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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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hat sich das offizielle Frankreich unter erzwungener oder klug-freiwilliger
Zustimmung Englands durch das Angebot territorialer Entschädigung
bereit erklärt. Wo diese Entschädigung liegen solle, das war eine Frage der
Zweckmäßigkeit.

Und da frage ich weiter: Hat das Susgebiet wirklich die politische Be¬
deutung für uns, die ihm unsere nationalistische Presse zuerteilt? Man verweist
auf die Möglichkeit Frankreichs, sein Heer aus Marokko zu ergänzen. Ganz
abgesehen davon, daß unsere Militärs die Bedeutung und Stärke dieser farbigen
Truppen nicht sehr hoch anschlagen -- aber die Möglichkeit, in Marokko zu
rekrutieren, hat Frankreich ja, einerlei ob uns das Susgebiet gehören wird
oder ob wir am Kongo entschädigt werden. Jedoch, vom Sus aus, so behauptet
mau, kann Deutschland in einem Krieg mit Frankreich ganz Nordafrika revol¬
tieren. Das ist eine Behauptung, der sich die andere gegenüberstellen läßt,
daß uns das Sus, mitten im französischen Kolonialgebiet gelegen, bei seiner
notgedrungen schwachen Besatzung sofort entrissen wird. Gewiß, beim Friedens¬
schluß erhalten wir es wieder. Aber seine Aufgabe, ein Revolutionsherd für
Französisch-Nordafrika zu sein, dürfte es während des Krieges schlecht genug
erfüllt haben.

Das Susgebiet, so wird freilich weiter gesagt, hat aussichtsvolles Ansiedlungs-
gebiet. Die Kenner sagen's, also ist es wahr. Und das ist etwas, was gerade
mich, der ich in so zahlreichen Aufsätzen der "Altdeutschen Blätter" als Haupt¬
mangel der auswärtigen Politik Bülows dessen zu geringes Streben nach
Ansiedlungsgebiet aufgedeckt habe, reizen mußte. Ich verzichte deshalb auf den
Einwand, daß das Deutsche Reich augenblicklich Menschen nicht aus-, sondern
einführt, daß im besonderen der Deutsche, wenn er auswandert, amerikanischen
Boden bevorzugt, daß auch unser Südwest und der Kilimandscharo keineswegs
von Ansiedlern überlaufen werden. Ich setze sogar den Fall: die Möglichkeit, den
Auswandererstrom über den Atlantischen Ozean zurückzulenken, wäre vielleicht
gegeben, wenn uns in unseren Kolonien besseres Ansiedlungsland zu Gebote
stände. Aber wer verbürgt sich, daß Marokko mit seiner heißen Sonne trotz der
kühlenden Nähe des Atlas wirklich sür die Mehrzahl unserer bäuerlichen Aus¬
wanderer etwas Lockendes hätte? Auf jeden Fall aber (und das schlägt in. E.
die ganze Politik unserer nationalistischen Presse) mit ihrem: Entweder zieht
sich Frankreich aus Marokko zurück oder wir nehmen das Susgebiet, bestätigen
die Herren vom Altdeutschen Verband neuerdings, daß ihr Glaube an das Sus¬
gebiet als eine deutsche Lebensnotwendigkeit nicht allzu groß ist. Gesetzt, Frank¬
reich täte ihnen den Gefallen und verließe Marokko wieder -- wo bliebe dann
für Deutschland dort das doch angeblich so unsagbar notwendige Ansiedlungsgebiet?

Und selbst angenommen, das Susgebiet wäre ein Stück Erde, auf das
unsere Bauern erpicht wären, daß sie seinetwegen lieber einen Krieg riskieren
als auf es für Kongoland verzichten würden. Ist denn der Landhunger des
deutschen Bauern für die auswärtige Politik Deutschlands allein maßgebend?


Line Lnnnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

hat sich das offizielle Frankreich unter erzwungener oder klug-freiwilliger
Zustimmung Englands durch das Angebot territorialer Entschädigung
bereit erklärt. Wo diese Entschädigung liegen solle, das war eine Frage der
Zweckmäßigkeit.

Und da frage ich weiter: Hat das Susgebiet wirklich die politische Be¬
deutung für uns, die ihm unsere nationalistische Presse zuerteilt? Man verweist
auf die Möglichkeit Frankreichs, sein Heer aus Marokko zu ergänzen. Ganz
abgesehen davon, daß unsere Militärs die Bedeutung und Stärke dieser farbigen
Truppen nicht sehr hoch anschlagen — aber die Möglichkeit, in Marokko zu
rekrutieren, hat Frankreich ja, einerlei ob uns das Susgebiet gehören wird
oder ob wir am Kongo entschädigt werden. Jedoch, vom Sus aus, so behauptet
mau, kann Deutschland in einem Krieg mit Frankreich ganz Nordafrika revol¬
tieren. Das ist eine Behauptung, der sich die andere gegenüberstellen läßt,
daß uns das Sus, mitten im französischen Kolonialgebiet gelegen, bei seiner
notgedrungen schwachen Besatzung sofort entrissen wird. Gewiß, beim Friedens¬
schluß erhalten wir es wieder. Aber seine Aufgabe, ein Revolutionsherd für
Französisch-Nordafrika zu sein, dürfte es während des Krieges schlecht genug
erfüllt haben.

