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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Manchen Leser dürfte das harte Urteil
über Friedrich Naumann überraschen. Wenn
man ihn für die Störung des Bülowschen
Blocks auch vielleicht nicht in dem Maß, wie
Ziegler es tut, verantwortlich macheu will,
so wird man ihm doch darin beistimmen
müssen, daß Naumanns Wirksamkeit sich
überwiegend als die eines Ästheten darstellt.
Es scheint, als ob seit seinein Eintritt in den
Reichstag auch manchem seiner Anhänger
darüber ein Licht aufgehe und sein Einfluß
im Schwinden sei. Jedenfalls ist er mehr
ein Mann der behenden agitatorischen For¬
mulierung, als ein Politiker, der seine An¬
regungen ruhig auszubauen sucht. DaS eine
scheint uns Theobald Ziegler allerdings nicht
genügend hoch anzuschlagen, daß Naumann
unendlich viel zur Erweckung des politischen
Denkens schlechthin in den Kreisen des gleich¬
gültigen Bürgertums beigetragen hat. Jahre¬
lang hat er gerade den aus falscher Vor¬
nehmheit oder Schwäche sich zurückhaltender
Schichten der Bildung Teilnahme am
Leben des Staates und Besinnung auf ihre
staatsbürgerlichen Pflichten gepredigt. Das
soll ihm nicht vergessen werden, wenn man
ihm auch auf den Wegen, die er in: einzelnen
vorschlägt, nicht folgen kann.

Überschaut man die Geschichte der poli¬
tischen Parteien in den letzten Jahrzehnten,
wie sie der Verfasser in allerdings nur
flüchtigen Umrissen zeichnet, so fällt die geringe
geistige Fortentwicklung der Konservativen
umso stärker ins Auge, je mehr die kon¬
servative Partei Englands erst jüngst wieder
ihre Beweglichkeit, auch Waffen und For¬
derungen des Gegners in ihr Arsenal auf¬
zunehmen, an den Tag gelegt hat. Nicht
ohne Ironie erinnert Ziegler daran, daß die
Partei als solche über die Gedanken ihrer
Gründungszeit nicht hinausgewachsen ist und
immer noch von dein jüdischen Geisteskapital
Stahls zehrt, dessen Charakteristik übrigens,
was sein Verhältnis zum konstitutionellen
Staat betrifft, doch gewisser Ergänzungen
bedarf.

Die Frage nach dem konfessionellen Cha¬
rakter des Zentrums nennt Ziegler berechtigter¬
weise einen Streit um des Kaisers Bart.
Er kleidet seine eigene Meinung hier in eine
sehr glückliche Form: "Es ist eine Politische

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Partei, die alles unter konfessionellen Gesichts¬
punkt betrachtet, und es ist eine kirchliche
Partei, deren Kirche und Kirchlichkeit
politisch ist, und die in allem eine Machtfrage
sieht." Ohne die größere Zuverlässigkeit des
Zentrums in nationaler Hinsicht zu verkennen,
warnt der Verfasser, unseres Erachtens mit
vollem Recht, vor einer Verherrlichung dieser
Partei, wie sie ihr Geschichtsschreiber Martin
spähn, der Straßburger Kollege Zieglers,
anstimme, wenn er behauptet, das Zentrum
habe allezeit (!) danach gestrebt, "die Kräfte,
die in der Gesamtheit unserer arbeitenden
Stände lebendig sind, für die Entwicklung
des Reiches fruchtbar heranzuziehen; seine
Fahnen flattern überall, wo deutscher Sinn
und deutsches Recht hochgehalten wird, ohne
Unterschied des Gaues und der Klasse."
Diesen Überschwang, meint Theobald Ziegler
mit gutem Humor, hätte sich ein im Elsaß
lebender Historiker am wenigsten gestatten
dürfen. Es mag erwähnt sein, daß eine
ähnlich skeptische Auffassung vor kurzem auch
von ariderer Seite, in den Ausführungen
des Staatsrechtlehrers Freiherrn von Stengel
(Deutsche Rundschau, Juniheft 1911), zum
Ausdruck gekommen ist.

