Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung

den einen als etwas sehr Heiliges, den anderen als etwas sehr Unheiliges
erscheinen muß.

Daß Hofmannsthal von solcher Bühne herab auch als Dramatiker un¬
mittelbare Wirkung ausüben kann, hat er zum mindesten durch eines seiner der
Antike entnommenen Stücke bewiesen, durch seine "Elektra". So eng sich die
Handlung zumeist der Sophokleischen anschließt, so ganz gehört dies Stück dem
modernen Dichter. Der Schicksalsgedanke tritt diesmal zurück, obwohl auch
hier von des "dunkeln Schicksals finsterm Baum" die Rede ist, an den der
Pfeil der Götter das Geschöpf nagele. Was herrscht, ist das von Sophokles
nur leise und teilweise angedeutete, von Hofmannsthal breit und mit schauerlicher
Bildkraft ausgeführte Kranksein der Gestalten. Krank ist Klntemnestra, die in
einem halb unbewußten Augenblick zur Gattenmörderin wurde und nach dem
Geschehnis (das ihr kaum Tat war) immer tiefer in Krankheit sank; krank, ja
eine Wahnsinnige, ist Elektra, die das Wissen um das Entsetzliche, ein ent¬
würdigtes Leben und die Maßlosigkeit jahrelangen Rachedurstes zerrütet haben;
und etwas krankhaft Überreiztes liegt auch schon in der blühenden Chrysothemis,
deren Begehren nach Mann und Kind zu lange der Befriedigung harrt. Man
kann das Stück eine Krankheitsgeschichte nennen und kann wohl die Frage auf¬
werfen, ob es Sache des Dichters sei, Krankheit um ihrer selbst willen darzu¬
stellen; aber die gewaltige Kraft, mit der Hofmannsthal auf diesem Wege,
vielleicht einem Irrwege, hinschreitet, ist unmöglich zu verkennen.

Richtet man den Blick auf das Krankhafte in Hofmannsthals "Elektra",
so hat man die Bindung zwischen den Schicksalsdichtungen und den anderen
geistigen Erscheinungen der Zeit: es tritt das naturwissenschaftliche Element als
Kittung zutage. Naturwissenschaft dürfte es gewesen sein, die im Ausgang der
siebziger Jahre die "Neuen" zur exakteren Lebensdarstellung trieb. Natur¬
wissenschaft führte aus der Betrachtung des äußeren Lebens ins Psychologische,
wo man denn auf jene grundlosen Tiefen stieß, vor denen Ödipus schaudert.
Und von da aus ging es eben in die Zweifel an der Einheit des Ichs und
weiter in die neue Fatalistik -- eine Entwicklung, die Hermann Bahr, der
"gute Kamerad" der Schaffenden und besonders der Impressionisten, frühzeitig
zu einem großen Teil vorausgesagt hat. In dieser Entwicklungslinie, aber an
einem verzweifelt späten Punkte, setzt Hofmannsthals Schaffen ein. Dem
siebzehnjährigen Dichter des dramatischen Einakters "Gestern" fehlt bereits jeder
Glaube an die Einheit des Ichs:

Und dieser Glaube an die Einheit des Ichs ist ihm nicht nur durch Anempfindung,
durch die Lektüre der ausländischen Dekadenten abhanden gekommen, sondern
auch dadurch, daß ihm fehlt, worin sich das Ich am stärksten und vielleicht
einzig fühlt und beweist: das Handelnkönnen und selbst der Wille zum Handeln.
Der Held des Stückes sagt:


Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung

den einen als etwas sehr Heiliges, den anderen als etwas sehr Unheiliges
erscheinen muß.

Daß Hofmannsthal von solcher Bühne herab auch als Dramatiker un¬
mittelbare Wirkung ausüben kann, hat er zum mindesten durch eines seiner der
Antike entnommenen Stücke bewiesen, durch seine „Elektra". So eng sich die
Handlung zumeist der Sophokleischen anschließt, so ganz gehört dies Stück dem
modernen Dichter. Der Schicksalsgedanke tritt diesmal zurück, obwohl auch
hier von des „dunkeln Schicksals finsterm Baum" die Rede ist, an den der
Pfeil der Götter das Geschöpf nagele. Was herrscht, ist das von Sophokles
nur leise und teilweise angedeutete, von Hofmannsthal breit und mit schauerlicher
Bildkraft ausgeführte Kranksein der Gestalten. Krank ist Klntemnestra, die in
einem halb unbewußten Augenblick zur Gattenmörderin wurde und nach dem
Geschehnis (das ihr kaum Tat war) immer tiefer in Krankheit sank; krank, ja
eine Wahnsinnige, ist Elektra, die das Wissen um das Entsetzliche, ein ent¬
würdigtes Leben und die Maßlosigkeit jahrelangen Rachedurstes zerrütet haben;
und etwas krankhaft Überreiztes liegt auch schon in der blühenden Chrysothemis,
deren Begehren nach Mann und Kind zu lange der Befriedigung harrt. Man
kann das Stück eine Krankheitsgeschichte nennen und kann wohl die Frage auf¬
werfen, ob es Sache des Dichters sei, Krankheit um ihrer selbst willen darzu¬
stellen; aber die gewaltige Kraft, mit der Hofmannsthal auf diesem Wege,
vielleicht einem Irrwege, hinschreitet, ist unmöglich zu verkennen.

