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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Polen und Rom vor ^870

zu werden verdiene, mußte er sich vou den Polen sagen lassen, daß eine solche
Scheidung an sich unmöglich und praktisch undurchführbar sei, daß der Gedanke
an die Scheidung aber ein Beweis dafür sei, daß der Papst die polnischen
Interessen denen Rußlands, des Stärkeren, verraten habe!!

Durch die persönliche Neigung des Zaren Nikolaus des Ersten kam am
3. August 1847 ein russisch-vatikanisches Konkordat zustande, von dem sich Rom
eine ihm günstige neue Ordnung der religiösen Verhältnisse und einen direkten
freien Verkehr mit Bischöfen und Gläubigen in Polen versprach. Tatsächlich
folgten diesem Konkordat nur neue Vergewaltigungen der Katholiken durch
ungerechte Gesetze, Reglements und Einzelmaßnahmen. Das Konkordat blieb
toter Buchstabe, und von einem freien Verkehr des Vatikans mit Geistlichen
oder Laien in Rußland war keine Rede. Auch als Nikolaus starb und Alexander,
der durch persönlichen Ausenthalt in Rom wohlwollend für die Kurie eingenommen
war, den Thron bestieg, mußte Papst Pius der Neunte erfahren, daß die russische
Regierung nach wie vor willkürlich der katholischen Kirche unzuträgliche Ma߬
nahmen traf. Der Verkehr zwischen dem Papst und den katholischen Geistlichen
und Laien in Nußland wurde seitens der russischen Regierung in jeder Weise
völlig unterbunden. 1859 beschwerte sich der Papst in einem Privatbriefe beim
Zaren, ohne indessen einen effektiven Erfolg zu haben. Daraufhin begannen
die Polen mit öffentlichen Unruhen gegen die russische Regierung und verlangten
Achtung ihrer religiösen Gefühle. Der Vatikan wollte an diesen Unruhen nicht
beteiligt sein und ließ die aufrührerischen Polen sogar den Vorwurf aussprechen, er
bekümmere sich nicht um ihre geistlichen Bedürfnisse und ihre beklagenswerte Lage.

Es ist auf diesen "ungerechten Vorwurf" zurückzuführen, daß sich der Papst
am 6. Juni 1861 -- also zwei Monate nach dem Votum der italienischen
Nationalversammlung in Turin, daß Rom die Hauptstadt des geeinten König¬
reichs Italien sein solle, und sieben Monate, nachdem vom Kirchenstaate in
Italien nur noch das engere Patrimonium Petri übrig geblieben -- entschloß,
einen Brief an den Erzbischof von Warschau zu senden, um diesem und durch
ihn "dem polnischen Volke" seine päpstlichen Bemühungen für die polnische
Kirche und das polnische Volk eindringlichst zu vergegenwärtigen. Dieser Brief
erregte bei der russischen Regierung Mißfallen, gleich als ob der Papst beabsichtigt
hätte, die politischen Aspirationen der Polen anzuspornen und zu begünstigen.
Die Prälaten der "Kirchenprovinz Polen" vereinigten sich indessen im November
1861 in Warschau, um gemäß den Einflößuugen des Papstes die Ansprüche
"des erregten Volkes" auf "die Freiheit seiner angestammten Religion" zu
betonen und die Behebung dieses "einen Hauptgrundes" der Volksunzufrieden¬
heit zu verlangen. Die Prälaten waren sogar so "loyal", dieses ihr Verlangen
in einer Adresse an den Zaren kundzugeben. Form und Inhalt hielten indes
den Generalstatthalter Grafen Lambert ab, sie entgegenzunehmen.

Hatte die russische Regierung Unrecht mit ihrer Vermutung, daß der päpst¬
liche Brief nach Warschau und die darauf folgende Schilderhebung der Polen


Polen und Rom vor ^870

zu werden verdiene, mußte er sich vou den Polen sagen lassen, daß eine solche
Scheidung an sich unmöglich und praktisch undurchführbar sei, daß der Gedanke
an die Scheidung aber ein Beweis dafür sei, daß der Papst die polnischen
Interessen denen Rußlands, des Stärkeren, verraten habe!!

Durch die persönliche Neigung des Zaren Nikolaus des Ersten kam am
3. August 1847 ein russisch-vatikanisches Konkordat zustande, von dem sich Rom
eine ihm günstige neue Ordnung der religiösen Verhältnisse und einen direkten
freien Verkehr mit Bischöfen und Gläubigen in Polen versprach. Tatsächlich
folgten diesem Konkordat nur neue Vergewaltigungen der Katholiken durch
ungerechte Gesetze, Reglements und Einzelmaßnahmen. Das Konkordat blieb
toter Buchstabe, und von einem freien Verkehr des Vatikans mit Geistlichen
oder Laien in Rußland war keine Rede. Auch als Nikolaus starb und Alexander,
der durch persönlichen Ausenthalt in Rom wohlwollend für die Kurie eingenommen
war, den Thron bestieg, mußte Papst Pius der Neunte erfahren, daß die russische
Regierung nach wie vor willkürlich der katholischen Kirche unzuträgliche Ma߬
nahmen traf. Der Verkehr zwischen dem Papst und den katholischen Geistlichen
und Laien in Nußland wurde seitens der russischen Regierung in jeder Weise
völlig unterbunden. 1859 beschwerte sich der Papst in einem Privatbriefe beim
Zaren, ohne indessen einen effektiven Erfolg zu haben. Daraufhin begannen
die Polen mit öffentlichen Unruhen gegen die russische Regierung und verlangten
Achtung ihrer religiösen Gefühle. Der Vatikan wollte an diesen Unruhen nicht
beteiligt sein und ließ die aufrührerischen Polen sogar den Vorwurf aussprechen, er
bekümmere sich nicht um ihre geistlichen Bedürfnisse und ihre beklagenswerte Lage.