Or. U). Andreas -
Justiz und Verwaltung

Bemerkungen zur Reform des Jngend-
srrafrechts. Am "reisten Schwierigkeiten be¬
reitet den Theoretikern bei der Reform des
Jugendstrafrechts Wohl die Auswahl und
Gestaltung der Strafmittel. Daß die "Ge¬
fängnisstrafe" überhaupt vom Standpunkt
der Volksgesundheit und aus anderen Gründen
sehr große Bedenken gegen sich hat, die auch
bei den Erwachsenen auf die Notwendigkeit
einer umfassenden Einschränkung, wenn nicht
Beseitigung, hinweisen, ist gegenwärtig noch
nicht genug anerkannt. Daß aber "Gefängnis¬
strafen" in der Regel für die Jugend un¬
passend sind, hat man allmählich heraus¬
gefunden. Aber man sieht sich verlegen und
bisher vergeblich nach einem Ersatz für das
Gefängnis um. Diese Verlegenheit hat den
langandauerndcn Strafaufschub mit Aussicht
auf späteren Straferlaß hervorgerufen. Man
will den Grundsatz, daß strafwürdige Hand¬
lungen auch Strafe finden sollen, nicht an-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Manchen Leser dürfte das harte Urteil
über Friedrich Naumann überraschen. Wenn
man ihn für die Störung des Bülowschen
Blocks auch vielleicht nicht in dem Maß, wie
Ziegler es tut, verantwortlich macheu will,
so wird man ihm doch darin beistimmen
müssen, daß Naumanns Wirksamkeit sich
überwiegend als die eines Ästheten darstellt.
Es scheint, als ob seit seinein Eintritt in den
Reichstag auch manchem seiner Anhänger
darüber ein Licht aufgehe und sein Einfluß
im Schwinden sei. Jedenfalls ist er mehr
ein Mann der behenden agitatorischen For¬
mulierung, als ein Politiker, der seine An¬
regungen ruhig auszubauen sucht. DaS eine
scheint uns Theobald Ziegler allerdings nicht
genügend hoch anzuschlagen, daß Naumann
unendlich viel zur Erweckung des politischen
Denkens schlechthin in den Kreisen des gleich¬
gültigen Bürgertums beigetragen hat. Jahre¬
lang hat er gerade den aus falscher Vor¬
nehmheit oder Schwäche sich zurückhaltender
Schichten der Bildung Teilnahme am
Leben des Staates und Besinnung auf ihre
staatsbürgerlichen Pflichten gepredigt. Das
soll ihm nicht vergessen werden, wenn man
ihm auch auf den Wegen, die er in: einzelnen
vorschlägt, nicht folgen kann.

Überschaut man die Geschichte der poli¬
tischen Parteien in den letzten Jahrzehnten,
wie sie der Verfasser in allerdings nur
flüchtigen Umrissen zeichnet, so fällt die geringe
geistige Fortentwicklung der Konservativen
umso stärker ins Auge, je mehr die kon¬
servative Partei Englands erst jüngst wieder
ihre Beweglichkeit, auch Waffen und For¬
derungen des Gegners in ihr Arsenal auf¬
zunehmen, an den Tag gelegt hat. Nicht
ohne Ironie erinnert Ziegler daran, daß die
Partei als solche über die Gedanken ihrer
Gründungszeit nicht hinausgewachsen ist und
immer noch von dein jüdischen Geisteskapital
Stahls zehrt, dessen Charakteristik übrigens,
was sein Verhältnis zum konstitutionellen
Staat betrifft, doch gewisser Ergänzungen
bedarf.

