Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Der Kampf der Bildungsideale Natürlich ist das nicht der gleiche Gegensatz, um den in allen den Es war vorhin von dem Zusammentreffen kultureller Bedürfnisse mit Der Kampf der Bildungsideale Natürlich ist das nicht der gleiche Gegensatz, um den in allen den Es war vorhin von dem Zusammentreffen kultureller Bedürfnisse mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0068" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319017"/> <fw type="header" place="top"> Der Kampf der Bildungsideale</fw><lb/> <p xml:id="ID_807"> Natürlich ist das nicht der gleiche Gegensatz, um den in allen den<lb/> vorherigen Jahrhunderten der Kampf gespielt hatte; nur eine gewisse Ähnlichkeit<lb/> mag hier und da zu finden sein. Handelt es sich vielleicht stets, nur unter<lb/> neuen Formen, um das Gegenüber von Ausstattung mit Wissen und Ent¬<lb/> wicklung von Können? von Übermittlung von Kenntnissen und Anregung des<lb/> Willens? Oder handelt es sich auf der einen Seite um ein möglichst allgemeines,<lb/> ein vielseitiges, ein abstraktes Wissen und Verstehen, auf der anderen um<lb/> Kennen und Verstehen des Nahen? Dort um eine gewissermaßen über alle<lb/> Unterschiede der Zeiten hinausreichende Bildung, hier um eine solche durchaus<lb/> für die Gegenwart, für das Leben in ihr? Soll dort wesentlich eine formale<lb/> Kultur des Geistes stattfinden, hier ein Vertrautmachen mit dem Bestand und<lb/> deu Problemen der Kultur überhaupt? Soll eine überlieferte Kultur bewahrt<lb/> oder aber die Lust und Fähigkeit zum Herausarbeiten einer neuen gewährt<lb/> werden? Ist der stets wiederkehrende Gegensatz vielleicht der zwischen der<lb/> Erweckung und Pflege literarischen, ästhetischen Interesses auf der einen Seite<lb/> und praktischen auf der anderen? oder zwischen geisteswissenschaftlichem und<lb/> naturwissenschaftlichem? Soll es dort Vertiefung gelten und hier Belebung?<lb/> dort grübelndes Denken und hier mannigfaltige Anschauung nebst willigem<lb/> Tun? Oder handelt sich's dort alles in allem mehr um Konventionelles und<lb/> hier um frei Natürliches? oder gar dort lediglich uni Ausgleichung, um<lb/> geistige Unterwerfung und endgültige Einordnung, hier um Befreiung, um Ent¬<lb/> wicklung des Individuellen? Alle diese Alternativen spielen tatsächlich in die<lb/> Geschichte der stets sich erneuerten Bewegung hinein, aber sie mischen und ver¬<lb/> schieben sich mannigfaltig, und endgültig könnte man mit keiner der Einseitig¬<lb/> keiten sich zufrieden geben.</p><lb/> <p xml:id="ID_808" next="#ID_809"> Es war vorhin von dem Zusammentreffen kultureller Bedürfnisse mit<lb/> psychologischen Erkenntnissen die Rede. In der Tat verlangt das, was wir<lb/> als Kultur der Zeit in ihrem ganzen und weiten Sinne empfinden, Teilnehmer<lb/> und Mitarbeiter nicht von einer und derselben Prägung. Nicht bloß, daß die mannig¬<lb/> faltigen Einzelaufgaben auch mannigfach verschiedene Einzelausbildung erfordern.<lb/> Sondern es liegen dem Wesen nach so ungleiche Gesamtziele vor, daß auch<lb/> ungleichartige, aber in ihrer Art möglichst voll entwickelte Menschenkräfte oder<lb/> Menschennaturen verfügbar sein müssen. Und damit begegnet sich nun die<lb/> psychologische Einsicht von den tiefgreifenden Differenzen der Begabung, die aber<lb/> darum nicht (wie es der Fehler vergangener Zeiten war und leider auch noch<lb/> die vorherrschende Auffassung der Gegenwart ist) als schlechthin höhere und<lb/> niedere Stufen, kaum als ungleiche Werte anzusehen sind. Daß die Psycho¬<lb/> logen noch nicht alle die gleichen Typen aufstellen, ist nicht verwunderlich und<lb/> ist wohl auch kein Schade; in der Tendenz kommen sie einander nahe. Indem<lb/> z. B. der französische Psycholog Binet den Typus des „Bewußten" dem des<lb/> „Unbewußten" gegenüberstellt, daß heißt den Menschen, bei dem sich das gesamte<lb/> geistige Leben immer im Lichte deutlichen Bewußtseins abspielt, gegenüber</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0068]