Richtet man den Blick auf das Krankhafte in Hofmannsthals „Elektra",
so hat man die Bindung zwischen den Schicksalsdichtungen und den anderen
geistigen Erscheinungen der Zeit: es tritt das naturwissenschaftliche Element als
Kittung zutage. Naturwissenschaft dürfte es gewesen sein, die im Ausgang der
siebziger Jahre die „Neuen" zur exakteren Lebensdarstellung trieb. Natur¬
wissenschaft führte aus der Betrachtung des äußeren Lebens ins Psychologische,
wo man denn auf jene grundlosen Tiefen stieß, vor denen Ödipus schaudert.
Und von da aus ging es eben in die Zweifel an der Einheit des Ichs und
weiter in die neue Fatalistik — eine Entwicklung, die Hermann Bahr, der
„gute Kamerad" der Schaffenden und besonders der Impressionisten, frühzeitig
zu einem großen Teil vorausgesagt hat. In dieser Entwicklungslinie, aber an
einem verzweifelt späten Punkte, setzt Hofmannsthals Schaffen ein. Dem
siebzehnjährigen Dichter des dramatischen Einakters „Gestern" fehlt bereits jeder
Glaube an die Einheit des Ichs:

Und dieser Glaube an die Einheit des Ichs ist ihm nicht nur durch Anempfindung,
durch die Lektüre der ausländischen Dekadenten abhanden gekommen, sondern
auch dadurch, daß ihm fehlt, worin sich das Ich am stärksten und vielleicht
einzig fühlt und beweist: das Handelnkönnen und selbst der Wille zum Handeln.
Der Held des Stückes sagt:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319779"/>
          <fw type="header" place="top"> Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_713" prev="#ID_712"> den einen als etwas sehr Heiliges, den anderen als etwas sehr Unheiliges<lb/>
erscheinen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_714"> Daß Hofmannsthal von solcher Bühne herab auch als Dramatiker un¬<lb/>
mittelbare Wirkung ausüben kann, hat er zum mindesten durch eines seiner der<lb/>
Antike entnommenen Stücke bewiesen, durch seine &#x201E;Elektra". So eng sich die<lb/>
Handlung zumeist der Sophokleischen anschließt, so ganz gehört dies Stück dem<lb/>
modernen Dichter. Der Schicksalsgedanke tritt diesmal zurück, obwohl auch<lb/>
hier von des &#x201E;dunkeln Schicksals finsterm Baum" die Rede ist, an den der<lb/>
Pfeil der Götter das Geschöpf nagele. Was herrscht, ist das von Sophokles<lb/>
nur leise und teilweise angedeutete, von Hofmannsthal breit und mit schauerlicher<lb/>
Bildkraft ausgeführte Kranksein der Gestalten. Krank ist Klntemnestra, die in<lb/>
einem halb unbewußten Augenblick zur Gattenmörderin wurde und nach dem<lb/>
Geschehnis (das ihr kaum Tat war) immer tiefer in Krankheit sank; krank, ja<lb/>
eine Wahnsinnige, ist Elektra, die das Wissen um das Entsetzliche, ein ent¬<lb/>
würdigtes Leben und die Maßlosigkeit jahrelangen Rachedurstes zerrütet haben;<lb/>
und etwas krankhaft Überreiztes liegt auch schon in der blühenden Chrysothemis,<lb/>
deren Begehren nach Mann und Kind zu lange der Befriedigung harrt. Man<lb/>
kann das Stück eine Krankheitsgeschichte nennen und kann wohl die Frage auf¬<lb/>
werfen, ob es Sache des Dichters sei, Krankheit um ihrer selbst willen darzu¬<lb/>
stellen; aber die gewaltige Kraft, mit der Hofmannsthal auf diesem Wege,<lb/>
vielleicht einem Irrwege, hinschreitet, ist unmöglich zu verkennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_715"> Richtet man den Blick auf das Krankhafte in Hofmannsthals &#x201E;Elektra",<lb/>
so hat man die Bindung zwischen den Schicksalsdichtungen und den anderen<lb/>
geistigen Erscheinungen der Zeit: es tritt das naturwissenschaftliche Element als<lb/>
Kittung zutage. Naturwissenschaft dürfte es gewesen sein, die im Ausgang der<lb/>
siebziger Jahre die &#x201E;Neuen" zur exakteren Lebensdarstellung trieb. Natur¬<lb/>
wissenschaft führte aus der Betrachtung des äußeren Lebens ins Psychologische,<lb/>
wo man denn auf jene grundlosen Tiefen stieß, vor denen Ödipus schaudert.<lb/>
Und von da aus ging es eben in die Zweifel an der Einheit des Ichs und<lb/>
weiter in die neue Fatalistik &#x2014; eine Entwicklung, die Hermann Bahr, der<lb/>
