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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Zur Wehrbewegung in England

Zur Wehrbewegung in England

er russisch-japanische Krieg hat für Asien ähnlich weittragende
! Anregungen gebracht, wie seinerzeit die napoleonischen Kriege für
z Europa. Die zeitweilige oder auch dauernde Ausschließung Ru߬
lands vom Großen Ozean ist dabei ziemlich nebensächlich; viel
wichtiger ist, daß der nationale Geist erwachte, nicht bloß in Japan
lebendig ist, sondern sich auch in China und Indien mächtig regt. Der Glaube
an die Unüberwindlichkeit der Europäer, die Furcht vor Rußland, die den Indern
die englische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ, sind geschwunden,
der Gedanke: Asien für die Asiaten! ist ausgelöst worden und hat das Vertrauen
auf die eigene Kraft und den Haß gegen jeden europäischen Einfluß gestärkt.
Die Sache ist noch im Werden, und insbesondere wird die Entschlußfähigkeit
der Inder nicht hoch veranschlagt. Aber England hätte alle Ursache, sein haupt¬
sächlichstes Interesse den dortigen Verhältnissen zuzuwenden. Auch jenseits des
Kanals ist niemand im Zweifel darüber, daß der Verlust Indiens dem Erlöschen
der britischen Weltstellung gleichkommt. Die wohlgemeinten und vielleicht auch
zweckmäßigen Reformen hätten zur Zeit der Russenfurcht Wurzel schlagen können,
jetzt kommen sie zu spät und erscheinen den Indern als Schwäche, denn den
Asiaten gilt als einziges politisches Prinzip nur die Macht. Will England den
Indern die Lust zu Aufständen benehmen und sie für Reformen zugänglich
machen, so muß es ihnen durch Macht imponieren, es muß eine Armee besitzen,
die sofort zur Einschiffung bereit ist.

Mit den schönsten Dreadnoughts kann man Indien nicht halten, auch die
dort liegenden 75000 Mann, die keineswegs vollkommen zuverlässig sind, reichen
samt allen möglichen Nachschüben von 150000 bis 180000 Mann im Ernstfalle
nicht aus, wie der Burenkrieg schon erwiesen hat. Dazu gehört eine ganz
andere Armee und nicht etwa jene lächerlichen 100000 Mann, die angeblich
jemand Delcasse angeboten haben soll. Dazu gehört das Vier- und Fünffache;
aber das einfache Vorhandensein würde schon jeden indischen Aufstand aus¬
sichtslos machen. In England gibt es Leute genug, die den Ernst der Lage
erkennen und seit dem Burenkriege, noch mehr aber seit dem unerwarteten
Emporsteigen des gehätschelten Japan, unausgesetzt bemüht sind, in Voraussicht
möglicher schwerer Entscheidungen den Wehrsinn im Volke zu pflegen. Sie
arbeiten auf die allgemeine Wehrpflicht hin, die allein imstande ist, die unbedingt
erforderliche Armee und eine ausreichende Besatzung für die neuen riesigen
Linienschiffe zu schaffen. Das Werbesystem liefert nicht einmal mehr die volle
Bemannung für die doch sonst so populäre Flotte, wie Lord Beresford vor nicht
langer Zeit ausdrücklich ausgesprochen hat. Die allgemeine Wehrpflicht ist in
Preußen, wie nachmals im übrigen Deutschland, in Österreich und Frankreich
erst nach schweren Niederlagen eingeführt worden, man braucht sich darum nicht


Zur Wehrbewegung in England

Zur Wehrbewegung in England

er russisch-japanische Krieg hat für Asien ähnlich weittragende
! Anregungen gebracht, wie seinerzeit die napoleonischen Kriege für
z Europa. Die zeitweilige oder auch dauernde Ausschließung Ru߬
lands vom Großen Ozean ist dabei ziemlich nebensächlich; viel
wichtiger ist, daß der nationale Geist erwachte, nicht bloß in Japan
lebendig ist, sondern sich auch in China und Indien mächtig regt. Der Glaube
an die Unüberwindlichkeit der Europäer, die Furcht vor Rußland, die den Indern
die englische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ, sind geschwunden,
der Gedanke: Asien für die Asiaten! ist ausgelöst worden und hat das Vertrauen
auf die eigene Kraft und den Haß gegen jeden europäischen Einfluß gestärkt.
Die Sache ist noch im Werden, und insbesondere wird die Entschlußfähigkeit
der Inder nicht hoch veranschlagt. Aber England hätte alle Ursache, sein haupt¬
sächlichstes Interesse den dortigen Verhältnissen zuzuwenden. Auch jenseits des
Kanals ist niemand im Zweifel darüber, daß der Verlust Indiens dem Erlöschen
der britischen Weltstellung gleichkommt. Die wohlgemeinten und vielleicht auch
zweckmäßigen Reformen hätten zur Zeit der Russenfurcht Wurzel schlagen können,
jetzt kommen sie zu spät und erscheinen den Indern als Schwäche, denn den
Asiaten gilt als einziges politisches Prinzip nur die Macht. Will England den
Indern die Lust zu Aufständen benehmen und sie für Reformen zugänglich
machen, so muß es ihnen durch Macht imponieren, es muß eine Armee besitzen,
die sofort zur Einschiffung bereit ist.

