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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Der Kampf der Bildungsideale

gewürdigt, daß wir nur durch starke Erschütterungen des nationalen Lebens zum
Bewußtsein dieser Einseitigkeit gelangt sind. Nicht zufällig trachten gegenwärtig
beide Länder ihre Methoden auszutauschen. (Der zeitweilige Austausch von
gelehrten Dozenten ist nur ein Symptom dieses tiefer gehenden Strebens.)
Persönliche Überwachung, Bewahrung und Ausbau eines wertvollen Lehrguts,
eines gemeinsamen Schatzes von Erkenntnissen, ruhige Durchbildung der geistigen
Persönlichkeit daran und dadurch, nicht ohne viel Anregung zur Kontemplation,
und anderseits zugleich mit dem Ziel einer feinen und edlen Ausdruckskunst,
das ist, um es noch einmal auszusprechen, die Sache des einen Typus, während
es für den andern gilt: Entwicklung des Blickes und des unmittelbaren Ver¬
ständnisses für die Welt des Wirklichen und die Fähigkeit, darauf einzuwirken.
Begünstigung persönlicher Initiative, Freude am Zustandebringen, Sinn für
Organisation. Natürlich wird es ja auch viele Naturen geben, die halb zu
dem einen und halb zu dem andern der Wege hinneigen; mit mathematischer
Sauberkeit oder Simplizität läßt die Natur selbst ihre Gebilde nicht auseinander¬
gehen. Etwas anderes aber wäre Gleichgültigkeit der Menschen gegen das
Bedürfnis und die Unterlagen der Unterscheidung.

Hier mag sogleich die Frage eingeschoben werden, wie es sich mit den
künstlerisch angelegten Naturen verhält, ob sie auf dem ersten oder dem zweiten
Hauptwege ihre rechte Vorbildung erhalten. Und darauf freilich ist schwer zu
antworten. Wohl gibt es auch unter den Künstlern mehr still sinnende Naturen
und ihnen gegenüber mehr enthusiastisch aktive, und bei den ersteren werden
Kunstwerke in der Stille und langsam reifen, um dann auch zu bestehen, bei
den letzteren vielleicht vielerlei Versuche rasch einander ablösen, Halbgelingendes
sie nicht deprimieren und besonders Kühnes sie um so mehr beflügeln. Große
bildende Künstler sind oft ganz aus der Sphäre des Praktischen hervorgegangen,
nicht wenig große Dichter haben sich zunächst mit dein Reichtum vorhandener
Geistesschätze durchdrungen oder doch von den Besten der Vergangenheit zu
ihrem edlen Streben anregen lassen. Aber im ganzen gibt es eben keinen
festzulegenden allgemeinen Bildungsplan sür die zum Künstlertum Berufenen.
Ihr Eigenstes widerstrebt, wenn nicht dem Entgegengebrachten, so doch dem
Auferlegten; ihre Anlage muß sich auf eigene Weise durchsetzen; es ist ihnen
eine Periode des unklaren Dranges, der inneren Nöte und des Verkanntseins
wahrscheinlich: dafür empfangen sie, wenn zum Lichte durchgedrungen, um so
willigere Ehren und schöpfen aus ihrem Tun um so echtere Freudigkeit.

Wie steht doch die Organisation unserer höheren Schulen zu dem geschilderten
Gegenüber der Typen und ihrer Bedürfnisse? Vielleicht scheint mit allem
Gesagten immer nur auf das Verhältnis von Gymnasien und Realschulen hin-
geblickt zu sein? Vielleicht ist der seit so manchen Jahrzehnten hervorgetretene
Drang der letzteren nach vollerer Anerkennung schon der Ausfluß jener tieferen
Einsicht in die Anlagen und die Kulturbedürfnisse? Und dann wäre mit der
allmählichen Vermehrung der Realanstalten scholl die wünschenswerte Veränderung


Der Kampf der Bildungsideale

gewürdigt, daß wir nur durch starke Erschütterungen des nationalen Lebens zum
Bewußtsein dieser Einseitigkeit gelangt sind. Nicht zufällig trachten gegenwärtig
beide Länder ihre Methoden auszutauschen. (Der zeitweilige Austausch von
gelehrten Dozenten ist nur ein Symptom dieses tiefer gehenden Strebens.)
Persönliche Überwachung, Bewahrung und Ausbau eines wertvollen Lehrguts,
eines gemeinsamen Schatzes von Erkenntnissen, ruhige Durchbildung der geistigen
Persönlichkeit daran und dadurch, nicht ohne viel Anregung zur Kontemplation,
und anderseits zugleich mit dem Ziel einer feinen und edlen Ausdruckskunst,
das ist, um es noch einmal auszusprechen, die Sache des einen Typus, während
es für den andern gilt: Entwicklung des Blickes und des unmittelbaren Ver¬
ständnisses für die Welt des Wirklichen und die Fähigkeit, darauf einzuwirken.
Begünstigung persönlicher Initiative, Freude am Zustandebringen, Sinn für
Organisation. Natürlich wird es ja auch viele Naturen geben, die halb zu
dem einen und halb zu dem andern der Wege hinneigen; mit mathematischer
Sauberkeit oder Simplizität läßt die Natur selbst ihre Gebilde nicht auseinander¬
gehen. Etwas anderes aber wäre Gleichgültigkeit der Menschen gegen das
Bedürfnis und die Unterlagen der Unterscheidung.