&#x201E;gute Kamerad" der Schaffenden und besonders der Impressionisten, frühzeitig<lb/>
zu einem großen Teil vorausgesagt hat. In dieser Entwicklungslinie, aber an<lb/>
einem verzweifelt späten Punkte, setzt Hofmannsthals Schaffen ein. Dem<lb/>
siebzehnjährigen Dichter des dramatischen Einakters &#x201E;Gestern" fehlt bereits jeder<lb/>
Glaube an die Einheit des Ichs:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_13" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_716"> Und dieser Glaube an die Einheit des Ichs ist ihm nicht nur durch Anempfindung,<lb/>
durch die Lektüre der ausländischen Dekadenten abhanden gekommen, sondern<lb/>
auch dadurch, daß ihm fehlt, worin sich das Ich am stärksten und vielleicht<lb/>
einzig fühlt und beweist: das Handelnkönnen und selbst der Wille zum Handeln.<lb/>
Der Held des Stückes sagt:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0178] Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung den einen als etwas sehr Heiliges, den anderen als etwas sehr Unheiliges erscheinen muß. Daß Hofmannsthal von solcher Bühne herab auch als Dramatiker un¬ mittelbare Wirkung ausüben kann, hat er zum mindesten durch eines seiner der Antike entnommenen Stücke bewiesen, durch seine „Elektra". So eng sich die Handlung zumeist der Sophokleischen anschließt, so ganz gehört dies Stück dem modernen Dichter. Der Schicksalsgedanke tritt diesmal zurück, obwohl auch hier von des „dunkeln Schicksals finsterm Baum" die Rede ist, an den der Pfeil der Götter das Geschöpf nagele. Was herrscht, ist das von Sophokles nur leise und teilweise angedeutete, von Hofmannsthal breit und mit schauerlicher Bildkraft ausgeführte Kranksein der Gestalten. Krank ist Klntemnestra, die in einem halb unbewußten Augenblick zur Gattenmörderin wurde und nach dem Geschehnis (das ihr kaum Tat war) immer tiefer in Krankheit sank; krank, ja eine Wahnsinnige, ist Elektra, die das Wissen um das Entsetzliche, ein ent¬ würdigtes Leben und die Maßlosigkeit jahrelangen Rachedurstes zerrütet haben; und etwas krankhaft Überreiztes liegt auch schon in der blühenden Chrysothemis, deren Begehren nach Mann und Kind zu lange der Befriedigung harrt. Man kann das Stück eine Krankheitsgeschichte nennen und kann wohl die Frage auf¬ werfen, ob es Sache des Dichters sei, Krankheit um ihrer selbst willen darzu¬ stellen; aber die gewaltige Kraft, mit der Hofmannsthal auf diesem Wege, vielleicht einem Irrwege, hinschreitet, ist unmöglich zu verkennen. Richtet man den Blick auf das Krankhafte in Hofmannsthals „Elektra", so hat man die Bindung zwischen den Schicksalsdichtungen und den anderen geistigen Erscheinungen der Zeit: es tritt das naturwissenschaftliche Element als Kittung zutage. Naturwissenschaft dürfte es gewesen sein, die im Ausgang der siebziger Jahre die „Neuen" zur exakteren Lebensdarstellung trieb. Natur¬ wissenschaft führte aus der Betrachtung des äußeren Lebens ins Psychologische, wo man denn auf jene grundlosen Tiefen stieß, vor denen Ödipus schaudert. Und von da aus ging es eben in die Zweifel an der Einheit des Ichs und weiter in die neue Fatalistik — eine Entwicklung, die Hermann Bahr, der „gute Kamerad" der Schaffenden und besonders der Impressionisten, frühzeitig zu einem großen Teil vorausgesagt hat. In dieser Entwicklungslinie, aber an einem verzweifelt späten Punkte, setzt Hofmannsthals Schaffen ein. Dem siebzehnjährigen Dichter des dramatischen Einakters „Gestern" fehlt bereits jeder Glaube an die Einheit des Ichs: Und dieser Glaube an die Einheit des Ichs ist ihm nicht nur durch Anempfindung, durch die Lektüre der ausländischen Dekadenten abhanden gekommen, sondern auch dadurch, daß ihm fehlt, worin sich das Ich am stärksten und vielleicht einzig fühlt und beweist: das Handelnkönnen und selbst der Wille zum Handeln. Der Held des Stückes sagt:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/178
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/178>, abgerufen am 23.07.2024.