Mit den schönsten Dreadnoughts kann man Indien nicht halten, auch die
dort liegenden 75000 Mann, die keineswegs vollkommen zuverlässig sind, reichen
samt allen möglichen Nachschüben von 150000 bis 180000 Mann im Ernstfalle
nicht aus, wie der Burenkrieg schon erwiesen hat. Dazu gehört eine ganz
andere Armee und nicht etwa jene lächerlichen 100000 Mann, die angeblich
jemand Delcasse angeboten haben soll. Dazu gehört das Vier- und Fünffache;
aber das einfache Vorhandensein würde schon jeden indischen Aufstand aus¬
sichtslos machen. In England gibt es Leute genug, die den Ernst der Lage
erkennen und seit dem Burenkriege, noch mehr aber seit dem unerwarteten
Emporsteigen des gehätschelten Japan, unausgesetzt bemüht sind, in Voraussicht
möglicher schwerer Entscheidungen den Wehrsinn im Volke zu pflegen. Sie
arbeiten auf die allgemeine Wehrpflicht hin, die allein imstande ist, die unbedingt
erforderliche Armee und eine ausreichende Besatzung für die neuen riesigen
Linienschiffe zu schaffen. Das Werbesystem liefert nicht einmal mehr die volle
Bemannung für die doch sonst so populäre Flotte, wie Lord Beresford vor nicht
langer Zeit ausdrücklich ausgesprochen hat. Die allgemeine Wehrpflicht ist in
Preußen, wie nachmals im übrigen Deutschland, in Österreich und Frankreich
erst nach schweren Niederlagen eingeführt worden, man braucht sich darum nicht


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[0612] Zur Wehrbewegung in England Zur Wehrbewegung in England er russisch-japanische Krieg hat für Asien ähnlich weittragende ! Anregungen gebracht, wie seinerzeit die napoleonischen Kriege für z Europa. Die zeitweilige oder auch dauernde Ausschließung Ru߬ lands vom Großen Ozean ist dabei ziemlich nebensächlich; viel wichtiger ist, daß der nationale Geist erwachte, nicht bloß in Japan lebendig ist, sondern sich auch in China und Indien mächtig regt. Der Glaube an die Unüberwindlichkeit der Europäer, die Furcht vor Rußland, die den Indern die englische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ, sind geschwunden, der Gedanke: Asien für die Asiaten! ist ausgelöst worden und hat das Vertrauen auf die eigene Kraft und den Haß gegen jeden europäischen Einfluß gestärkt. Die Sache ist noch im Werden, und insbesondere wird die Entschlußfähigkeit der Inder nicht hoch veranschlagt. Aber England hätte alle Ursache, sein haupt¬ sächlichstes Interesse den dortigen Verhältnissen zuzuwenden. Auch jenseits des Kanals ist niemand im Zweifel darüber, daß der Verlust Indiens dem Erlöschen der britischen Weltstellung gleichkommt. Die wohlgemeinten und vielleicht auch zweckmäßigen Reformen hätten zur Zeit der Russenfurcht Wurzel schlagen können, jetzt kommen sie zu spät und erscheinen den Indern als Schwäche, denn den Asiaten gilt als einziges politisches Prinzip nur die Macht. Will England den Indern die Lust zu Aufständen benehmen und sie für Reformen zugänglich machen, so muß es ihnen durch Macht imponieren, es muß eine Armee besitzen, die sofort zur Einschiffung bereit ist. Mit den schönsten Dreadnoughts kann man Indien nicht halten, auch die dort liegenden 75000 Mann, die keineswegs vollkommen zuverlässig sind, reichen samt allen möglichen Nachschüben von 150000 bis 180000 Mann im Ernstfalle nicht aus, wie der Burenkrieg schon erwiesen hat. Dazu gehört eine ganz andere Armee und nicht etwa jene lächerlichen 100000 Mann, die angeblich jemand Delcasse angeboten haben soll. Dazu gehört das Vier- und Fünffache; aber das einfache Vorhandensein würde schon jeden indischen Aufstand aus¬ sichtslos machen. In England gibt es Leute genug, die den Ernst der Lage erkennen und seit dem Burenkriege, noch mehr aber seit dem unerwarteten Emporsteigen des gehätschelten Japan, unausgesetzt bemüht sind, in Voraussicht möglicher schwerer Entscheidungen den Wehrsinn im Volke zu pflegen. Sie arbeiten auf die allgemeine Wehrpflicht hin, die allein imstande ist, die unbedingt erforderliche Armee und eine ausreichende Besatzung für die neuen riesigen Linienschiffe zu schaffen. Das Werbesystem liefert nicht einmal mehr die volle Bemannung für die doch sonst so populäre Flotte, wie Lord Beresford vor nicht langer Zeit ausdrücklich ausgesprochen hat. Die allgemeine Wehrpflicht ist in Preußen, wie nachmals im übrigen Deutschland, in Österreich und Frankreich erst nach schweren Niederlagen eingeführt worden, man braucht sich darum nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/612>, abgerufen am 04.01.2025.