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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

sich mit den Trägern abzulösen hatten, und schließlich noch von einem halbwüchsigen
Burschen, der mir aber nur einen rein ornamentalen Zweck zu haben schien. Wie
Du Dir vorstellen kannst, machte der Zug einen außerordentlich feierlichen Ein¬
druck, und abgesehen von dem fehlenden Hutknopf, fühlte ich mich bereits als
Mandarin. Eine halbe Stunde lang bewegte sich der Zug auf engen, winkligen
Fußpfaden zwischen doppeltmannshohem Mais, jedoch mit einer drastischen
Unterbrechung; es kam uns nämlich so von ungefähr ein Mann auf einen:
Eselein entgegen. Mit dem diesen Tieren eigenen Standesbewußtsein hielt der
Esel es für unsere Sache auszuweichen und stellte sich, als das nicht geschah,
quer in den Weg, uns sein interessantes Profil zuwendend. Als kein Zureden
half, versuchten die Träger es mit Prügeln, und als auch diese nicht fruchteten,
wurde statt des vierbeinigen der zweibeinige Esel, der Reiter nämlich, als
Prügeljunge behandelt. Das wirkte, und nun konnten wir den Weg wieder
fortsetzen. Es dauerte nicht lange mehr -- da tauchte dicht vor unseren Augen
eine mächtige, unabsehbar lange Mauer mit einem imposanten turmgekrönten
Tore auf. Das war das Aung-klug-Tor, eines der zahlreichen Tore, die in die
Chinesenstadt führen. Wir waren in Peking I Mir traten vor Bewegung die
Tränen in die Augen, als wir das Tor passierten. Ich sah nach der Uhr, es
war gerade halb vier. Dieser Moment wird zu denen gehören, die mir un¬
vergeßlich bleiben fürs ganze Leben; denn es ist doch ein eigen Ding, die Welt,
in der man sich im Geiste heimisch fühlte, nun endlich mit leiblichen Augen vor
sich zu sehen. Jetzt erst waren wir wirklich in China, denn alles, was wir
bisher gesehen, war doch nicht unbeeinflußt geblieben von europäischem Wesen;
hier erst war echtes, unverfälschtes Chinesentum, das mit voller Macht auf
Augen, Nase und Ohren eindrang, mir aber auch den ganzen inneren Menschen
erfüllte. Wie neu war alles -- und doch: wie allbekannt! Ich war erstaunt,
wie in allen Einzelheiten richtig und der Wirklichkeit entsprechend die Vorstellung
war, die ich mir bloß durch Studium und Lektüre von dieser merkwürdigsten
aller Residenzen der Welt gebildet hatteI

Die Stadt besteht aus drei Teilen. Durch das Tor Uung-klug-men kommt
man in die Chinesenstadt, und aus dieser durch das Tor Ts'im-men in die
Mandschurenstadt, in deren Mitte die sog. "verbotene Stadt", d. h. der Kaiserliche
Palast mit seinen zahlreichen Gebäuden und Parkanlagen, sich befindet. Jeder
dieser Stadtteile ist von einer hohen und dicken Mauer umgeben. In die ver¬
botene Stadt ist, wie schon der Name besagt, gewöhnlichen Sterblichen der
Zutritt bei Todesstrafe untersagt. Die deutsche Gesandtschaft befindet sich in der
Mandschureustadt in der Nähe des Tores Tf'im-men.

29. Juli. Eigentlich sollte heute die Übersiedlung nach dem Tempel erfolgen,
und unser Gepäck ist bereits gestern dorthin expediert worden. Aber leider hat
der Regen diesen Plan vereitelt, denn ein Tag Regenwetter genügt, um die
Wege völlig unpassierbar zu machen; es kann uns also blühen, daß wir hier
noch acht Tage sitzen müssen. Von der Stadt selbst bekommt man auf diese


Briefe aus China

sich mit den Trägern abzulösen hatten, und schließlich noch von einem halbwüchsigen
Burschen, der mir aber nur einen rein ornamentalen Zweck zu haben schien. Wie
Du Dir vorstellen kannst, machte der Zug einen außerordentlich feierlichen Ein¬
druck, und abgesehen von dem fehlenden Hutknopf, fühlte ich mich bereits als
Mandarin. Eine halbe Stunde lang bewegte sich der Zug auf engen, winkligen
Fußpfaden zwischen doppeltmannshohem Mais, jedoch mit einer drastischen
Unterbrechung; es kam uns nämlich so von ungefähr ein Mann auf einen:
Eselein entgegen. Mit dem diesen Tieren eigenen Standesbewußtsein hielt der
Esel es für unsere Sache auszuweichen und stellte sich, als das nicht geschah,
quer in den Weg, uns sein interessantes Profil zuwendend. Als kein Zureden
half, versuchten die Träger es mit Prügeln, und als auch diese nicht fruchteten,
wurde statt des vierbeinigen der zweibeinige Esel, der Reiter nämlich, als
Prügeljunge behandelt. Das wirkte, und nun konnten wir den Weg wieder
fortsetzen. Es dauerte nicht lange mehr — da tauchte dicht vor unseren Augen
eine mächtige, unabsehbar lange Mauer mit einem imposanten turmgekrönten
Tore auf. Das war das Aung-klug-Tor, eines der zahlreichen Tore, die in die
Chinesenstadt führen. Wir waren in Peking I Mir traten vor Bewegung die
Tränen in die Augen, als wir das Tor passierten. Ich sah nach der Uhr, es
war gerade halb vier. Dieser Moment wird zu denen gehören, die mir un¬
vergeßlich bleiben fürs ganze Leben; denn es ist doch ein eigen Ding, die Welt,
in der man sich im Geiste heimisch fühlte, nun endlich mit leiblichen Augen vor
sich zu sehen. Jetzt erst waren wir wirklich in China, denn alles, was wir
bisher gesehen, war doch nicht unbeeinflußt geblieben von europäischem Wesen;
hier erst war echtes, unverfälschtes Chinesentum, das mit voller Macht auf
Augen, Nase und Ohren eindrang, mir aber auch den ganzen inneren Menschen
erfüllte. Wie neu war alles — und doch: wie allbekannt! Ich war erstaunt,
wie in allen Einzelheiten richtig und der Wirklichkeit entsprechend die Vorstellung
war, die ich mir bloß durch Studium und Lektüre von dieser merkwürdigsten
aller Residenzen der Welt gebildet hatteI