Der Kampf der Bildungsideale
Natürlich ist das nicht der gleiche Gegensatz, um den in allen den
vorherigen Jahrhunderten der Kampf gespielt hatte; nur eine gewisse Ähnlichkeit
mag hier und da zu finden sein. Handelt es sich vielleicht stets, nur unter
neuen Formen, um das Gegenüber von Ausstattung mit Wissen und Ent¬
wicklung von Können? von Übermittlung von Kenntnissen und Anregung des
Willens? Oder handelt es sich auf der einen Seite um ein möglichst allgemeines,
ein vielseitiges, ein abstraktes Wissen und Verstehen, auf der anderen um
Kennen und Verstehen des Nahen? Dort um eine gewissermaßen über alle
Unterschiede der Zeiten hinausreichende Bildung, hier um eine solche durchaus
für die Gegenwart, für das Leben in ihr? Soll dort wesentlich eine formale
Kultur des Geistes stattfinden, hier ein Vertrautmachen mit dem Bestand und
deu Problemen der Kultur überhaupt? Soll eine überlieferte Kultur bewahrt
oder aber die Lust und Fähigkeit zum Herausarbeiten einer neuen gewährt
werden? Ist der stets wiederkehrende Gegensatz vielleicht der zwischen der
Erweckung und Pflege literarischen, ästhetischen Interesses auf der einen Seite
und praktischen auf der anderen? oder zwischen geisteswissenschaftlichem und
naturwissenschaftlichem? Soll es dort Vertiefung gelten und hier Belebung?
dort grübelndes Denken und hier mannigfaltige Anschauung nebst willigem
Tun? Oder handelt sich's dort alles in allem mehr um Konventionelles und
hier um frei Natürliches? oder gar dort lediglich uni Ausgleichung, um
geistige Unterwerfung und endgültige Einordnung, hier um Befreiung, um Ent¬
wicklung des Individuellen? Alle diese Alternativen spielen tatsächlich in die
Geschichte der stets sich erneuerten Bewegung hinein, aber sie mischen und ver¬
schieben sich mannigfaltig, und endgültig könnte man mit keiner der Einseitig¬
keiten sich zufrieden geben.
Es war vorhin von dem Zusammentreffen kultureller Bedürfnisse mit
psychologischen Erkenntnissen die Rede. In der Tat verlangt das, was wir
als Kultur der Zeit in ihrem ganzen und weiten Sinne empfinden, Teilnehmer
und Mitarbeiter nicht von einer und derselben Prägung. Nicht bloß, daß die mannig¬
faltigen Einzelaufgaben auch mannigfach verschiedene Einzelausbildung erfordern.
Sondern es liegen dem Wesen nach so ungleiche Gesamtziele vor, daß auch
ungleichartige, aber in ihrer Art möglichst voll entwickelte Menschenkräfte oder
Menschennaturen verfügbar sein müssen. Und damit begegnet sich nun die
psychologische Einsicht von den tiefgreifenden Differenzen der Begabung, die aber
darum nicht (wie es der Fehler vergangener Zeiten war und leider auch noch
die vorherrschende Auffassung der Gegenwart ist) als schlechthin höhere und
niedere Stufen, kaum als ungleiche Werte anzusehen sind. Daß die Psycho¬
logen noch nicht alle die gleichen Typen aufstellen, ist nicht verwunderlich und
ist wohl auch kein Schade; in der Tendenz kommen sie einander nahe. Indem
z. B. der französische Psycholog Binet den Typus des „Bewußten" dem des
„Unbewußten" gegenüberstellt, daß heißt den Menschen, bei dem sich das gesamte
geistige Leben immer im Lichte deutlichen Bewußtseins abspielt, gegenüber
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