklichkeiten und Äugstlichkeiten kurzsichtiger Menschen,
welchen Ständen und Kasten sie auch angehören mögen. Die Gestalten des
Romans bewegen sich und handeln nach menschlich reinen und klaren Grund¬
sätzen, Vorlieben und Widerwillen und nicht wie ein verzerrter Kulturzustand
es vorschreibt. An jenen vornehmen Herren und Damen, in deren Kreis
Wilhelm Meister sich hineinlebt, haben wir das bereits gesehen. Und Wilhelm
Meister selbst! In seiner Knabenzeit schon flößt ihm, dem Sohn wohlhabender
Bürgersleute, zuerst ein armer Fischerknabe freundschaftliche, liebevolle Gefühle
ein. Weiterhin lebt er vorurteilslos und ohne Bedenken mit "unmöglichen"
Menschen, mit einem Harfenspieler und einem Gauklerkinde, unmöglich trotz
ihres wahrhaft adligen Wesens und ihrer adligen Abstammung, die sich schlie߬
lich herausstellt. Man muß sich nur klar machen, wie gerade ein Parvenu
ängstlich jeden Schein und jede Berührung mit der Plebs meidet, um nur ja
nicht sich bei den Vornehmen verächtlich und unmöglich zu machen, und dann wird
man die ganze Größe seiner Vorurteilslosigkeit erkennen, ebenso aber auch die
wahre Vornehmheit jener Grafen und Barone, die ihn trotzdem, ja gerade des¬
wegen hochachten und in ihre Kreise aufnehmen.

Es scheint, daß Wilhelm Meister uns gerade in dieser Beziehung recht viel
zu sagen hätte. Das gegenseitige Abschließen der Stände voreinander, die hoch¬
mütige Nichtachtung des Lebens anderer Kreise ist in unserer Zeit nachgerade
eine Gefahr geworden, die unsern gesellschaftlichen Bestand auss schwerste
bedroht. Und nicht das Anwachsen der "roten Flut", die "Begehrlichkeit der
großen Masse", die "verderblichen Lehren einer vaterlandslosen Sozialdemokratie",
und wie alle die schönen Schlagworte lauten mögen, stören den Frieden im
Innern so sehr wie jenes unnatürliche hochmütige Abschließen der höheren
Stände vor dem Volk. Als ob es eine Schande wäre, wenn jemand den
arbeitenden und erwerbenden Ständen angehört, als ob man eine schlimme
Beleidigung sage, wenn man dem handgeschickten, aber weniger intellektuell
begabten Sohn eines Regierungsrates den Rat gebe, er möge doch Handwerker
oder Gärtner werden! Diese einseitige Anschauung ist freilich auch in anderen
Kreisen, insbesondere auch dort zu beobachten, wo man gern "nach oben" und
vorwärts strebt und wo man auf sich etwas hält.

Ist es etwa verächtlich, wenn ein Beamter in der Öffentlichkeit mit einem
Arbeiter in längerem Gespräch verweilt? Kann man nicht Meister bleiben
und nach oben wie nach unten ein angesehener und selbständiger Charakter und
nützlicher Lebensgefährte seines Kreises sein, wenn man Mensch unter Menschen
ist, ob diese nun einen groben Arbeiterrock oder einen seidengefütterten Frack
tragen sollten? Das ist's aber: eine Sozialaristokratie tut uns not, und wenn sie
eine Macht geworden ist, wird die Gefahr der Sozialdemokratie verschwunden sein.

Was Goethes Wilhelm Meister uns nach der Seite des religiösen Lebens
hin zu sagen hat, ist nicht minder beherzigenswert. Hier freilich möchte aus


Goethes Wilhelm Meister

Da ist seine reine Menschlichkeit. Nicht überwachsen und überrankt ist sie
von Vorurteilen und Bedenklichkeiten und Äugstlichkeiten kurzsichtiger Menschen,
welchen Ständen und Kasten sie auch angehören mögen. Die Gestalten des
Romans bewegen sich und handeln nach menschlich reinen und klaren Grund¬
sätzen, Vorlieben und Widerwillen und nicht wie ein verzerrter Kulturzustand
es vorschreibt. An jenen vornehmen Herren und Damen, in deren Kreis
Wilhelm Meister sich hineinlebt, haben wir das bereits gesehen. Und Wilhelm
Meister selbst! In seiner Knabenzeit schon flößt ihm, dem Sohn wohlhabender
Bürgersleute, zuerst ein armer Fischerknabe freundschaftliche, liebevolle Gefühle
ein. Weiterhin lebt er vorurteilslos und ohne Bedenken mit „unmöglichen"
Menschen, mit einem Harfenspieler und einem Gauklerkinde, unmöglich trotz
ihres wahrhaft adligen Wesens und ihrer adligen Abstammung, die sich schlie߬
lich herausstellt. Man muß sich nur klar machen, wie gerade ein Parvenu
ängstlich jeden Schein und jede Berührung mit der Plebs meidet, um nur ja
nicht sich bei den Vornehmen verächtlich und unmöglich zu machen, und dann wird
man die ganze Größe seiner Vorurteilslosigkeit erkennen, ebenso aber auch die
wahre Vornehmheit jener Grafen und Barone, die ihn trotzdem, ja gerade des¬
wegen hochachten und in ihre Kreise aufnehmen.

