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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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9er Aampf der Vildungsideale
von Geh, Rat Prof. Dr, Wilhelm Münch

eher geistige Bewegungen der Vergangenheit urteilen wir mit aller
Zuversicht; bei solchen der Gegenwart stehen wir leicht ratlos,
mindestens unsicher, und die gleichwohl ganz sicher Urteilenden
sehen die Sachlage meist nicht so verwickelt, wie sie wirklich ist.
Manche Naturen finden unschwer die Seite, auf die sie sich bestimmt
schlagen, der sie rückhaltlos und endgültig angehören, und für die gegenüber¬
stehende haben sie dann wohl Ärger oder Ingrimm, Spott oder Verachtung.
Es scheint, daß es eine solche Scheidung der Parteien geben muß, damit die
Gegensätze sich lebendig herausarbeiten und vielen deutlich zum Bewußtsein
kommen, damit sie auch ihre Kraft an der Wirklichkeit erproben. Es scheint,
daß auch eine Idee außer führenden Vorkämpfern ein Heer von gemeinen
Soldaten haben muß, um Eroberungen zu machen oder sich im Feld zu behaupten.

Neben dem alten und sich immer erneuerten Kampf staatlicher Verfassungen
und neben dem nie endenden religiöser Bekenntnisse ist kein Zwiespalt geistiger
Mächte so zäh lebendig und tiefgreifend wie der der Bildungsideale. Natürlich:
es bleibt eben ewiges Problem, wie die Menschen am besten ihr Leben als
Gemeinschaft organisieren, wie am wahrsten die Anknüpfung ihres endlichen
Lebens an das Unendliche und wie am gedeihlichsten die Ausbildung der
Individuen für sich. Aber während das Ringen auf politischem und auf
religiösem Gebiet sich als solches deutlich vor Augen stellt, verhüllt sich das
dritte weithin dem Blick. Eine Menge Einzelfragen werden mit Ernst, Eifer
oder Leidenschaft erörtert, als ob sie ganz für sich ständen und von irgendeinem
einfachen Gesichtspunkt aus zu lösen sein müßten. All die Streitigkeiten um
Schulformen, Lehrpläne, Unterrichtsfächer, Berechtigungen, ja großenteils auch
um Methoden bewegen sich, wenn der Zusammenhang eben nicht tiefer gesucht
wird, nur um die Peripherie der großen Frage, um das wahre Bildungsideal.
Das wahre? Das könnte andeuten, daß es eines geben müsse, dem gegenüber
jedes abweichende falsch sei. Aber dies muß nicht der Sinn sein. Daß die
Bildungsideale sich in der Abfolge der Zeiten wandeln, versteht sich; auch daß
sie bei den verschiedenen Nationen sich ungleich gestalten, ist natürlich; und daß
die eine der Nationen das rechte in Erbpacht habe und die übrigen nur minder-




9er Aampf der Vildungsideale
von Geh, Rat Prof. Dr, Wilhelm Münch

eher geistige Bewegungen der Vergangenheit urteilen wir mit aller
Zuversicht; bei solchen der Gegenwart stehen wir leicht ratlos,
mindestens unsicher, und die gleichwohl ganz sicher Urteilenden
sehen die Sachlage meist nicht so verwickelt, wie sie wirklich ist.
Manche Naturen finden unschwer die Seite, auf die sie sich bestimmt
schlagen, der sie rückhaltlos und endgültig angehören, und für die gegenüber¬
stehende haben sie dann wohl Ärger oder Ingrimm, Spott oder Verachtung.
Es scheint, daß es eine solche Scheidung der Parteien geben muß, damit die
Gegensätze sich lebendig herausarbeiten und vielen deutlich zum Bewußtsein
kommen, damit sie auch ihre Kraft an der Wirklichkeit erproben. Es scheint,
daß auch eine Idee außer führenden Vorkämpfern ein Heer von gemeinen
Soldaten haben muß, um Eroberungen zu machen oder sich im Feld zu behaupten.