Hier mag sogleich die Frage eingeschoben werden, wie es sich mit den
künstlerisch angelegten Naturen verhält, ob sie auf dem ersten oder dem zweiten
Hauptwege ihre rechte Vorbildung erhalten. Und darauf freilich ist schwer zu
antworten. Wohl gibt es auch unter den Künstlern mehr still sinnende Naturen
und ihnen gegenüber mehr enthusiastisch aktive, und bei den ersteren werden
Kunstwerke in der Stille und langsam reifen, um dann auch zu bestehen, bei
den letzteren vielleicht vielerlei Versuche rasch einander ablösen, Halbgelingendes
sie nicht deprimieren und besonders Kühnes sie um so mehr beflügeln. Große
bildende Künstler sind oft ganz aus der Sphäre des Praktischen hervorgegangen,
nicht wenig große Dichter haben sich zunächst mit dein Reichtum vorhandener
Geistesschätze durchdrungen oder doch von den Besten der Vergangenheit zu
ihrem edlen Streben anregen lassen. Aber im ganzen gibt es eben keinen
festzulegenden allgemeinen Bildungsplan sür die zum Künstlertum Berufenen.
Ihr Eigenstes widerstrebt, wenn nicht dem Entgegengebrachten, so doch dem
Auferlegten; ihre Anlage muß sich auf eigene Weise durchsetzen; es ist ihnen
eine Periode des unklaren Dranges, der inneren Nöte und des Verkanntseins
wahrscheinlich: dafür empfangen sie, wenn zum Lichte durchgedrungen, um so
willigere Ehren und schöpfen aus ihrem Tun um so echtere Freudigkeit.

Wie steht doch die Organisation unserer höheren Schulen zu dem geschilderten
Gegenüber der Typen und ihrer Bedürfnisse? Vielleicht scheint mit allem
Gesagten immer nur auf das Verhältnis von Gymnasien und Realschulen hin-
geblickt zu sein? Vielleicht ist der seit so manchen Jahrzehnten hervorgetretene
Drang der letzteren nach vollerer Anerkennung schon der Ausfluß jener tieferen
Einsicht in die Anlagen und die Kulturbedürfnisse? Und dann wäre mit der
allmählichen Vermehrung der Realanstalten scholl die wünschenswerte Veränderung


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[0074] Der Kampf der Bildungsideale gewürdigt, daß wir nur durch starke Erschütterungen des nationalen Lebens zum Bewußtsein dieser Einseitigkeit gelangt sind. Nicht zufällig trachten gegenwärtig beide Länder ihre Methoden auszutauschen. (Der zeitweilige Austausch von gelehrten Dozenten ist nur ein Symptom dieses tiefer gehenden Strebens.) Persönliche Überwachung, Bewahrung und Ausbau eines wertvollen Lehrguts, eines gemeinsamen Schatzes von Erkenntnissen, ruhige Durchbildung der geistigen Persönlichkeit daran und dadurch, nicht ohne viel Anregung zur Kontemplation, und anderseits zugleich mit dem Ziel einer feinen und edlen Ausdruckskunst, das ist, um es noch einmal auszusprechen, die Sache des einen Typus, während es für den andern gilt: Entwicklung des Blickes und des unmittelbaren Ver¬ ständnisses für die Welt des Wirklichen und die Fähigkeit, darauf einzuwirken. Begünstigung persönlicher Initiative, Freude am Zustandebringen, Sinn für Organisation. Natürlich wird es ja auch viele Naturen geben, die halb zu dem einen und halb zu dem andern der Wege hinneigen; mit mathematischer Sauberkeit oder Simplizität läßt die Natur selbst ihre Gebilde nicht auseinander¬ gehen. Etwas anderes aber wäre Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Bedürfnis und die Unterlagen der Unterscheidung. Hier mag sogleich die Frage eingeschoben werden, wie es sich mit den künstlerisch angelegten Naturen verhält, ob sie auf dem ersten oder dem zweiten Hauptwege ihre rechte Vorbildung erhalten. Und darauf freilich ist schwer zu antworten. Wohl gibt es auch unter den Künstlern mehr still sinnende Naturen und ihnen gegenüber mehr enthusiastisch aktive, und bei den ersteren werden Kunstwerke in der Stille und langsam reifen, um dann auch zu bestehen, bei den letzteren vielleicht vielerlei Versuche rasch einander ablösen, Halbgelingendes sie nicht deprimieren und besonders Kühnes sie um so mehr beflügeln. Große bildende Künstler sind oft ganz aus der Sphäre des Praktischen hervorgegangen, nicht wenig große Dichter haben sich zunächst mit dein Reichtum vorhandener Geistesschätze durchdrungen oder doch von den Besten der Vergangenheit zu ihrem edlen Streben anregen lassen. Aber im ganzen gibt es eben keinen festzulegenden allgemeinen Bildungsplan sür die zum Künstlertum Berufenen. Ihr Eigenstes widerstrebt, wenn nicht dem Entgegengebrachten, so doch dem Auferlegten; ihre Anlage muß sich auf eigene Weise durchsetzen; es ist ihnen eine Periode des unklaren Dranges, der inneren Nöte und des Verkanntseins wahrscheinlich: dafür empfangen sie, wenn zum Lichte durchgedrungen, um so willigere Ehren und schöpfen aus ihrem Tun um so echtere Freudigkeit. Wie steht doch die Organisation unserer höheren Schulen zu dem geschilderten Gegenüber der Typen und ihrer Bedürfnisse? Vielleicht scheint mit allem Gesagten immer nur auf das Verhältnis von Gymnasien und Realschulen hin- geblickt zu sein? Vielleicht ist der seit so manchen Jahrzehnten hervorgetretene Drang der letzteren nach vollerer Anerkennung schon der Ausfluß jener tieferen Einsicht in die Anlagen und die Kulturbedürfnisse? Und dann wäre mit der allmählichen Vermehrung der Realanstalten scholl die wünschenswerte Veränderung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/74>, abgerufen am 01.01.2025.