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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Ncuwicncr Schicksals- und Stimmungsdichtung

nämlich sind zwar überzeugt, daß sie einer Schicksalsfügung unterstehen, aber
eine Sicherheit haben sie doch: ihrer selbst glauben sie sicher zu sein, sie glauben
bestimmt nichts tun zu können, was ihrem eigenen inneren Wesen widerspräche.
An: stärksten drückt das Charolais mit diesen Worten aus:

Und so wie Charolais, denken der Präsident und Deftrse, und nun --
dies ist die bruchlos folgerichtige Entwicklung eines Schicksalsfanatikers -- zeigt
ihnen das Schicksal, daß es buchstäblich über allen Dingen Herr ist und aus¬
nahmslos über allen, daß es auch die Persönlichkeit dem eigenen Selbst zu
entfremden vermag. Dösiree begeht im Taumel einer verführenden Stunde
schändlichen Ehebruch, der Präsident muß sie selber des Todes schuldig erklären,
und Charolais tut als leidenschaftlicher Rücher seiner Ehre, was ihm nun doch
Reue auf die Stirn und Ekel auf die Lippen legen wird. Und Desiröe sagt,
sie wisse nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt habe, und Charolais lehnt die
Verantwortung am Tode seiner Gattin ab:

Dies also ist der letzte Sinn des Stückes, der vielleicht manchem anders
gerichteten als ein Unsinn erscheinen mag, zumal ja Desiröes Verhalten auch
in den physiologischen Einzelheiten fast unerklärlich bleibt, aber doch, wie gesagt,
ein mit bruchloser Folgerichtigkeit herausgearbeiteter Sinn: daß Schicksal noch
mehr sei als vererbte Anlage und äußerer Zufall, dem ein noch so belastetes
und gebundenes Ich doch immerhin irgend etwas entgegenzusetzen hat, daß es
vielmehr die allmächtige, in der Außenwelt wie in der menschlichen Seele
unumschränkt herrschende Sinnlosigkeit sei, der gegenüber der Mensch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Spielball bestehe.

Dieses Furchtbare, das Beer-Hofmann im "Charolais" wenigstens als ein
Tragisches hinstellt, suchte er in einer früheren Dichtung, der lyrisch ver¬
schwimmenden Erzählung "Der Tod Georgs" gar als etwas beinahe Erfreu¬
liches zu bezeichnen. Dort ist dein Einzelnen die Verantwortung für sein Tun
und Lassen abgenommen, alles, was ihm geschieht, ist Schicksalsspiel, und alles,
was ihm geschieht, hat Bedeutung, weil es zugleich Schicksal für andere bildet,
weil er gar kein einzelner, sondern nur ein Mosaikstein im Weltgefüge ist.
Und dieses verantwortungslose und verschwimmende Leben birgt dreifachen


Ncuwicncr Schicksals- und Stimmungsdichtung

nämlich sind zwar überzeugt, daß sie einer Schicksalsfügung unterstehen, aber
eine Sicherheit haben sie doch: ihrer selbst glauben sie sicher zu sein, sie glauben
bestimmt nichts tun zu können, was ihrem eigenen inneren Wesen widerspräche.
An: stärksten drückt das Charolais mit diesen Worten aus:

Und so wie Charolais, denken der Präsident und Deftrse, und nun —
dies ist die bruchlos folgerichtige Entwicklung eines Schicksalsfanatikers — zeigt
ihnen das Schicksal, daß es buchstäblich über allen Dingen Herr ist und aus¬
nahmslos über allen, daß es auch die Persönlichkeit dem eigenen Selbst zu
entfremden vermag. Dösiree begeht im Taumel einer verführenden Stunde
schändlichen Ehebruch, der Präsident muß sie selber des Todes schuldig erklären,
und Charolais tut als leidenschaftlicher Rücher seiner Ehre, was ihm nun doch
Reue auf die Stirn und Ekel auf die Lippen legen wird. Und Desiröe sagt,
sie wisse nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt habe, und Charolais lehnt die
Verantwortung am Tode seiner Gattin ab:

Dies also ist der letzte Sinn des Stückes, der vielleicht manchem anders
gerichteten als ein Unsinn erscheinen mag, zumal ja Desiröes Verhalten auch
in den physiologischen Einzelheiten fast unerklärlich bleibt, aber doch, wie gesagt,
ein mit bruchloser Folgerichtigkeit herausgearbeiteter Sinn: daß Schicksal noch
mehr sei als vererbte Anlage und äußerer Zufall, dem ein noch so belastetes
und gebundenes Ich doch immerhin irgend etwas entgegenzusetzen hat, daß es
vielmehr die allmächtige, in der Außenwelt wie in der menschlichen Seele
unumschränkt herrschende Sinnlosigkeit sei, der gegenüber der Mensch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Spielball bestehe.

