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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen

Neuwieder System die Provinzstelle keine finanzielle Selbständigkeit hatte, während
beim Offenbacher System ein finanzieller Oberbau über den Provinzen nicht
bestand, sondern statt dessen die Anlehnung an die Preußenkasse. Nun zeigte
sich, daß auch im Neuwieder System die provinzielle Instanz eine immer ent¬
scheidendere Rolle spielte, je umfangreicher die Geschäfte wurden. Und bei diesen
Geschäften, zu denen ja auch das nicht gefahrlose Warengeschäft gehörte, zeigten
die Filialen mehrfach einen Wagemut, der sich nur daraus erklärte, daß das
Risiko solcher Geschäfte auf die Allgemeinheit, nicht auf die Provinz fiel. Die
Gründung der Kornhäuser, Winzergenossenschaften und anderer Betriebsgenossen¬
schaften vergrößerte diese Gefahren. So entschloß sich 1899 Neuwied zu einem
weiteren Schritt der Dezentralisation: es wurden in den einzelnen Provinzen
Landesgenossenschaftsbanken errichtet, um alle Genossenschaften zu finanzieren,
die nicht Darlehnskassen waren. Diese Landesgenossenschaftsbanken beruhten
wie im Offenbacher System auf der Haftsummenbeteiligung der ihnen an¬
geschlossenen Genossenschaften. Die Zentraldarlehnskasse gab ihnen das Geld,
und ihr Risiko war durch diese Form bedeutend verringert. Sie blieben aber
durchweg schwache Gebilde. Die Ideen möglichster Zentralisation der Geschäfte
waren aber keineswegs eingeschlafen, es ist vielmehr auch für die spätere Zeit
charakteristisch, daß trotz der schrittweise fortgesetzten Dezentralisation zentralische
Strömungen fortdauerten und immer wieder bei praktischen Maßnahmen sich
durchsetzten. Die Firma Raiffeisen u. Kons, hatte sich in den neunziger Jahren
in Belgien eine Superphosphatfabrik angegliedert; Versuche, den Handel mit
Wein, Hopfen und Tabak genossenschaftlich zu zentralisieren, folgten. Freilich
wurde das Risiko dieser letzteren Zentralisation zum Teil den Landesgenossen¬
schaftsbanken zugewiesen, die wegen ihrer Geringfügigkeit nicht in der Lage
waren, sich eigene tüchtige Beamte zu halten, und die Weisungen der Zentral¬
darlehnskasse befolgen mußten. Der Grundsatz zentraler Leitung wurde in den
Jahren 1902 und 1903 vom Generaldirektor Heller noch einmal stark angespannt.
Trotzdem setzte sich seit 1900 allmählich die weitere Dezentralisation durch. Einige
Landesgenossenschaftsbanken erstarkten; dagegen schritt in der Zentrale die not¬
wendige Kapitalerhöhung nicht nach Wunsch voran und blieb seit der Krisis
von 1904 ganz stecken. Die Verluste, durch welche die Zentrale durch die voreilige
Organisation des Produktengeschäfts und durch die Fehler schlecht verwalteter
Filialen getroffen wurde, mußten in den anderen Provinzen das Streben nach
selbständiger Leitung und auch nach finanzieller Selbständigkeit bestärken.

Aus dem Gegensatz zwischen der Offenbacher und der Neuwieder Richtung
war nach und nach ein offener Kampf in mehreren Provinzen entstanden. AIs
die Raiffeisen-Organisation im Jahre 1904 ihre gesamten Reserven verloren
hatte und keine Dividende verteilen konnte, sah sie sich zu einem Friedenschluß
genötigt, der in entscheidender Weise auch bei ihr das Schwergewicht in die
Provinz verlegte; die bis dahin nichts bedeutenden provinziellen Verbände der
Raiffeisen-Genossenschaften erhielten das bisher vom Generalverband in Neuwied


Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen

Neuwieder System die Provinzstelle keine finanzielle Selbständigkeit hatte, während
beim Offenbacher System ein finanzieller Oberbau über den Provinzen nicht
bestand, sondern statt dessen die Anlehnung an die Preußenkasse. Nun zeigte
sich, daß auch im Neuwieder System die provinzielle Instanz eine immer ent¬
scheidendere Rolle spielte, je umfangreicher die Geschäfte wurden. Und bei diesen
Geschäften, zu denen ja auch das nicht gefahrlose Warengeschäft gehörte, zeigten
die Filialen mehrfach einen Wagemut, der sich nur daraus erklärte, daß das
Risiko solcher Geschäfte auf die Allgemeinheit, nicht auf die Provinz fiel. Die
Gründung der Kornhäuser, Winzergenossenschaften und anderer Betriebsgenossen¬
schaften vergrößerte diese Gefahren. So entschloß sich 1899 Neuwied zu einem
weiteren Schritt der Dezentralisation: es wurden in den einzelnen Provinzen
Landesgenossenschaftsbanken errichtet, um alle Genossenschaften zu finanzieren,
die nicht Darlehnskassen waren. Diese Landesgenossenschaftsbanken beruhten
wie im Offenbacher System auf der Haftsummenbeteiligung der ihnen an¬
geschlossenen Genossenschaften. Die Zentraldarlehnskasse gab ihnen das Geld,
und ihr Risiko war durch diese Form bedeutend verringert. Sie blieben aber
durchweg schwache Gebilde. Die Ideen möglichster Zentralisation der Geschäfte
waren aber keineswegs eingeschlafen, es ist vielmehr auch für die spätere Zeit
charakteristisch, daß trotz der schrittweise fortgesetzten Dezentralisation zentralische
Strömungen fortdauerten und immer wieder bei praktischen Maßnahmen sich
durchsetzten. Die Firma Raiffeisen u. Kons, hatte sich in den neunziger Jahren
in Belgien eine Superphosphatfabrik angegliedert; Versuche, den Handel mit
Wein, Hopfen und Tabak genossenschaftlich zu zentralisieren, folgten. Freilich
wurde das Risiko dieser letzteren Zentralisation zum Teil den Landesgenossen¬
schaftsbanken zugewiesen, die wegen ihrer Geringfügigkeit nicht in der Lage
waren, sich eigene tüchtige Beamte zu halten, und die Weisungen der Zentral¬
darlehnskasse befolgen mußten. Der Grundsatz zentraler Leitung wurde in den
Jahren 1902 und 1903 vom Generaldirektor Heller noch einmal stark angespannt.
Trotzdem setzte sich seit 1900 allmählich die weitere Dezentralisation durch. Einige
Landesgenossenschaftsbanken erstarkten; dagegen schritt in der Zentrale die not¬
wendige Kapitalerhöhung nicht nach Wunsch voran und blieb seit der Krisis
von 1904 ganz stecken. Die Verluste, durch welche die Zentrale durch die voreilige
Organisation des Produktengeschäfts und durch die Fehler schlecht verwalteter
Filialen getroffen wurde, mußten in den anderen Provinzen das Streben nach
selbständiger Leitung und auch nach finanzieller Selbständigkeit bestärken.

Aus dem Gegensatz zwischen der Offenbacher und der Neuwieder Richtung
war nach und nach ein offener Kampf in mehreren Provinzen entstanden. AIs
die Raiffeisen-Organisation im Jahre 1904 ihre gesamten Reserven verloren
hatte und keine Dividende verteilen konnte, sah sie sich zu einem Friedenschluß
genötigt, der in entscheidender Weise auch bei ihr das Schwergewicht in die
Provinz verlegte; die bis dahin nichts bedeutenden provinziellen Verbände der
Raiffeisen-Genossenschaften erhielten das bisher vom Generalverband in Neuwied