Das Susgebiet, so wird freilich weiter gesagt, hat aussichtsvolles Ansiedlungs-
gebiet. Die Kenner sagen's, also ist es wahr. Und das ist etwas, was gerade
mich, der ich in so zahlreichen Aufsätzen der „Altdeutschen Blätter" als Haupt¬
mangel der auswärtigen Politik Bülows dessen zu geringes Streben nach
Ansiedlungsgebiet aufgedeckt habe, reizen mußte. Ich verzichte deshalb auf den
Einwand, daß das Deutsche Reich augenblicklich Menschen nicht aus-, sondern
einführt, daß im besonderen der Deutsche, wenn er auswandert, amerikanischen
Boden bevorzugt, daß auch unser Südwest und der Kilimandscharo keineswegs
von Ansiedlern überlaufen werden. Ich setze sogar den Fall: die Möglichkeit, den
Auswandererstrom über den Atlantischen Ozean zurückzulenken, wäre vielleicht
gegeben, wenn uns in unseren Kolonien besseres Ansiedlungsland zu Gebote
stände. Aber wer verbürgt sich, daß Marokko mit seiner heißen Sonne trotz der
kühlenden Nähe des Atlas wirklich sür die Mehrzahl unserer bäuerlichen Aus¬
wanderer etwas Lockendes hätte? Auf jeden Fall aber (und das schlägt in. E.
die ganze Politik unserer nationalistischen Presse) mit ihrem: Entweder zieht
sich Frankreich aus Marokko zurück oder wir nehmen das Susgebiet, bestätigen
die Herren vom Altdeutschen Verband neuerdings, daß ihr Glaube an das Sus¬
gebiet als eine deutsche Lebensnotwendigkeit nicht allzu groß ist. Gesetzt, Frank¬
reich täte ihnen den Gefallen und verließe Marokko wieder — wo bliebe dann
für Deutschland dort das doch angeblich so unsagbar notwendige Ansiedlungsgebiet?

Und selbst angenommen, das Susgebiet wäre ein Stück Erde, auf das
unsere Bauern erpicht wären, daß sie seinetwegen lieber einen Krieg riskieren
als auf es für Kongoland verzichten würden. Ist denn der Landhunger des
deutschen Bauern für die auswärtige Politik Deutschlands allein maßgebend?


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[0169] Line Lnnnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung hat sich das offizielle Frankreich unter erzwungener oder klug-freiwilliger Zustimmung Englands durch das Angebot territorialer Entschädigung bereit erklärt. Wo diese Entschädigung liegen solle, das war eine Frage der Zweckmäßigkeit. Und da frage ich weiter: Hat das Susgebiet wirklich die politische Be¬ deutung für uns, die ihm unsere nationalistische Presse zuerteilt? Man verweist auf die Möglichkeit Frankreichs, sein Heer aus Marokko zu ergänzen. Ganz abgesehen davon, daß unsere Militärs die Bedeutung und Stärke dieser farbigen Truppen nicht sehr hoch anschlagen — aber die Möglichkeit, in Marokko zu rekrutieren, hat Frankreich ja, einerlei ob uns das Susgebiet gehören wird oder ob wir am Kongo entschädigt werden. Jedoch, vom Sus aus, so behauptet mau, kann Deutschland in einem Krieg mit Frankreich ganz Nordafrika revol¬ tieren. Das ist eine Behauptung, der sich die andere gegenüberstellen läßt, daß uns das Sus, mitten im französischen Kolonialgebiet gelegen, bei seiner notgedrungen schwachen Besatzung sofort entrissen wird. Gewiß, beim Friedens¬ schluß erhalten wir es wieder. Aber seine Aufgabe, ein Revolutionsherd für Französisch-Nordafrika zu sein, dürfte es während des Krieges schlecht genug erfüllt haben. Das Susgebiet, so wird freilich weiter gesagt, hat aussichtsvolles Ansiedlungs- gebiet. Die Kenner sagen's, also ist es wahr. Und das ist etwas, was gerade mich, der ich in so zahlreichen Aufsätzen der „Altdeutschen Blätter" als Haupt¬ mangel der auswärtigen Politik Bülows dessen zu geringes Streben nach Ansiedlungsgebiet aufgedeckt habe, reizen mußte. Ich verzichte deshalb auf den Einwand, daß das Deutsche Reich augenblicklich Menschen nicht aus-, sondern einführt, daß im besonderen der Deutsche, wenn er auswandert, amerikanischen Boden bevorzugt, daß auch unser Südwest und der Kilimandscharo keineswegs von Ansiedlern überlaufen werden. Ich setze sogar den Fall: die Möglichkeit, den Auswandererstrom über den Atlantischen Ozean zurückzulenken, wäre vielleicht gegeben, wenn uns in unseren Kolonien besseres Ansiedlungsland zu Gebote stände. Aber wer verbürgt sich, daß Marokko mit seiner heißen Sonne trotz der kühlenden Nähe des Atlas wirklich sür die Mehrzahl unserer bäuerlichen Aus¬ wanderer etwas Lockendes hätte? Auf jeden Fall aber (und das schlägt in. E. die ganze Politik unserer nationalistischen Presse) mit ihrem: Entweder zieht sich Frankreich aus Marokko zurück oder wir nehmen das Susgebiet, bestätigen die Herren vom Altdeutschen Verband neuerdings, daß ihr Glaube an das Sus¬ gebiet als eine deutsche Lebensnotwendigkeit nicht allzu groß ist. Gesetzt, Frank¬ reich täte ihnen den Gefallen und verließe Marokko wieder — wo bliebe dann für Deutschland dort das doch angeblich so unsagbar notwendige Ansiedlungsgebiet? Und selbst angenommen, das Susgebiet wäre ein Stück Erde, auf das unsere Bauern erpicht wären, daß sie seinetwegen lieber einen Krieg riskieren als auf es für Kongoland verzichten würden. Ist denn der Landhunger des deutschen Bauern für die auswärtige Politik Deutschlands allein maßgebend?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/169>, abgerufen am 29.06.2024.