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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Wilhelm Meistor

Wenn das Wort gültig ist: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! so
am ersten bei Goethe. Nirgends sonst läßt sich so beinahe lückenlos der Zusammen¬
hang zwischen Leben und Werk nachweisen. Man denke an die Werke der Sturm¬
und Drangperiode, man denke an seine klassischen Dramen Tasso und Iphigenie.
Seine innerste Gesinnung, sein Herzblut tritt hier immer zutage.

Wer Goethes soziale Stellungnahme kennen lernen will und wie weit er
von dem Begriff einer einseitigen Aristokratie sich fern hielt, der nehme Wilhelm
Meisters Lehrjahre und Wanderjahre zur Hand. Das Ergebnis wird zweifellos
ein anderes sein, als das landläufige Urteil über feine starre aristokratische
Lebensrichtung uns weismachen will.

Dieser Roman-- oder soll ich sagen: die Geschichte einer Persönlichkeit? --
gibt eine Fülle von Gedanken zu der wichtigsten Forderung der Zeit, sich mit
der sozialen Frage auseinanderzusetzen und den Versuch zu ihrer Lösung zu
machen. Dabei mag gleich bemerkt werden, daß man gerade in dieser Geschichte
einer Persönlichkeit den Schlüssel zur Lösung findet. Denn von Person zu Person
und durch die Mächte der Persönlichkeiten und nicht durch noch so vortreffliche
Gesetzesmacherei können die sozialen Gegensätze überbrückt, kann der soziale
Friede erreicht werden; und darauf kommt es doch wohl jedem an, dem nicht wie
einigen Agitatoren der politischen Parteien der Kampf alleinige Lebensquelle ist.

Grafen und Gräfinnen, Barone, Marquis, Abbös, Großgrundbesitzer und
höhere Offiziere sind der Umgang des jungen bürgerlichen Mannes mit dem
schlichten deutschen Namen Wilhelm Meister. Es ist zweifelhaft, ob heute die
"Gesellschaft" so bereitwillig einen jungen Menschen "ohne Namen", "ohne
Familie" mit offenen Armen in ihren Kreis aufnehmen würde, noch dazu wenn
er in der Gesellschaft herumvagierender Schauspieler und Zirkusleute in ein
vornehmes Haus schneien sollte.

Wilhelm Meister nimmt seinen selbstgewählten Beruf als Dramaturg und
Regisseur ernst, so ernst wie Grafen, Abbös und Offiziere ihren Stand und
Beruf nur immer nehmen können. Er treibt die Kunst nicht spielerisch genug,
wie es in gewissen Kreisen guter Ton ist, und er ist nicht Streber genug, um
sich zum brauchbaren Werkzeug der Launen großer Herren herzugeben. Er ist
eine "Persönlichkeit" und wagt, seine Persönlichkeit als etwas Selbverständliches
auszuspielen. Und das alles tut er als Neuling und Fremdling in der vor¬
nehmen Welt. Das verschnupft, das ist gegen den Hofton, das widersteht dem
Willen und Gefallen derer, die zu befehlen gewohnt sind. Und man wird stets
geneigt sein, sich gegen solche Leute abzuschließen, von denen man sich eines
demokratisch rücksichtslosen Benehmens versehen muß -- es sei denn, daß ihnen
eine amerikanische Herkunft, eine goldene Dollarverbrämung eine "interessante
Note" verleihe.

Freilich, jene Grafen und vornehmen Herrschaften des Goethescher Romans,
die sich den jungen Mann, so wie er ist, gefallen lassen, würden samt und
sonders in der "Gesellschaft" unserer Zeit keine Gnade finden. Sie bewegen


Goethes Wilhelm Meistor

Wenn das Wort gültig ist: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! so
am ersten bei Goethe. Nirgends sonst läßt sich so beinahe lückenlos der Zusammen¬
hang zwischen Leben und Werk nachweisen. Man denke an die Werke der Sturm¬
und Drangperiode, man denke an seine klassischen Dramen Tasso und Iphigenie.
Seine innerste Gesinnung, sein Herzblut tritt hier immer zutage.

Wer Goethes soziale Stellungnahme kennen lernen will und wie weit er
von dem Begriff einer einseitigen Aristokratie sich fern hielt, der nehme Wilhelm
Meisters Lehrjahre und Wanderjahre zur Hand. Das Ergebnis wird zweifellos
ein anderes sein, als das landläufige Urteil über feine starre aristokratische
Lebensrichtung uns weismachen will.

Dieser Roman— oder soll ich sagen: die Geschichte einer Persönlichkeit? —
gibt eine Fülle von Gedanken zu der wichtigsten Forderung der Zeit, sich mit
der sozialen Frage auseinanderzusetzen und den Versuch zu ihrer Lösung zu
machen. Dabei mag gleich bemerkt werden, daß man gerade in dieser Geschichte
einer Persönlichkeit den Schlüssel zur Lösung findet. Denn von Person zu Person
und durch die Mächte der Persönlichkeiten und nicht durch noch so vortreffliche
Gesetzesmacherei können die sozialen Gegensätze überbrückt, kann der soziale
Friede erreicht werden; und darauf kommt es doch wohl jedem an, dem nicht wie
einigen Agitatoren der politischen Parteien der Kampf alleinige Lebensquelle ist.

