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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Neuwiener Schicksals- und Stimmunasdichtung

Genuß, denn zu dem tatsächlichen Dasein des Tages tritt, vielleicht als aus¬
gleichende Gerechtigkeit, das möglicherweise nicht minder tatsächliche Leben des
Traumes, und weiter das Ahnungsleben, das Ahnen nämlich von dem geheimnis¬
vollen Zusammenhang des schwankenden, des imaginären Ichs mit dem ganzen
Gefüge des bunten, unendlichen Lebens. Hier ist die Bindung gegeben zwischen
Beer-Hofmanns Schicksalsfanatismus dem einzelnen gegenüber, dessen Indivi¬
dualität er ja verneint, und jener Philosophie des Impressionismus, die Hermann
Bahr verkündet und die sich als ein Einbruch des Alls in die Schranken der
Persönlichkeit darstellt.

Wer Blumen betrachtet, schenkt den ersten Blick gewöhnlich der grellsten
Blüte (die bisweilen die größte Schönheit und das meiste Gift in sich vereinigt);
danach verweilt er bei den minder auffälligen, dann erst gleitet das Auge stengel-
abwärts, und zuletzt wird ein wissenschaftliches Interesse am Wurzelwerk und
Boden rege werden. Zu den minder auffälligen Blüten der gleichen Art gehören
einige Dichtungen Hugo v. Hofmannsthals, nicht deshalb, weil er dem Schicksal
eine geringere Macht, dem Ich eine größere Sicherheit zuschreibt als Beer-
Hofmann, sondern weil er zum mindesten den psychologischen Unmöglichkeiten
aus dem Wege geht und die einzelnen Charaktere bruchlos darstellt. Aber
die Grundanschauungen beider Dichter gleichen sich völlig, und man darf wohl
in Hofmannsthal, trotzdem der 1874 Geborene fast acht Jahre jünger ist als
Beer-Hofmann, den Meister des "Charolais"-Dichters, ja den eigentlichen
Begründer dieses ganzen österreichischen Literaturgebietes sehen. Frühzeitig
von der impressionistischen Kunst der französischen und belgischen, italienischen
und englischen Moderne genährt, hat er dem so überkommenen europäischen
Gesamtgut doch ein eigenes -- vielleicht weiches Gefühls-, sicherlich schwelge¬
risches Sprachgepräge zu geben vermocht").

Ihn lockt es zu der Verhängnisdichtung der Antike; er verdeutscht den
Sophoklcischen "Ödipus", denn Jokastes Worte:

enthalten ja im Kern alles, was Hofmannsthal selber bewegt. Aber schließlich
bietet ihm die Antike doch nur knappe Andeutungen und maßvolle Hinweise,
und so bemächtigt er sich ihrer Stoffe und schaltet mit ihnen in zügelloser
Freiheit. Die Tragödie "Ödipus und die Sphinx" ist ganz Hofmannsthals
eigenes Werk. Ein mächtiger erster Akt zeigt den plötzlich um die Sicherheit
seines Jchempfindens gebrachten, plötzlich von den Ahnungen ererbter Bestimmung



*) Ein Teil der Werke Hofmannsthals ist bei S. Fischer in Berlin erschienen, ein anderer
im Jnselberlag zu Leipzig, wo soeben ein Sammelband "Gedichte und kleine Dramen" heraus¬
gekommen ist, der zur Einführung in die Kunst Hofmannsthnls sehr geeignet ist.
Neuwiener Schicksals- und Stimmunasdichtung

Genuß, denn zu dem tatsächlichen Dasein des Tages tritt, vielleicht als aus¬
gleichende Gerechtigkeit, das möglicherweise nicht minder tatsächliche Leben des
Traumes, und weiter das Ahnungsleben, das Ahnen nämlich von dem geheimnis¬
vollen Zusammenhang des schwankenden, des imaginären Ichs mit dem ganzen
Gefüge des bunten, unendlichen Lebens. Hier ist die Bindung gegeben zwischen
Beer-Hofmanns Schicksalsfanatismus dem einzelnen gegenüber, dessen Indivi¬
dualität er ja verneint, und jener Philosophie des Impressionismus, die Hermann
Bahr verkündet und die sich als ein Einbruch des Alls in die Schranken der
Persönlichkeit darstellt.

Wer Blumen betrachtet, schenkt den ersten Blick gewöhnlich der grellsten
Blüte (die bisweilen die größte Schönheit und das meiste Gift in sich vereinigt);
danach verweilt er bei den minder auffälligen, dann erst gleitet das Auge stengel-
abwärts, und zuletzt wird ein wissenschaftliches Interesse am Wurzelwerk und
Boden rege werden. Zu den minder auffälligen Blüten der gleichen Art gehören
einige Dichtungen Hugo v. Hofmannsthals, nicht deshalb, weil er dem Schicksal
eine geringere Macht, dem Ich eine größere Sicherheit zuschreibt als Beer-
Hofmann, sondern weil er zum mindesten den psychologischen Unmöglichkeiten
aus dem Wege geht und die einzelnen Charaktere bruchlos darstellt. Aber
die Grundanschauungen beider Dichter gleichen sich völlig, und man darf wohl
in Hofmannsthal, trotzdem der 1874 Geborene fast acht Jahre jünger ist als
Beer-Hofmann, den Meister des „Charolais"-Dichters, ja den eigentlichen
Begründer dieses ganzen österreichischen Literaturgebietes sehen. Frühzeitig
von der impressionistischen Kunst der französischen und belgischen, italienischen
und englischen Moderne genährt, hat er dem so überkommenen europäischen
Gesamtgut doch ein eigenes — vielleicht weiches Gefühls-, sicherlich schwelge¬
risches Sprachgepräge zu geben vermocht").