Die Frage nach dem konfessionellen Cha¬
rakter des Zentrums nennt Ziegler berechtigter¬
weise einen Streit um des Kaisers Bart.
Er kleidet seine eigene Meinung hier in eine
sehr glückliche Form: „Es ist eine Politische

[Spaltenumbruch]

Partei, die alles unter konfessionellen Gesichts¬
punkt betrachtet, und es ist eine kirchliche
Partei, deren Kirche und Kirchlichkeit
politisch ist, und die in allem eine Machtfrage
sieht." Ohne die größere Zuverlässigkeit des
Zentrums in nationaler Hinsicht zu verkennen,
warnt der Verfasser, unseres Erachtens mit
vollem Recht, vor einer Verherrlichung dieser
Partei, wie sie ihr Geschichtsschreiber Martin
spähn, der Straßburger Kollege Zieglers,
anstimme, wenn er behauptet, das Zentrum
habe allezeit (!) danach gestrebt, „die Kräfte,
die in der Gesamtheit unserer arbeitenden
Stände lebendig sind, für die Entwicklung
des Reiches fruchtbar heranzuziehen; seine
Fahnen flattern überall, wo deutscher Sinn
und deutsches Recht hochgehalten wird, ohne
Unterschied des Gaues und der Klasse."
Diesen Überschwang, meint Theobald Ziegler
mit gutem Humor, hätte sich ein im Elsaß
lebender Historiker am wenigsten gestatten
dürfen. Es mag erwähnt sein, daß eine
ähnlich skeptische Auffassung vor kurzem auch
von ariderer Seite, in den Ausführungen
des Staatsrechtlehrers Freiherrn von Stengel
(Deutsche Rundschau, Juniheft 1911), zum
Ausdruck gekommen ist.

Or. U). Andreas -
Justiz und Verwaltung

Bemerkungen zur Reform des Jngend-
srrafrechts. Am »reisten Schwierigkeiten be¬
reitet den Theoretikern bei der Reform des
Jugendstrafrechts Wohl die Auswahl und
Gestaltung der Strafmittel. Daß die „Ge¬
fängnisstrafe" überhaupt vom Standpunkt
der Volksgesundheit und aus anderen Gründen
sehr große Bedenken gegen sich hat, die auch
bei den Erwachsenen auf die Notwendigkeit
einer umfassenden Einschränkung, wenn nicht
Beseitigung, hinweisen, ist gegenwärtig noch
nicht genug anerkannt. Daß aber „Gefängnis¬
strafen" in der Regel für die Jugend un¬
passend sind, hat man allmählich heraus¬
gefunden. Aber man sieht sich verlegen und
bisher vergeblich nach einem Ersatz für das
Gefängnis um. Diese Verlegenheit hat den
langandauerndcn Strafaufschub mit Aussicht
auf späteren Straferlaß hervorgerufen. Man
will den Grundsatz, daß strafwürdige Hand¬
lungen auch Strafe finden sollen, nicht an-