Die Stadt besteht aus drei Teilen. Durch das Tor Uung-klug-men kommt
man in die Chinesenstadt, und aus dieser durch das Tor Ts'im-men in die
Mandschurenstadt, in deren Mitte die sog. „verbotene Stadt", d. h. der Kaiserliche
Palast mit seinen zahlreichen Gebäuden und Parkanlagen, sich befindet. Jeder
dieser Stadtteile ist von einer hohen und dicken Mauer umgeben. In die ver¬
botene Stadt ist, wie schon der Name besagt, gewöhnlichen Sterblichen der
Zutritt bei Todesstrafe untersagt. Die deutsche Gesandtschaft befindet sich in der
Mandschureustadt in der Nähe des Tores Tf'im-men.

29. Juli. Eigentlich sollte heute die Übersiedlung nach dem Tempel erfolgen,
und unser Gepäck ist bereits gestern dorthin expediert worden. Aber leider hat
der Regen diesen Plan vereitelt, denn ein Tag Regenwetter genügt, um die
Wege völlig unpassierbar zu machen; es kann uns also blühen, daß wir hier
noch acht Tage sitzen müssen. Von der Stadt selbst bekommt man auf diese


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[0279] Briefe aus China sich mit den Trägern abzulösen hatten, und schließlich noch von einem halbwüchsigen Burschen, der mir aber nur einen rein ornamentalen Zweck zu haben schien. Wie Du Dir vorstellen kannst, machte der Zug einen außerordentlich feierlichen Ein¬ druck, und abgesehen von dem fehlenden Hutknopf, fühlte ich mich bereits als Mandarin. Eine halbe Stunde lang bewegte sich der Zug auf engen, winkligen Fußpfaden zwischen doppeltmannshohem Mais, jedoch mit einer drastischen Unterbrechung; es kam uns nämlich so von ungefähr ein Mann auf einen: Eselein entgegen. Mit dem diesen Tieren eigenen Standesbewußtsein hielt der Esel es für unsere Sache auszuweichen und stellte sich, als das nicht geschah, quer in den Weg, uns sein interessantes Profil zuwendend. Als kein Zureden half, versuchten die Träger es mit Prügeln, und als auch diese nicht fruchteten, wurde statt des vierbeinigen der zweibeinige Esel, der Reiter nämlich, als Prügeljunge behandelt. Das wirkte, und nun konnten wir den Weg wieder fortsetzen. Es dauerte nicht lange mehr — da tauchte dicht vor unseren Augen eine mächtige, unabsehbar lange Mauer mit einem imposanten turmgekrönten Tore auf. Das war das Aung-klug-Tor, eines der zahlreichen Tore, die in die Chinesenstadt führen. Wir waren in Peking I Mir traten vor Bewegung die Tränen in die Augen, als wir das Tor passierten. Ich sah nach der Uhr, es war gerade halb vier. Dieser Moment wird zu denen gehören, die mir un¬ vergeßlich bleiben fürs ganze Leben; denn es ist doch ein eigen Ding, die Welt, in der man sich im Geiste heimisch fühlte, nun endlich mit leiblichen Augen vor sich zu sehen. Jetzt erst waren wir wirklich in China, denn alles, was wir bisher gesehen, war doch nicht unbeeinflußt geblieben von europäischem Wesen; hier erst war echtes, unverfälschtes Chinesentum, das mit voller Macht auf Augen, Nase und Ohren eindrang, mir aber auch den ganzen inneren Menschen erfüllte. Wie neu war alles — und doch: wie allbekannt! Ich war erstaunt, wie in allen Einzelheiten richtig und der Wirklichkeit entsprechend die Vorstellung war, die ich mir bloß durch Studium und Lektüre von dieser merkwürdigsten aller Residenzen der Welt gebildet hatteI Die Stadt besteht aus drei Teilen. Durch das Tor Uung-klug-men kommt man in die Chinesenstadt, und aus dieser durch das Tor Ts'im-men in die Mandschurenstadt, in deren Mitte die sog. „verbotene Stadt", d. h. der Kaiserliche Palast mit seinen zahlreichen Gebäuden und Parkanlagen, sich befindet. Jeder dieser Stadtteile ist von einer hohen und dicken Mauer umgeben. In die ver¬ botene Stadt ist, wie schon der Name besagt, gewöhnlichen Sterblichen der Zutritt bei Todesstrafe untersagt. Die deutsche Gesandtschaft befindet sich in der Mandschureustadt in der Nähe des Tores Tf'im-men. 29. Juli. Eigentlich sollte heute die Übersiedlung nach dem Tempel erfolgen, und unser Gepäck ist bereits gestern dorthin expediert worden. Aber leider hat der Regen diesen Plan vereitelt, denn ein Tag Regenwetter genügt, um die Wege völlig unpassierbar zu machen; es kann uns also blühen, daß wir hier noch acht Tage sitzen müssen. Von der Stadt selbst bekommt man auf diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/279>, abgerufen am 23.07.2024.