Grafen und Gräfinnen, Barone, Marquis, Abbös, Großgrundbesitzer und
höhere Offiziere sind der Umgang des jungen bürgerlichen Mannes mit dem
schlichten deutschen Namen Wilhelm Meister. Es ist zweifelhaft, ob heute die
„Gesellschaft" so bereitwillig einen jungen Menschen „ohne Namen", „ohne
Familie" mit offenen Armen in ihren Kreis aufnehmen würde, noch dazu wenn
er in der Gesellschaft herumvagierender Schauspieler und Zirkusleute in ein
vornehmes Haus schneien sollte.

Wilhelm Meister nimmt seinen selbstgewählten Beruf als Dramaturg und
Regisseur ernst, so ernst wie Grafen, Abbös und Offiziere ihren Stand und
Beruf nur immer nehmen können. Er treibt die Kunst nicht spielerisch genug,
wie es in gewissen Kreisen guter Ton ist, und er ist nicht Streber genug, um
sich zum brauchbaren Werkzeug der Launen großer Herren herzugeben. Er ist
eine „Persönlichkeit" und wagt, seine Persönlichkeit als etwas Selbverständliches
auszuspielen. Und das alles tut er als Neuling und Fremdling in der vor¬
nehmen Welt. Das verschnupft, das ist gegen den Hofton, das widersteht dem
Willen und Gefallen derer, die zu befehlen gewohnt sind. Und man wird stets
geneigt sein, sich gegen solche Leute abzuschließen, von denen man sich eines
demokratisch rücksichtslosen Benehmens versehen muß — es sei denn, daß ihnen
eine amerikanische Herkunft, eine goldene Dollarverbrämung eine „interessante
Note" verleihe.

Freilich, jene Grafen und vornehmen Herrschaften des Goethescher Romans,
die sich den jungen Mann, so wie er ist, gefallen lassen, würden samt und
sonders in der „Gesellschaft" unserer Zeit keine Gnade finden. Sie bewegen


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[0283] Goethes Wilhelm Meistor Wenn das Wort gültig ist: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! so am ersten bei Goethe. Nirgends sonst läßt sich so beinahe lückenlos der Zusammen¬ hang zwischen Leben und Werk nachweisen. Man denke an die Werke der Sturm¬ und Drangperiode, man denke an seine klassischen Dramen Tasso und Iphigenie. Seine innerste Gesinnung, sein Herzblut tritt hier immer zutage. Wer Goethes soziale Stellungnahme kennen lernen will und wie weit er von dem Begriff einer einseitigen Aristokratie sich fern hielt, der nehme Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wanderjahre zur Hand. Das Ergebnis wird zweifellos ein anderes sein, als das landläufige Urteil über feine starre aristokratische Lebensrichtung uns weismachen will. Dieser Roman— oder soll ich sagen: die Geschichte einer Persönlichkeit? — gibt eine Fülle von Gedanken zu der wichtigsten Forderung der Zeit, sich mit der sozialen Frage auseinanderzusetzen und den Versuch zu ihrer Lösung zu machen. Dabei mag gleich bemerkt werden, daß man gerade in dieser Geschichte einer Persönlichkeit den Schlüssel zur Lösung findet. Denn von Person zu Person und durch die Mächte der Persönlichkeiten und nicht durch noch so vortreffliche Gesetzesmacherei können die sozialen Gegensätze überbrückt, kann der soziale Friede erreicht werden; und darauf kommt es doch wohl jedem an, dem nicht wie einigen Agitatoren der politischen Parteien der Kampf alleinige Lebensquelle ist. Grafen und Gräfinnen, Barone, Marquis, Abbös, Großgrundbesitzer und höhere Offiziere sind der Umgang des jungen bürgerlichen Mannes mit dem schlichten deutschen Namen Wilhelm Meister. Es ist zweifelhaft, ob heute die „Gesellschaft" so bereitwillig einen jungen Menschen „ohne Namen", „ohne Familie" mit offenen Armen in ihren Kreis aufnehmen würde, noch dazu wenn er in der Gesellschaft herumvagierender Schauspieler und Zirkusleute in ein vornehmes Haus schneien sollte. Wilhelm Meister nimmt seinen selbstgewählten Beruf als Dramaturg und Regisseur ernst, so ernst wie Grafen, Abbös und Offiziere ihren Stand und Beruf nur immer nehmen können. Er treibt die Kunst nicht spielerisch genug, wie es in gewissen Kreisen guter Ton ist, und er ist nicht Streber genug, um sich zum brauchbaren Werkzeug der Launen großer Herren herzugeben. Er ist eine „Persönlichkeit" und wagt, seine Persönlichkeit als etwas Selbverständliches auszuspielen. Und das alles tut er als Neuling und Fremdling in der vor¬ nehmen Welt. Das verschnupft, das ist gegen den Hofton, das widersteht dem Willen und Gefallen derer, die zu befehlen gewohnt sind. Und man wird stets geneigt sein, sich gegen solche Leute abzuschließen, von denen man sich eines demokratisch rücksichtslosen Benehmens versehen muß — es sei denn, daß ihnen eine amerikanische Herkunft, eine goldene Dollarverbrämung eine „interessante Note" verleihe. Freilich, jene Grafen und vornehmen Herrschaften des Goethescher Romans, die sich den jungen Mann, so wie er ist, gefallen lassen, würden samt und sonders in der „Gesellschaft" unserer Zeit keine Gnade finden. Sie bewegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/283>, abgerufen am 03.07.2024.