Neben dem alten und sich immer erneuerten Kampf staatlicher Verfassungen
und neben dem nie endenden religiöser Bekenntnisse ist kein Zwiespalt geistiger
Mächte so zäh lebendig und tiefgreifend wie der der Bildungsideale. Natürlich:
es bleibt eben ewiges Problem, wie die Menschen am besten ihr Leben als
Gemeinschaft organisieren, wie am wahrsten die Anknüpfung ihres endlichen
Lebens an das Unendliche und wie am gedeihlichsten die Ausbildung der
Individuen für sich. Aber während das Ringen auf politischem und auf
religiösem Gebiet sich als solches deutlich vor Augen stellt, verhüllt sich das
dritte weithin dem Blick. Eine Menge Einzelfragen werden mit Ernst, Eifer
oder Leidenschaft erörtert, als ob sie ganz für sich ständen und von irgendeinem
einfachen Gesichtspunkt aus zu lösen sein müßten. All die Streitigkeiten um
Schulformen, Lehrpläne, Unterrichtsfächer, Berechtigungen, ja großenteils auch
um Methoden bewegen sich, wenn der Zusammenhang eben nicht tiefer gesucht
wird, nur um die Peripherie der großen Frage, um das wahre Bildungsideal.
Das wahre? Das könnte andeuten, daß es eines geben müsse, dem gegenüber
jedes abweichende falsch sei. Aber dies muß nicht der Sinn sein. Daß die
Bildungsideale sich in der Abfolge der Zeiten wandeln, versteht sich; auch daß
sie bei den verschiedenen Nationen sich ungleich gestalten, ist natürlich; und daß
die eine der Nationen das rechte in Erbpacht habe und die übrigen nur minder-


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[0066] [Abbildung] 9er Aampf der Vildungsideale von Geh, Rat Prof. Dr, Wilhelm Münch eher geistige Bewegungen der Vergangenheit urteilen wir mit aller Zuversicht; bei solchen der Gegenwart stehen wir leicht ratlos, mindestens unsicher, und die gleichwohl ganz sicher Urteilenden sehen die Sachlage meist nicht so verwickelt, wie sie wirklich ist. Manche Naturen finden unschwer die Seite, auf die sie sich bestimmt schlagen, der sie rückhaltlos und endgültig angehören, und für die gegenüber¬ stehende haben sie dann wohl Ärger oder Ingrimm, Spott oder Verachtung. Es scheint, daß es eine solche Scheidung der Parteien geben muß, damit die Gegensätze sich lebendig herausarbeiten und vielen deutlich zum Bewußtsein kommen, damit sie auch ihre Kraft an der Wirklichkeit erproben. Es scheint, daß auch eine Idee außer führenden Vorkämpfern ein Heer von gemeinen Soldaten haben muß, um Eroberungen zu machen oder sich im Feld zu behaupten. Neben dem alten und sich immer erneuerten Kampf staatlicher Verfassungen und neben dem nie endenden religiöser Bekenntnisse ist kein Zwiespalt geistiger Mächte so zäh lebendig und tiefgreifend wie der der Bildungsideale. Natürlich: es bleibt eben ewiges Problem, wie die Menschen am besten ihr Leben als Gemeinschaft organisieren, wie am wahrsten die Anknüpfung ihres endlichen Lebens an das Unendliche und wie am gedeihlichsten die Ausbildung der Individuen für sich. Aber während das Ringen auf politischem und auf religiösem Gebiet sich als solches deutlich vor Augen stellt, verhüllt sich das dritte weithin dem Blick. Eine Menge Einzelfragen werden mit Ernst, Eifer oder Leidenschaft erörtert, als ob sie ganz für sich ständen und von irgendeinem einfachen Gesichtspunkt aus zu lösen sein müßten. All die Streitigkeiten um Schulformen, Lehrpläne, Unterrichtsfächer, Berechtigungen, ja großenteils auch um Methoden bewegen sich, wenn der Zusammenhang eben nicht tiefer gesucht wird, nur um die Peripherie der großen Frage, um das wahre Bildungsideal. Das wahre? Das könnte andeuten, daß es eines geben müsse, dem gegenüber jedes abweichende falsch sei. Aber dies muß nicht der Sinn sein. Daß die Bildungsideale sich in der Abfolge der Zeiten wandeln, versteht sich; auch daß sie bei den verschiedenen Nationen sich ungleich gestalten, ist natürlich; und daß die eine der Nationen das rechte in Erbpacht habe und die übrigen nur minder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/66>, abgerufen am 01.01.2025.