Es ist auf diesen „ungerechten Vorwurf" zurückzuführen, daß sich der Papst
am 6. Juni 1861 — also zwei Monate nach dem Votum der italienischen
Nationalversammlung in Turin, daß Rom die Hauptstadt des geeinten König¬
reichs Italien sein solle, und sieben Monate, nachdem vom Kirchenstaate in
Italien nur noch das engere Patrimonium Petri übrig geblieben — entschloß,
einen Brief an den Erzbischof von Warschau zu senden, um diesem und durch
ihn „dem polnischen Volke" seine päpstlichen Bemühungen für die polnische
Kirche und das polnische Volk eindringlichst zu vergegenwärtigen. Dieser Brief
erregte bei der russischen Regierung Mißfallen, gleich als ob der Papst beabsichtigt
hätte, die politischen Aspirationen der Polen anzuspornen und zu begünstigen.
Die Prälaten der „Kirchenprovinz Polen" vereinigten sich indessen im November
1861 in Warschau, um gemäß den Einflößuugen des Papstes die Ansprüche
„des erregten Volkes" auf „die Freiheit seiner angestammten Religion" zu
betonen und die Behebung dieses „einen Hauptgrundes" der Volksunzufrieden¬
heit zu verlangen. Die Prälaten waren sogar so „loyal", dieses ihr Verlangen
in einer Adresse an den Zaren kundzugeben. Form und Inhalt hielten indes
den Generalstatthalter Grafen Lambert ab, sie entgegenzunehmen.

Hatte die russische Regierung Unrecht mit ihrer Vermutung, daß der päpst¬
liche Brief nach Warschau und die darauf folgende Schilderhebung der Polen


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[0216] Polen und Rom vor ^870 zu werden verdiene, mußte er sich vou den Polen sagen lassen, daß eine solche Scheidung an sich unmöglich und praktisch undurchführbar sei, daß der Gedanke an die Scheidung aber ein Beweis dafür sei, daß der Papst die polnischen Interessen denen Rußlands, des Stärkeren, verraten habe!! Durch die persönliche Neigung des Zaren Nikolaus des Ersten kam am 3. August 1847 ein russisch-vatikanisches Konkordat zustande, von dem sich Rom eine ihm günstige neue Ordnung der religiösen Verhältnisse und einen direkten freien Verkehr mit Bischöfen und Gläubigen in Polen versprach. Tatsächlich folgten diesem Konkordat nur neue Vergewaltigungen der Katholiken durch ungerechte Gesetze, Reglements und Einzelmaßnahmen. Das Konkordat blieb toter Buchstabe, und von einem freien Verkehr des Vatikans mit Geistlichen oder Laien in Rußland war keine Rede. Auch als Nikolaus starb und Alexander, der durch persönlichen Ausenthalt in Rom wohlwollend für die Kurie eingenommen war, den Thron bestieg, mußte Papst Pius der Neunte erfahren, daß die russische Regierung nach wie vor willkürlich der katholischen Kirche unzuträgliche Ma߬ nahmen traf. Der Verkehr zwischen dem Papst und den katholischen Geistlichen und Laien in Nußland wurde seitens der russischen Regierung in jeder Weise völlig unterbunden. 1859 beschwerte sich der Papst in einem Privatbriefe beim Zaren, ohne indessen einen effektiven Erfolg zu haben. Daraufhin begannen die Polen mit öffentlichen Unruhen gegen die russische Regierung und verlangten Achtung ihrer religiösen Gefühle. Der Vatikan wollte an diesen Unruhen nicht beteiligt sein und ließ die aufrührerischen Polen sogar den Vorwurf aussprechen, er bekümmere sich nicht um ihre geistlichen Bedürfnisse und ihre beklagenswerte Lage. Es ist auf diesen „ungerechten Vorwurf" zurückzuführen, daß sich der Papst am 6. Juni 1861 — also zwei Monate nach dem Votum der italienischen Nationalversammlung in Turin, daß Rom die Hauptstadt des geeinten König¬ reichs Italien sein solle, und sieben Monate, nachdem vom Kirchenstaate in Italien nur noch das engere Patrimonium Petri übrig geblieben — entschloß, einen Brief an den Erzbischof von Warschau zu senden, um diesem und durch ihn „dem polnischen Volke" seine päpstlichen Bemühungen für die polnische Kirche und das polnische Volk eindringlichst zu vergegenwärtigen. Dieser Brief erregte bei der russischen Regierung Mißfallen, gleich als ob der Papst beabsichtigt hätte, die politischen Aspirationen der Polen anzuspornen und zu begünstigen. Die Prälaten der „Kirchenprovinz Polen" vereinigten sich indessen im November 1861 in Warschau, um gemäß den Einflößuugen des Papstes die Ansprüche „des erregten Volkes" auf „die Freiheit seiner angestammten Religion" zu betonen und die Behebung dieses „einen Hauptgrundes" der Volksunzufrieden¬ heit zu verlangen. Die Prälaten waren sogar so „loyal", dieses ihr Verlangen in einer Adresse an den Zaren kundzugeben. Form und Inhalt hielten indes den Generalstatthalter Grafen Lambert ab, sie entgegenzunehmen. Hatte die russische Regierung Unrecht mit ihrer Vermutung, daß der päpst¬ liche Brief nach Warschau und die darauf folgende Schilderhebung der Polen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/216>, abgerufen am 23.07.2024.