Es scheint, daß Wilhelm Meister uns gerade in dieser Beziehung recht viel
zu sagen hätte. Das gegenseitige Abschließen der Stände voreinander, die hoch¬
mütige Nichtachtung des Lebens anderer Kreise ist in unserer Zeit nachgerade
eine Gefahr geworden, die unsern gesellschaftlichen Bestand auss schwerste
bedroht. Und nicht das Anwachsen der „roten Flut", die „Begehrlichkeit der
großen Masse", die „verderblichen Lehren einer vaterlandslosen Sozialdemokratie",
und wie alle die schönen Schlagworte lauten mögen, stören den Frieden im
Innern so sehr wie jenes unnatürliche hochmütige Abschließen der höheren
Stände vor dem Volk. Als ob es eine Schande wäre, wenn jemand den
arbeitenden und erwerbenden Ständen angehört, als ob man eine schlimme
Beleidigung sage, wenn man dem handgeschickten, aber weniger intellektuell
begabten Sohn eines Regierungsrates den Rat gebe, er möge doch Handwerker
oder Gärtner werden! Diese einseitige Anschauung ist freilich auch in anderen
Kreisen, insbesondere auch dort zu beobachten, wo man gern „nach oben" und
vorwärts strebt und wo man auf sich etwas hält.

Ist es etwa verächtlich, wenn ein Beamter in der Öffentlichkeit mit einem
Arbeiter in längerem Gespräch verweilt? Kann man nicht Meister bleiben
und nach oben wie nach unten ein angesehener und selbständiger Charakter und
nützlicher Lebensgefährte seines Kreises sein, wenn man Mensch unter Menschen
ist, ob diese nun einen groben Arbeiterrock oder einen seidengefütterten Frack
tragen sollten? Das ist's aber: eine Sozialaristokratie tut uns not, und wenn sie
eine Macht geworden ist, wird die Gefahr der Sozialdemokratie verschwunden sein.

Was Goethes Wilhelm Meister uns nach der Seite des religiösen Lebens
hin zu sagen hat, ist nicht minder beherzigenswert. Hier freilich möchte aus


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[0286] Goethes Wilhelm Meister Da ist seine reine Menschlichkeit. Nicht überwachsen und überrankt ist sie von Vorurteilen und Bedenklichkeiten und Äugstlichkeiten kurzsichtiger Menschen, welchen Ständen und Kasten sie auch angehören mögen. Die Gestalten des Romans bewegen sich und handeln nach menschlich reinen und klaren Grund¬ sätzen, Vorlieben und Widerwillen und nicht wie ein verzerrter Kulturzustand es vorschreibt. An jenen vornehmen Herren und Damen, in deren Kreis Wilhelm Meister sich hineinlebt, haben wir das bereits gesehen. Und Wilhelm Meister selbst! In seiner Knabenzeit schon flößt ihm, dem Sohn wohlhabender Bürgersleute, zuerst ein armer Fischerknabe freundschaftliche, liebevolle Gefühle ein. Weiterhin lebt er vorurteilslos und ohne Bedenken mit „unmöglichen" Menschen, mit einem Harfenspieler und einem Gauklerkinde, unmöglich trotz ihres wahrhaft adligen Wesens und ihrer adligen Abstammung, die sich schlie߬ lich herausstellt. Man muß sich nur klar machen, wie gerade ein Parvenu ängstlich jeden Schein und jede Berührung mit der Plebs meidet, um nur ja nicht sich bei den Vornehmen verächtlich und unmöglich zu machen, und dann wird man die ganze Größe seiner Vorurteilslosigkeit erkennen, ebenso aber auch die wahre Vornehmheit jener Grafen und Barone, die ihn trotzdem, ja gerade des¬ wegen hochachten und in ihre Kreise aufnehmen. Es scheint, daß Wilhelm Meister uns gerade in dieser Beziehung recht viel zu sagen hätte. Das gegenseitige Abschließen der Stände voreinander, die hoch¬ mütige Nichtachtung des Lebens anderer Kreise ist in unserer Zeit nachgerade eine Gefahr geworden, die unsern gesellschaftlichen Bestand auss schwerste bedroht. Und nicht das Anwachsen der „roten Flut", die „Begehrlichkeit der großen Masse", die „verderblichen Lehren einer vaterlandslosen Sozialdemokratie", und wie alle die schönen Schlagworte lauten mögen, stören den Frieden im Innern so sehr wie jenes unnatürliche hochmütige Abschließen der höheren Stände vor dem Volk. Als ob es eine Schande wäre, wenn jemand den arbeitenden und erwerbenden Ständen angehört, als ob man eine schlimme Beleidigung sage, wenn man dem handgeschickten, aber weniger intellektuell begabten Sohn eines Regierungsrates den Rat gebe, er möge doch Handwerker oder Gärtner werden! Diese einseitige Anschauung ist freilich auch in anderen Kreisen, insbesondere auch dort zu beobachten, wo man gern „nach oben" und vorwärts strebt und wo man auf sich etwas hält. Ist es etwa verächtlich, wenn ein Beamter in der Öffentlichkeit mit einem Arbeiter in längerem Gespräch verweilt? Kann man nicht Meister bleiben und nach oben wie nach unten ein angesehener und selbständiger Charakter und nützlicher Lebensgefährte seines Kreises sein, wenn man Mensch unter Menschen ist, ob diese nun einen groben Arbeiterrock oder einen seidengefütterten Frack tragen sollten? Das ist's aber: eine Sozialaristokratie tut uns not, und wenn sie eine Macht geworden ist, wird die Gefahr der Sozialdemokratie verschwunden sein. Was Goethes Wilhelm Meister uns nach der Seite des religiösen Lebens hin zu sagen hat, ist nicht minder beherzigenswert. Hier freilich möchte aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/286>, abgerufen am 26.06.2024.