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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Till Lulenspiegel

die innerste Wahrhaftigkeit des Lebens ist da trotz der hellen und für den
höheren Betrachter köstlichen Durchsichtigkeit des Spieles -- Das ist
das Schöne daran.

Ganz besonders hoch veranschlage ich deshalb die kleine Szene zwischen
Eulenspiegel und Laurentia im zweiten Akt, wo Laurentia ihn beim rechten
Namen nennt und man wie durch ein Guckfensterchen auf einen Augenblick durch
das ganze Stück hindurchsieht. Der Dichter scheint plötzlich die Spannung vor¬
zeitig aufzulösen; man bedauert schon -- da spürt man die Auffassung Lau-
rentias, ihre frische, freie Lebenskraft, die Till tiefinnerlich verwandt ist, und
unversehens ist das Ganze in eine höhere Ebene gehoben. Es macht unendlich
viel aus, daß Till selbst als Till nunmehr von diesem Mädchen geliebt wird;
der Zug ist so einfach, und doch rückt er uns den amüsanten Till mit einen:
Ruck nahe zum Herzen.

Nach meiner Erfahrung scheint es mir ein besonders gutes Zeichen für
das Theaterblut eines Stückes, wenn sich nach mehrfachem Lesen in der Rück-
erinnerung daran zunächst die großen Zusammenhänge einstellen, weniger Einzel¬
heiten. Es ist ein Zeichen dafür, daß das Stück gut gebaut ist, daß es Archi¬
tektur hat und Gesamteindrücke gibt, ferner daß es eine Sprache spricht, aus
der nicht einzelne anmutende Lyrismen herausfallen, sondern die festgefügte
Sprache, die aus dem engen Zusammenhang der Geschehnisse unmittelbar ent¬
standen und deshalb aufs engste mit den: Zusammenhang verknüpft ist. Solche
Stücke erwachen in allen Einzelheiten erst recht auf der Bühne, für die sie
geschaffen sind. Meine Erfahrung hat es mich gelehrt.

Ich habe bis jetzt fast nur Gutes über "Eulenspiegel" gesagt. Ja gewiß!
Mein Ehrgeiz ist es nicht, meine Nase für die hier wie überall vorhandenen
Mängel zu bewähren, sondern auszusprechen, daß hier alles Wesentliche, was
die Bühne erfordert und Erfolgsmöglichkeiten bietet, im feinen wie im gröberen
theatralischen Sinne, gut ist, und daß das Stück (kühl sachlich gesprochen)
unbedingt eine Aufführung verdient, daß (mit Wärme und Anteil gesprochen)
seine Eigenschaften es unbedingt berechtigen, eine Aufführung zu verlangen. --
Nebenbei füge ich zur Sicherheit hinzu, daß ich längere Zeit als Dramaturg
praktisch tätig gewesen bin und vermöge dieser Erfahrung bemerkt habe, daß
im Falle einer Aufführung Striche zu empfehlen wären, teils der Länge, teils
anderer Gründe wegen, wie ich z. B. das Zimmergesellenlied vom Mond im
letzten Akt nach meinem Geschmack entbehrlich finde. Aber ich habe noch kein
Stück erlebt, bei dem vor der Aufführung der Rotstift nichts zu tun gehabt hätte.

Zugunsten des "Eulenspiegel" äußerten sich unter anderen Oskar Sauer,
Dr. Rosenbaum, der Dramaturg des Wiener Burgtheaters, Professor Begowicz,
Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Redakteur Dr. Otto
Kräck-Berlin, Harry Wälder, Karl Clewing. Matkowskns Nachfolger am Berliner
Königlichen Schauspielhaus. Nach Oskar Sauers Dafürhalten ist das Stück
mit Geist und Witz geschrieben; Dr. Rosenbaum von: Burgtheater erklärt es


Till Lulenspiegel

die innerste Wahrhaftigkeit des Lebens ist da trotz der hellen und für den
höheren Betrachter köstlichen Durchsichtigkeit des Spieles — Das ist
das Schöne daran.

Ganz besonders hoch veranschlage ich deshalb die kleine Szene zwischen
Eulenspiegel und Laurentia im zweiten Akt, wo Laurentia ihn beim rechten
Namen nennt und man wie durch ein Guckfensterchen auf einen Augenblick durch
das ganze Stück hindurchsieht. Der Dichter scheint plötzlich die Spannung vor¬
zeitig aufzulösen; man bedauert schon — da spürt man die Auffassung Lau-
rentias, ihre frische, freie Lebenskraft, die Till tiefinnerlich verwandt ist, und
unversehens ist das Ganze in eine höhere Ebene gehoben. Es macht unendlich
viel aus, daß Till selbst als Till nunmehr von diesem Mädchen geliebt wird;
der Zug ist so einfach, und doch rückt er uns den amüsanten Till mit einen:
Ruck nahe zum Herzen.

Nach meiner Erfahrung scheint es mir ein besonders gutes Zeichen für
das Theaterblut eines Stückes, wenn sich nach mehrfachem Lesen in der Rück-
erinnerung daran zunächst die großen Zusammenhänge einstellen, weniger Einzel¬
heiten. Es ist ein Zeichen dafür, daß das Stück gut gebaut ist, daß es Archi¬
tektur hat und Gesamteindrücke gibt, ferner daß es eine Sprache spricht, aus
der nicht einzelne anmutende Lyrismen herausfallen, sondern die festgefügte
Sprache, die aus dem engen Zusammenhang der Geschehnisse unmittelbar ent¬
standen und deshalb aufs engste mit den: Zusammenhang verknüpft ist. Solche
Stücke erwachen in allen Einzelheiten erst recht auf der Bühne, für die sie
geschaffen sind. Meine Erfahrung hat es mich gelehrt.

