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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhina

Weise natürlich auch nichts zu sehen, da man auf den Straßen im Kot versinkt.
Ich benutzte gleich den ersten Nachmittag, um mit Dr. M. einen kleinen Spazier¬
gang auf der Mauer zu machen, von der man einen hübschen Blick auf die
Stadt hat, die sich durch das viele Laub (besonders der kaiserlichen Gärten)
von oben sehr viel hübscher ausnimmt, als von innen. Sehr stattlich treten
besonders die gelben Ziegeldächer der kaiserlichen Paläste hervor. Ich habe mir
bereits einen chinesischen "Lehrer" engagiert, der mit nach dem Tempel kommt
und dort immer zu meiner Verfügung sein muß. nachgerade sehnen wir uns
wirklich nach den Bergen, denn auf die Dauer ist die Hitze angreifend und auf
die Nerven gehend. Ich bin fortwährend in Schweiß gebadet -- und durch
Flöhe, Fliegen und Mosquitos wird die Hitze auch nicht gerade erträglich

gemacht----




Kloster Ta-chiao-sse, 8. August 97.' n > " ,

, .^
An seine Schwester.

... Der Ritt, den ich vor einigen Tagen mit Herrn und Frau v. P.
unternahm, war recht interessant, er führte uns durch mehrere stark bevölkerte
Dörfer nach einer chinesischen Kohlenmine, die malerisch in den Bergen gelegen
ist. Die Gegend mit ihren meist baumlosen, nur grasbedeckten Bergen, die sich
bis zu einer Höhe von 4000 Fuß erheben, ist ja ganz hübsch, entbehrt jedoch
ganz des poetischen Zaubers, der unser geliebtes Japan verklärt. Hier ist es
die Kultur, und sie allein, was mich fesselt und interessiert. Wer dieses Interesse
nicht hat und auch kein Verständnis für das Chinesentum besitzt, auf den kann
China, nach meinen bisherigen Erfahrungen, nur einen abstoßenden Eindruck
machen. Unwirklich, einförmig, kahl und entsetzlich unsauber ist alles, was man
zu sehen bekommt. Selbst die mancherlei schönen Bauwerke, Zeugen einstigen
Glanzes, bieten ein Bild traurigen Verfalls und trostloser Verkommenheit.
Dennoch glaube ich fest an die Zukunft Chinas: die Nation besitzt ein un¬
erschöpfliches Material an Intelligenz und physischer Kraft, zwei Faktoren, die
sie vor dem Untergang bewahren werden. Was weder Missionen noch europäische
Lehranstalten zuwege bringen, werden die Eisenbahnen bewirken. Dazu ist durch
die Bahn von Tientsin nach Peking endlich der erste Schritt getan, dem sicherlich
weitere folgen werden.




Kloster Ta-chiao-sse, 1. Sept. 97.

An seinen Paten Dr. William Higginbotham.


Mein hochverehrter, lieber Papsi!

In Gedanken schicke ich Dir zu Deinem Wiegenfeste eine Schildkröte, einen
Kranich, eine Kiefer und eine Pfirsich -- lauter Dinge, die hier zu Lande als
Embleme langer Lebensdauer gelten, und füge noch ein halbes Dutzend Fleder¬
mäuse hinzu, auf daß es Dir im neuen Lebensjahre auch an Glück nicht fehlen
möge. Das gäbe doch einmal einen Geburtstagstisch, wie er nicht jedes Jahr
vorkommt!


Briefe aus Lhina

Weise natürlich auch nichts zu sehen, da man auf den Straßen im Kot versinkt.
Ich benutzte gleich den ersten Nachmittag, um mit Dr. M. einen kleinen Spazier¬
gang auf der Mauer zu machen, von der man einen hübschen Blick auf die
Stadt hat, die sich durch das viele Laub (besonders der kaiserlichen Gärten)
von oben sehr viel hübscher ausnimmt, als von innen. Sehr stattlich treten
besonders die gelben Ziegeldächer der kaiserlichen Paläste hervor. Ich habe mir
bereits einen chinesischen „Lehrer" engagiert, der mit nach dem Tempel kommt
und dort immer zu meiner Verfügung sein muß. nachgerade sehnen wir uns
wirklich nach den Bergen, denn auf die Dauer ist die Hitze angreifend und auf
die Nerven gehend. Ich bin fortwährend in Schweiß gebadet — und durch
Flöhe, Fliegen und Mosquitos wird die Hitze auch nicht gerade erträglich

gemacht----




Kloster Ta-chiao-sse, 8. August 97.' n > » ,

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An seine Schwester.

... Der Ritt, den ich vor einigen Tagen mit Herrn und Frau v. P.
unternahm, war recht interessant, er führte uns durch mehrere stark bevölkerte
Dörfer nach einer chinesischen Kohlenmine, die malerisch in den Bergen gelegen
ist. Die Gegend mit ihren meist baumlosen, nur grasbedeckten Bergen, die sich
bis zu einer Höhe von 4000 Fuß erheben, ist ja ganz hübsch, entbehrt jedoch
ganz des poetischen Zaubers, der unser geliebtes Japan verklärt. Hier ist es
die Kultur, und sie allein, was mich fesselt und interessiert. Wer dieses Interesse
nicht hat und auch kein Verständnis für das Chinesentum besitzt, auf den kann
China, nach meinen bisherigen Erfahrungen, nur einen abstoßenden Eindruck
machen. Unwirklich, einförmig, kahl und entsetzlich unsauber ist alles, was man
zu sehen bekommt. Selbst die mancherlei schönen Bauwerke, Zeugen einstigen
Glanzes, bieten ein Bild traurigen Verfalls und trostloser Verkommenheit.
Dennoch glaube ich fest an die Zukunft Chinas: die Nation besitzt ein un¬
erschöpfliches Material an Intelligenz und physischer Kraft, zwei Faktoren, die
sie vor dem Untergang bewahren werden. Was weder Missionen noch europäische
Lehranstalten zuwege bringen, werden die Eisenbahnen bewirken. Dazu ist durch
die Bahn von Tientsin nach Peking endlich der erste Schritt getan, dem sicherlich
weitere folgen werden.




Kloster Ta-chiao-sse, 1. Sept. 97.

An seinen Paten Dr. William Higginbotham.


Mein hochverehrter, lieber Papsi!

In Gedanken schicke ich Dir zu Deinem Wiegenfeste eine Schildkröte, einen
Kranich, eine Kiefer und eine Pfirsich — lauter Dinge, die hier zu Lande als
Embleme langer Lebensdauer gelten, und füge noch ein halbes Dutzend Fleder¬
mäuse hinzu, auf daß es Dir im neuen Lebensjahre auch an Glück nicht fehlen
möge. Das gäbe doch einmal einen Geburtstagstisch, wie er nicht jedes Jahr
vorkommt!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/280>, abgerufen am 23.07.2024.