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[0619] Strömungen im ländlichen Genossenschaftswesen Neuwieder System die Provinzstelle keine finanzielle Selbständigkeit hatte, während beim Offenbacher System ein finanzieller Oberbau über den Provinzen nicht bestand, sondern statt dessen die Anlehnung an die Preußenkasse. Nun zeigte sich, daß auch im Neuwieder System die provinzielle Instanz eine immer ent¬ scheidendere Rolle spielte, je umfangreicher die Geschäfte wurden. Und bei diesen Geschäften, zu denen ja auch das nicht gefahrlose Warengeschäft gehörte, zeigten die Filialen mehrfach einen Wagemut, der sich nur daraus erklärte, daß das Risiko solcher Geschäfte auf die Allgemeinheit, nicht auf die Provinz fiel. Die Gründung der Kornhäuser, Winzergenossenschaften und anderer Betriebsgenossen¬ schaften vergrößerte diese Gefahren. So entschloß sich 1899 Neuwied zu einem weiteren Schritt der Dezentralisation: es wurden in den einzelnen Provinzen Landesgenossenschaftsbanken errichtet, um alle Genossenschaften zu finanzieren, die nicht Darlehnskassen waren. Diese Landesgenossenschaftsbanken beruhten wie im Offenbacher System auf der Haftsummenbeteiligung der ihnen an¬ geschlossenen Genossenschaften. Die Zentraldarlehnskasse gab ihnen das Geld, und ihr Risiko war durch diese Form bedeutend verringert. Sie blieben aber durchweg schwache Gebilde. Die Ideen möglichster Zentralisation der Geschäfte waren aber keineswegs eingeschlafen, es ist vielmehr auch für die spätere Zeit charakteristisch, daß trotz der schrittweise fortgesetzten Dezentralisation zentralische Strömungen fortdauerten und immer wieder bei praktischen Maßnahmen sich durchsetzten. Die Firma Raiffeisen u. Kons, hatte sich in den neunziger Jahren in Belgien eine Superphosphatfabrik angegliedert; Versuche, den Handel mit Wein, Hopfen und Tabak genossenschaftlich zu zentralisieren, folgten. Freilich wurde das Risiko dieser letzteren Zentralisation zum Teil den Landesgenossen¬ schaftsbanken zugewiesen, die wegen ihrer Geringfügigkeit nicht in der Lage waren, sich eigene tüchtige Beamte zu halten, und die Weisungen der Zentral¬ darlehnskasse befolgen mußten. Der Grundsatz zentraler Leitung wurde in den Jahren 1902 und 1903 vom Generaldirektor Heller noch einmal stark angespannt. Trotzdem setzte sich seit 1900 allmählich die weitere Dezentralisation durch. Einige Landesgenossenschaftsbanken erstarkten; dagegen schritt in der Zentrale die not¬ wendige Kapitalerhöhung nicht nach Wunsch voran und blieb seit der Krisis von 1904 ganz stecken. Die Verluste, durch welche die Zentrale durch die voreilige Organisation des Produktengeschäfts und durch die Fehler schlecht verwalteter Filialen getroffen wurde, mußten in den anderen Provinzen das Streben nach selbständiger Leitung und auch nach finanzieller Selbständigkeit bestärken. Aus dem Gegensatz zwischen der Offenbacher und der Neuwieder Richtung war nach und nach ein offener Kampf in mehreren Provinzen entstanden. AIs die Raiffeisen-Organisation im Jahre 1904 ihre gesamten Reserven verloren hatte und keine Dividende verteilen konnte, sah sie sich zu einem Friedenschluß genötigt, der in entscheidender Weise auch bei ihr das Schwergewicht in die Provinz verlegte; die bis dahin nichts bedeutenden provinziellen Verbände der Raiffeisen-Genossenschaften erhielten das bisher vom Generalverband in Neuwied

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/619>, abgerufen am 04.01.2025.