Ich habe bis jetzt fast nur Gutes über „Eulenspiegel" gesagt. Ja gewiß!
Mein Ehrgeiz ist es nicht, meine Nase für die hier wie überall vorhandenen
Mängel zu bewähren, sondern auszusprechen, daß hier alles Wesentliche, was
die Bühne erfordert und Erfolgsmöglichkeiten bietet, im feinen wie im gröberen
theatralischen Sinne, gut ist, und daß das Stück (kühl sachlich gesprochen)
unbedingt eine Aufführung verdient, daß (mit Wärme und Anteil gesprochen)
seine Eigenschaften es unbedingt berechtigen, eine Aufführung zu verlangen. —
Nebenbei füge ich zur Sicherheit hinzu, daß ich längere Zeit als Dramaturg
praktisch tätig gewesen bin und vermöge dieser Erfahrung bemerkt habe, daß
im Falle einer Aufführung Striche zu empfehlen wären, teils der Länge, teils
anderer Gründe wegen, wie ich z. B. das Zimmergesellenlied vom Mond im
letzten Akt nach meinem Geschmack entbehrlich finde. Aber ich habe noch kein
Stück erlebt, bei dem vor der Aufführung der Rotstift nichts zu tun gehabt hätte.

Zugunsten des „Eulenspiegel" äußerten sich unter anderen Oskar Sauer,
Dr. Rosenbaum, der Dramaturg des Wiener Burgtheaters, Professor Begowicz,
Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Redakteur Dr. Otto
Kräck-Berlin, Harry Wälder, Karl Clewing. Matkowskns Nachfolger am Berliner
Königlichen Schauspielhaus. Nach Oskar Sauers Dafürhalten ist das Stück
mit Geist und Witz geschrieben; Dr. Rosenbaum von: Burgtheater erklärt es


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[0088] Till Lulenspiegel die innerste Wahrhaftigkeit des Lebens ist da trotz der hellen und für den höheren Betrachter köstlichen Durchsichtigkeit des Spieles — Das ist das Schöne daran. Ganz besonders hoch veranschlage ich deshalb die kleine Szene zwischen Eulenspiegel und Laurentia im zweiten Akt, wo Laurentia ihn beim rechten Namen nennt und man wie durch ein Guckfensterchen auf einen Augenblick durch das ganze Stück hindurchsieht. Der Dichter scheint plötzlich die Spannung vor¬ zeitig aufzulösen; man bedauert schon — da spürt man die Auffassung Lau- rentias, ihre frische, freie Lebenskraft, die Till tiefinnerlich verwandt ist, und unversehens ist das Ganze in eine höhere Ebene gehoben. Es macht unendlich viel aus, daß Till selbst als Till nunmehr von diesem Mädchen geliebt wird; der Zug ist so einfach, und doch rückt er uns den amüsanten Till mit einen: Ruck nahe zum Herzen. Nach meiner Erfahrung scheint es mir ein besonders gutes Zeichen für das Theaterblut eines Stückes, wenn sich nach mehrfachem Lesen in der Rück- erinnerung daran zunächst die großen Zusammenhänge einstellen, weniger Einzel¬ heiten. Es ist ein Zeichen dafür, daß das Stück gut gebaut ist, daß es Archi¬ tektur hat und Gesamteindrücke gibt, ferner daß es eine Sprache spricht, aus der nicht einzelne anmutende Lyrismen herausfallen, sondern die festgefügte Sprache, die aus dem engen Zusammenhang der Geschehnisse unmittelbar ent¬ standen und deshalb aufs engste mit den: Zusammenhang verknüpft ist. Solche Stücke erwachen in allen Einzelheiten erst recht auf der Bühne, für die sie geschaffen sind. Meine Erfahrung hat es mich gelehrt. Ich habe bis jetzt fast nur Gutes über „Eulenspiegel" gesagt. Ja gewiß! Mein Ehrgeiz ist es nicht, meine Nase für die hier wie überall vorhandenen Mängel zu bewähren, sondern auszusprechen, daß hier alles Wesentliche, was die Bühne erfordert und Erfolgsmöglichkeiten bietet, im feinen wie im gröberen theatralischen Sinne, gut ist, und daß das Stück (kühl sachlich gesprochen) unbedingt eine Aufführung verdient, daß (mit Wärme und Anteil gesprochen) seine Eigenschaften es unbedingt berechtigen, eine Aufführung zu verlangen. — Nebenbei füge ich zur Sicherheit hinzu, daß ich längere Zeit als Dramaturg praktisch tätig gewesen bin und vermöge dieser Erfahrung bemerkt habe, daß im Falle einer Aufführung Striche zu empfehlen wären, teils der Länge, teils anderer Gründe wegen, wie ich z. B. das Zimmergesellenlied vom Mond im letzten Akt nach meinem Geschmack entbehrlich finde. Aber ich habe noch kein Stück erlebt, bei dem vor der Aufführung der Rotstift nichts zu tun gehabt hätte. Zugunsten des „Eulenspiegel" äußerten sich unter anderen Oskar Sauer, Dr. Rosenbaum, der Dramaturg des Wiener Burgtheaters, Professor Begowicz, Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Redakteur Dr. Otto Kräck-Berlin, Harry Wälder, Karl Clewing. Matkowskns Nachfolger am Berliner Königlichen Schauspielhaus. Nach Oskar Sauers Dafürhalten ist das Stück mit Geist und Witz geschrieben; Dr. Rosenbaum von: Burgtheater erklärt es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/88>, abgerufen am 01.01.2025.