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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Der Acrmpf der Bildungsidcale

dem, dessen beste Leistungen ihm ohne sicheres Berechnen und Schließen, ohne
ein festes Netz von Verstandesoperationen gelingen, macht er es uns nicht schwer,
den besonderen Wert jedes der beiden zu empfinden, deren Vorhandensein
wir alsbald anerkennen. Und wenn er dann dieser Gegenüberstellung die des
"objektiven" und des "subjektiven" Geistestypus anreiht, und ferner die des
"praktisch" und des "literarisch" Gerichteten, so vermögen wir auch darin
unschwer Wirkliches zu erkennen, und wir werden, wenn wir uns den "Objek¬
tiven" mit seiner Hingabe an die Welt der Naturdinge, mit seiner Tüchtigkeit
zum Beobachten vorstellen, oder den "Praktischen" auch in seinen bedeutenderen
Funktionen, als Organisator des Lebens etwa, keineswegs in diesen beiden Minder¬
wertige sehen im Vergleich zu dem "Subjektiven", dem nach innen Gewandten,
Sinnenden, oder zu dem "Literarischen", der einer möglichst reichen fremden
Gedankenwelt nachjagt und in schöner Ausdrucksform sein hohes Genüge
findet.

Pflegt man sich eine solche Verschiedenheit der Begabung, die ja doch schon
in jugendlichen Jahren sich andeuten wird, bis jetzt genügend klar zu machen?
Strebt man danach in den Familien, in der Lehrerschaft der Schulen? Und
müßte nicht die Wahl des Lebensberufs erst auf Grundlage solcher Feststellung
erfolgen, ja auch schon der vorbereitende Bildungsgang demgemäß gewählt
werden? Denn das Ziel einer allgemeinen Bildung im Sinne einer für alle
gleichen und einer nach allen Seiten sich erstreckenden hat doch nur aufgestellt
werden können zu einer Zeit, wo man einer ganzen Oberschicht der Bevölkerung
ein ideales Menschentum anerziehen zu können dachte und ohne genügenden
Sinn für die psychologische Wirklichkeit in der Übernahme wertvollen Gedanken¬
inhalts das wesentliche Mittel dazu sah, namentlich auch sich eine harmonische
Entwicklung und Schulung aller Kräfte sehr viel einfacher dachte, als sie in
Wahrheit sein würde. Seitdem hat nicht nur die psychologische Forschung sich
sehr ernstlich der Erkenntnis der typischen Unterschiede zugewandt, sondern es
ist auch infolge vielfach unbefriedigender Ergebnisse jenes Bildungsweges das
allgemeine Gefühl lebendiger geworden für die wirklichen seelischen Bedürfnisse
der jugendlichen Individuen. Von Bedeutung war es dabei, daß die ver¬
schiedenen Kulturländer immer wieder ihre Ergebnisse untereinander und mit
erwünschten Idealen verglichen, daß auf neuem Kulturboden auch neue An¬
schauungen sich durchrangen und neue Versuche einander ablösten. Hier von
einem sicheren Besitz der wahren pädagogischen Weisheit zu träumen und mit
Hochmut oder Gleichgültigkeit auf das andersartige Streben draußen herab¬
zusehen, wäre Sache der Borniertheit und der Bequemlichkeit.

Leider steht dem Fortschritt der rechten Erkenntnis bei uns in.Deutschland
mehr als irgendwo sonst die Macht sozialen Vorurteils entgegen. Warum hat
viele Jahrzehnte hindurch, ja im ganzen bis auf den heutigen Tag, das
Gymnasium mit dem humanistischen Lehrplan als die sozial vornehmste Anstalt
gelten können? Was einst der Schicht der Vollbegabten zugedacht war, wurde


Grenzboten lit 1911 8
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dem, dessen beste Leistungen ihm ohne sicheres Berechnen und Schließen, ohne
ein festes Netz von Verstandesoperationen gelingen, macht er es uns nicht schwer,
den besonderen Wert jedes der beiden zu empfinden, deren Vorhandensein
wir alsbald anerkennen. Und wenn er dann dieser Gegenüberstellung die des
„objektiven" und des „subjektiven" Geistestypus anreiht, und ferner die des
„praktisch" und des „literarisch" Gerichteten, so vermögen wir auch darin
unschwer Wirkliches zu erkennen, und wir werden, wenn wir uns den „Objek¬
tiven" mit seiner Hingabe an die Welt der Naturdinge, mit seiner Tüchtigkeit
zum Beobachten vorstellen, oder den „Praktischen" auch in seinen bedeutenderen
Funktionen, als Organisator des Lebens etwa, keineswegs in diesen beiden Minder¬
wertige sehen im Vergleich zu dem „Subjektiven", dem nach innen Gewandten,
Sinnenden, oder zu dem „Literarischen", der einer möglichst reichen fremden
Gedankenwelt nachjagt und in schöner Ausdrucksform sein hohes Genüge
findet.

Pflegt man sich eine solche Verschiedenheit der Begabung, die ja doch schon
in jugendlichen Jahren sich andeuten wird, bis jetzt genügend klar zu machen?
Strebt man danach in den Familien, in der Lehrerschaft der Schulen? Und
müßte nicht die Wahl des Lebensberufs erst auf Grundlage solcher Feststellung
erfolgen, ja auch schon der vorbereitende Bildungsgang demgemäß gewählt
werden? Denn das Ziel einer allgemeinen Bildung im Sinne einer für alle
gleichen und einer nach allen Seiten sich erstreckenden hat doch nur aufgestellt
werden können zu einer Zeit, wo man einer ganzen Oberschicht der Bevölkerung
ein ideales Menschentum anerziehen zu können dachte und ohne genügenden
Sinn für die psychologische Wirklichkeit in der Übernahme wertvollen Gedanken¬
inhalts das wesentliche Mittel dazu sah, namentlich auch sich eine harmonische
Entwicklung und Schulung aller Kräfte sehr viel einfacher dachte, als sie in
Wahrheit sein würde. Seitdem hat nicht nur die psychologische Forschung sich
sehr ernstlich der Erkenntnis der typischen Unterschiede zugewandt, sondern es
ist auch infolge vielfach unbefriedigender Ergebnisse jenes Bildungsweges das
allgemeine Gefühl lebendiger geworden für die wirklichen seelischen Bedürfnisse
der jugendlichen Individuen. Von Bedeutung war es dabei, daß die ver¬
schiedenen Kulturländer immer wieder ihre Ergebnisse untereinander und mit
erwünschten Idealen verglichen, daß auf neuem Kulturboden auch neue An¬
schauungen sich durchrangen und neue Versuche einander ablösten. Hier von
einem sicheren Besitz der wahren pädagogischen Weisheit zu träumen und mit
Hochmut oder Gleichgültigkeit auf das andersartige Streben draußen herab¬
zusehen, wäre Sache der Borniertheit und der Bequemlichkeit.

Leider steht dem Fortschritt der rechten Erkenntnis bei uns in.Deutschland
mehr als irgendwo sonst die Macht sozialen Vorurteils entgegen. Warum hat
viele Jahrzehnte hindurch, ja im ganzen bis auf den heutigen Tag, das
Gymnasium mit dem humanistischen Lehrplan als die sozial vornehmste Anstalt
gelten können? Was einst der Schicht der Vollbegabten zugedacht war, wurde


Grenzboten lit 1911 8
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/69>, abgerufen am 01.01.2025.