Dieses Furchtbare, das Beer-Hofmann im „Charolais" wenigstens als ein
Tragisches hinstellt, suchte er in einer früheren Dichtung, der lyrisch ver¬
schwimmenden Erzählung „Der Tod Georgs" gar als etwas beinahe Erfreu¬
liches zu bezeichnen. Dort ist dein Einzelnen die Verantwortung für sein Tun
und Lassen abgenommen, alles, was ihm geschieht, ist Schicksalsspiel, und alles,
was ihm geschieht, hat Bedeutung, weil es zugleich Schicksal für andere bildet,
weil er gar kein einzelner, sondern nur ein Mosaikstein im Weltgefüge ist.
Und dieses verantwortungslose und verschwimmende Leben birgt dreifachen


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[0174] Ncuwicncr Schicksals- und Stimmungsdichtung nämlich sind zwar überzeugt, daß sie einer Schicksalsfügung unterstehen, aber eine Sicherheit haben sie doch: ihrer selbst glauben sie sicher zu sein, sie glauben bestimmt nichts tun zu können, was ihrem eigenen inneren Wesen widerspräche. An: stärksten drückt das Charolais mit diesen Worten aus: Und so wie Charolais, denken der Präsident und Deftrse, und nun — dies ist die bruchlos folgerichtige Entwicklung eines Schicksalsfanatikers — zeigt ihnen das Schicksal, daß es buchstäblich über allen Dingen Herr ist und aus¬ nahmslos über allen, daß es auch die Persönlichkeit dem eigenen Selbst zu entfremden vermag. Dösiree begeht im Taumel einer verführenden Stunde schändlichen Ehebruch, der Präsident muß sie selber des Todes schuldig erklären, und Charolais tut als leidenschaftlicher Rücher seiner Ehre, was ihm nun doch Reue auf die Stirn und Ekel auf die Lippen legen wird. Und Desiröe sagt, sie wisse nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt habe, und Charolais lehnt die Verantwortung am Tode seiner Gattin ab: Dies also ist der letzte Sinn des Stückes, der vielleicht manchem anders gerichteten als ein Unsinn erscheinen mag, zumal ja Desiröes Verhalten auch in den physiologischen Einzelheiten fast unerklärlich bleibt, aber doch, wie gesagt, ein mit bruchloser Folgerichtigkeit herausgearbeiteter Sinn: daß Schicksal noch mehr sei als vererbte Anlage und äußerer Zufall, dem ein noch so belastetes und gebundenes Ich doch immerhin irgend etwas entgegenzusetzen hat, daß es vielmehr die allmächtige, in der Außenwelt wie in der menschlichen Seele unumschränkt herrschende Sinnlosigkeit sei, der gegenüber der Mensch nicht als Persönlichkeit, sondern als Spielball bestehe. Dieses Furchtbare, das Beer-Hofmann im „Charolais" wenigstens als ein Tragisches hinstellt, suchte er in einer früheren Dichtung, der lyrisch ver¬ schwimmenden Erzählung „Der Tod Georgs" gar als etwas beinahe Erfreu¬ liches zu bezeichnen. Dort ist dein Einzelnen die Verantwortung für sein Tun und Lassen abgenommen, alles, was ihm geschieht, ist Schicksalsspiel, und alles, was ihm geschieht, hat Bedeutung, weil es zugleich Schicksal für andere bildet, weil er gar kein einzelner, sondern nur ein Mosaikstein im Weltgefüge ist. Und dieses verantwortungslose und verschwimmende Leben birgt dreifachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/174>, abgerufen am 23.07.2024.