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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung

gefolterten Jüngling. Ein berauschter Gefährte hat in Ödipus Zweifel an seiner
Herkunft erweckt, das delphische Orakel sollte ihm Gewißheit geben und schenkte
den: Entsetzten statt der erbetenen Antwort den Ausspruch, er werde den Vater
töten und die Mutter freien. Nun flieht er vor seinen: Geschick und fühlt es
doch über sich. In der bedrückenden Einsamkeit des Tempels ist ihm das
Dunkle und Tiefe der eigenen Seele ins Bewußtsein gedrungen, er spürte:
"hier ist kein Grund: dem Weltmeer ist ein Grund gesetzt -- ihr nicht," und
dann hat ihn das Orakel so getroffen, daß er mit dem frohen Ödipus von
ehedem nichts mehr gemein hat:

Wiederum macht sich dies "Gestern" fürchterlich bemerkbar, denn aus dem
Sturm klingen die Stimmen der Ahnen, deren Leidenschaften seinen Weg hervor¬
rufen :

Alle diese Schicksalsdinge sind von geheimnisvollen Worten und Rhythmen
umschleiert, aus denen sie um so gespenstischer hervorleuchten. Daß Hofmannsthal
-- freilich sehr ausnahmsweise -- auch das einfacher Menschliche mit hinreißender
Lyrik darzustellen vermag, beweist er in demselben Akte, in dem er schildert, wie
sich Odipus auf der Flucht vor seinem Schicksal von Heimat und (den vermeint¬
lichen) Eltern losreißt. In Versen, die von der Klangschönheit als einzigem
Gesetz geregelt sind, beauftragt der Verstörte seinen alten Diener:


Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung

gefolterten Jüngling. Ein berauschter Gefährte hat in Ödipus Zweifel an seiner
Herkunft erweckt, das delphische Orakel sollte ihm Gewißheit geben und schenkte
den: Entsetzten statt der erbetenen Antwort den Ausspruch, er werde den Vater
töten und die Mutter freien. Nun flieht er vor seinen: Geschick und fühlt es
doch über sich. In der bedrückenden Einsamkeit des Tempels ist ihm das
Dunkle und Tiefe der eigenen Seele ins Bewußtsein gedrungen, er spürte:
„hier ist kein Grund: dem Weltmeer ist ein Grund gesetzt — ihr nicht," und
dann hat ihn das Orakel so getroffen, daß er mit dem frohen Ödipus von
ehedem nichts mehr gemein hat:

Wiederum macht sich dies „Gestern" fürchterlich bemerkbar, denn aus dem
Sturm klingen die Stimmen der Ahnen, deren Leidenschaften seinen Weg hervor¬
rufen :

Alle diese Schicksalsdinge sind von geheimnisvollen Worten und Rhythmen
umschleiert, aus denen sie um so gespenstischer hervorleuchten. Daß Hofmannsthal
— freilich sehr ausnahmsweise — auch das einfacher Menschliche mit hinreißender
Lyrik darzustellen vermag, beweist er in demselben Akte, in dem er schildert, wie
sich Odipus auf der Flucht vor seinem Schicksal von Heimat und (den vermeint¬
lichen) Eltern losreißt. In Versen, die von der Klangschönheit als einzigem
Gesetz geregelt sind, beauftragt der Verstörte seinen alten Diener:


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[0176] Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung gefolterten Jüngling. Ein berauschter Gefährte hat in Ödipus Zweifel an seiner Herkunft erweckt, das delphische Orakel sollte ihm Gewißheit geben und schenkte den: Entsetzten statt der erbetenen Antwort den Ausspruch, er werde den Vater töten und die Mutter freien. Nun flieht er vor seinen: Geschick und fühlt es doch über sich. In der bedrückenden Einsamkeit des Tempels ist ihm das Dunkle und Tiefe der eigenen Seele ins Bewußtsein gedrungen, er spürte: „hier ist kein Grund: dem Weltmeer ist ein Grund gesetzt — ihr nicht," und dann hat ihn das Orakel so getroffen, daß er mit dem frohen Ödipus von ehedem nichts mehr gemein hat: Wiederum macht sich dies „Gestern" fürchterlich bemerkbar, denn aus dem Sturm klingen die Stimmen der Ahnen, deren Leidenschaften seinen Weg hervor¬ rufen : Alle diese Schicksalsdinge sind von geheimnisvollen Worten und Rhythmen umschleiert, aus denen sie um so gespenstischer hervorleuchten. Daß Hofmannsthal — freilich sehr ausnahmsweise — auch das einfacher Menschliche mit hinreißender Lyrik darzustellen vermag, beweist er in demselben Akte, in dem er schildert, wie sich Odipus auf der Flucht vor seinem Schicksal von Heimat und (den vermeint¬ lichen) Eltern losreißt. In Versen, die von der Klangschönheit als einzigem Gesetz geregelt sind, beauftragt der Verstörte seinen alten Diener:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/176>, abgerufen am 23.07.2024.