Ihn lockt es zu der Verhängnisdichtung der Antike; er verdeutscht den
Sophoklcischen „Ödipus", denn Jokastes Worte:

enthalten ja im Kern alles, was Hofmannsthal selber bewegt. Aber schließlich
bietet ihm die Antike doch nur knappe Andeutungen und maßvolle Hinweise,
und so bemächtigt er sich ihrer Stoffe und schaltet mit ihnen in zügelloser
Freiheit. Die Tragödie „Ödipus und die Sphinx" ist ganz Hofmannsthals
eigenes Werk. Ein mächtiger erster Akt zeigt den plötzlich um die Sicherheit
seines Jchempfindens gebrachten, plötzlich von den Ahnungen ererbter Bestimmung



*) Ein Teil der Werke Hofmannsthals ist bei S. Fischer in Berlin erschienen, ein anderer
im Jnselberlag zu Leipzig, wo soeben ein Sammelband „Gedichte und kleine Dramen" heraus¬
gekommen ist, der zur Einführung in die Kunst Hofmannsthnls sehr geeignet ist.
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[0175] Neuwiener Schicksals- und Stimmunasdichtung Genuß, denn zu dem tatsächlichen Dasein des Tages tritt, vielleicht als aus¬ gleichende Gerechtigkeit, das möglicherweise nicht minder tatsächliche Leben des Traumes, und weiter das Ahnungsleben, das Ahnen nämlich von dem geheimnis¬ vollen Zusammenhang des schwankenden, des imaginären Ichs mit dem ganzen Gefüge des bunten, unendlichen Lebens. Hier ist die Bindung gegeben zwischen Beer-Hofmanns Schicksalsfanatismus dem einzelnen gegenüber, dessen Indivi¬ dualität er ja verneint, und jener Philosophie des Impressionismus, die Hermann Bahr verkündet und die sich als ein Einbruch des Alls in die Schranken der Persönlichkeit darstellt. Wer Blumen betrachtet, schenkt den ersten Blick gewöhnlich der grellsten Blüte (die bisweilen die größte Schönheit und das meiste Gift in sich vereinigt); danach verweilt er bei den minder auffälligen, dann erst gleitet das Auge stengel- abwärts, und zuletzt wird ein wissenschaftliches Interesse am Wurzelwerk und Boden rege werden. Zu den minder auffälligen Blüten der gleichen Art gehören einige Dichtungen Hugo v. Hofmannsthals, nicht deshalb, weil er dem Schicksal eine geringere Macht, dem Ich eine größere Sicherheit zuschreibt als Beer- Hofmann, sondern weil er zum mindesten den psychologischen Unmöglichkeiten aus dem Wege geht und die einzelnen Charaktere bruchlos darstellt. Aber die Grundanschauungen beider Dichter gleichen sich völlig, und man darf wohl in Hofmannsthal, trotzdem der 1874 Geborene fast acht Jahre jünger ist als Beer-Hofmann, den Meister des „Charolais"-Dichters, ja den eigentlichen Begründer dieses ganzen österreichischen Literaturgebietes sehen. Frühzeitig von der impressionistischen Kunst der französischen und belgischen, italienischen und englischen Moderne genährt, hat er dem so überkommenen europäischen Gesamtgut doch ein eigenes — vielleicht weiches Gefühls-, sicherlich schwelge¬ risches Sprachgepräge zu geben vermocht"). Ihn lockt es zu der Verhängnisdichtung der Antike; er verdeutscht den Sophoklcischen „Ödipus", denn Jokastes Worte: enthalten ja im Kern alles, was Hofmannsthal selber bewegt. Aber schließlich bietet ihm die Antike doch nur knappe Andeutungen und maßvolle Hinweise, und so bemächtigt er sich ihrer Stoffe und schaltet mit ihnen in zügelloser Freiheit. Die Tragödie „Ödipus und die Sphinx" ist ganz Hofmannsthals eigenes Werk. Ein mächtiger erster Akt zeigt den plötzlich um die Sicherheit seines Jchempfindens gebrachten, plötzlich von den Ahnungen ererbter Bestimmung *) Ein Teil der Werke Hofmannsthals ist bei S. Fischer in Berlin erschienen, ein anderer im Jnselberlag zu Leipzig, wo soeben ein Sammelband „Gedichte und kleine Dramen" heraus¬ gekommen ist, der zur Einführung in die Kunst Hofmannsthnls sehr geeignet ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/175>, abgerufen am 23.07.2024.