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[0099] Maßgebliches und Unmaßgebliches Manchen Leser dürfte das harte Urteil über Friedrich Naumann überraschen. Wenn man ihn für die Störung des Bülowschen Blocks auch vielleicht nicht in dem Maß, wie Ziegler es tut, verantwortlich macheu will, so wird man ihm doch darin beistimmen müssen, daß Naumanns Wirksamkeit sich überwiegend als die eines Ästheten darstellt. Es scheint, als ob seit seinein Eintritt in den Reichstag auch manchem seiner Anhänger darüber ein Licht aufgehe und sein Einfluß im Schwinden sei. Jedenfalls ist er mehr ein Mann der behenden agitatorischen For¬ mulierung, als ein Politiker, der seine An¬ regungen ruhig auszubauen sucht. DaS eine scheint uns Theobald Ziegler allerdings nicht genügend hoch anzuschlagen, daß Naumann unendlich viel zur Erweckung des politischen Denkens schlechthin in den Kreisen des gleich¬ gültigen Bürgertums beigetragen hat. Jahre¬ lang hat er gerade den aus falscher Vor¬ nehmheit oder Schwäche sich zurückhaltender Schichten der Bildung Teilnahme am Leben des Staates und Besinnung auf ihre staatsbürgerlichen Pflichten gepredigt. Das soll ihm nicht vergessen werden, wenn man ihm auch auf den Wegen, die er in: einzelnen vorschlägt, nicht folgen kann. Überschaut man die Geschichte der poli¬ tischen Parteien in den letzten Jahrzehnten, wie sie der Verfasser in allerdings nur flüchtigen Umrissen zeichnet, so fällt die geringe geistige Fortentwicklung der Konservativen umso stärker ins Auge, je mehr die kon¬ servative Partei Englands erst jüngst wieder ihre Beweglichkeit, auch Waffen und For¬ derungen des Gegners in ihr Arsenal auf¬ zunehmen, an den Tag gelegt hat. Nicht ohne Ironie erinnert Ziegler daran, daß die Partei als solche über die Gedanken ihrer Gründungszeit nicht hinausgewachsen ist und immer noch von dein jüdischen Geisteskapital Stahls zehrt, dessen Charakteristik übrigens, was sein Verhältnis zum konstitutionellen Staat betrifft, doch gewisser Ergänzungen bedarf. Die Frage nach dem konfessionellen Cha¬ rakter des Zentrums nennt Ziegler berechtigter¬ weise einen Streit um des Kaisers Bart. Er kleidet seine eigene Meinung hier in eine sehr glückliche Form: „Es ist eine Politische Partei, die alles unter konfessionellen Gesichts¬ punkt betrachtet, und es ist eine kirchliche Partei, deren Kirche und Kirchlichkeit politisch ist, und die in allem eine Machtfrage sieht." Ohne die größere Zuverlässigkeit des Zentrums in nationaler Hinsicht zu verkennen, warnt der Verfasser, unseres Erachtens mit vollem Recht, vor einer Verherrlichung dieser Partei, wie sie ihr Geschichtsschreiber Martin spähn, der Straßburger Kollege Zieglers, anstimme, wenn er behauptet, das Zentrum habe allezeit (!) danach gestrebt, „die Kräfte, die in der Gesamtheit unserer arbeitenden Stände lebendig sind, für die Entwicklung des Reiches fruchtbar heranzuziehen; seine Fahnen flattern überall, wo deutscher Sinn und deutsches Recht hochgehalten wird, ohne Unterschied des Gaues und der Klasse." Diesen Überschwang, meint Theobald Ziegler mit gutem Humor, hätte sich ein im Elsaß lebender Historiker am wenigsten gestatten dürfen. Es mag erwähnt sein, daß eine ähnlich skeptische Auffassung vor kurzem auch von ariderer Seite, in den Ausführungen des Staatsrechtlehrers Freiherrn von Stengel (Deutsche Rundschau, Juniheft 1911), zum Ausdruck gekommen ist. Or. U). Andreas - Justiz und Verwaltung Bemerkungen zur Reform des Jngend- srrafrechts. Am »reisten Schwierigkeiten be¬ reitet den Theoretikern bei der Reform des Jugendstrafrechts Wohl die Auswahl und Gestaltung der Strafmittel. Daß die „Ge¬ fängnisstrafe" überhaupt vom Standpunkt der Volksgesundheit und aus anderen Gründen sehr große Bedenken gegen sich hat, die auch bei den Erwachsenen auf die Notwendigkeit einer umfassenden Einschränkung, wenn nicht Beseitigung, hinweisen, ist gegenwärtig noch nicht genug anerkannt. Daß aber „Gefängnis¬ strafen" in der Regel für die Jugend un¬ passend sind, hat man allmählich heraus¬ gefunden. Aber man sieht sich verlegen und bisher vergeblich nach einem Ersatz für das Gefängnis um. Diese Verlegenheit hat den langandauerndcn Strafaufschub mit Aussicht auf späteren Straferlaß hervorgerufen. Man will den Grundsatz, daß strafwürdige Hand¬ lungen auch Strafe finden sollen, nicht an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/99>, abgerufen am 29.12.2024.