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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Stolypin und Rußland

Großgrundbesitz in erster Linie kräftige und gehorsame Arbeiter brauche, da wies
ihn Stolypin, selbst Großgrundbesitzer, mit den Worten ab: "Bildung und Auf¬
klärung fürchten, das Licht fürchten darf man nicht. Eine verständige und
zweckmäßig organisierte Volksschulbildung wird das Volk niemals zur Anarchie
führen." Und weiter erklärte er: "Es ist selbstverständlich, daß eine vom russischen
Staate eingerichtete und geführte Volksschule in erster Linie für die Ausbreitung
der Reichssprache, des Russischen, zu sorgen hat." Die Beziehungen zwischen Gro߬
grundbesitz und Bauernschaft suchte Stolyvin durchaus angenehm zu gestalten
und wirkte dahin, alle solche Verhältnisse zu beseitigen, die nicht nur in Ru߬
land geeignet sind, Unfrieden zwischen beiden zu erzeugen. So legte er sich
sür die Beseitigung der Gemengelage und des Servitutenrechts stark ins Zeug,
obwohl gerade diese beiden Schädlinge der Landwirtschaft von russischen Politikern
dort zur Anwendung empfohlen wurden, wo es galt, das Volk gegen die
Herren im "nationalen Interesse" aufzubringen.

Dieses besonnenen und verständigen Mannes erinnerte man sich in
Petersburg, wie gesagt, im März 1906, und der Zar berief ihn auf den Posten
eines Ministers des Innern, obwohl ihm für das Amt vielfach theoretische
Kenntnisse abgingen. Auch einen zweiten Mangel nahm man in Kauf.
Stolyvin verfügte nicht über intimere Beziehungen zu den großen Familien des
Landes und konnte sich daher auch nicht von vornherein auf einen hilfsbereiten
Freundeskreis stützen.

Die Familie Stolyvin gehört zwar zu den älteren Geschlechtern des
russischen Adels, aber sie hat es weder durch hervorragende Leistungen einzelner
ihrer Glieder, noch durch großen Besitz zu besonderem Einfluß gebracht. Über¬
dies stammte Stolypin selbst von einem Sprossen ab, der sein Leben im Kriegs¬
dienst hingebracht hatte, ohne die Aufmerksamkeit Alexanders des Ersten dauernd
auf sich zu lenken. Auch der Vater des Ministers war Offizier. Zwar
gelangte er nach dem Kriege gegen die Türkei im Jahre 1878 in eine Hof¬
stellung, genoß auch als talentierter Bildhauer und historischer Schriftsteller
einen gewissen Ruf; aber es gelang auch ihm nicht, die Familie in die oberste
Schicht zu bringen, mit der man in Rußland rechnen muß, wenn man Einfluß
in: Lande gewinnen will. Seinen Landbesitz im Gouvernement Kowno erbte
Stolypin vom Vater, der das Gut als Dotation erhalten hatte, die Güter in
Persa und Kasan von Seitenverwandten. Im ganzen mag er 2000 bis 2500
Hektar Land besessen haben, also für russische Verhältnisse recht wenig und
durchaus nicht hinreichend, um damit gesellschaftliche Beziehungen zur Hoch-
aristokratie, zu den Schermetjew, Maltzew, Dolgorukow, Urussow und anderen
unterhalten zu können.

Man wird es angesichts dieser tatsächlichen Angaben begreiflich finden,
wenn Stolypin von vornherein nicht für die Stellung des Ministerpräsidenten
in Aussicht genommen wurde. Ja, sein Amt als Minister des Innern war
sogar mit so geringen Machtbefugnissen ausgestattet, daß er nicht einmal


Stolypin und Rußland

Großgrundbesitz in erster Linie kräftige und gehorsame Arbeiter brauche, da wies
ihn Stolypin, selbst Großgrundbesitzer, mit den Worten ab: „Bildung und Auf¬
klärung fürchten, das Licht fürchten darf man nicht. Eine verständige und
zweckmäßig organisierte Volksschulbildung wird das Volk niemals zur Anarchie
führen." Und weiter erklärte er: „Es ist selbstverständlich, daß eine vom russischen
Staate eingerichtete und geführte Volksschule in erster Linie für die Ausbreitung
der Reichssprache, des Russischen, zu sorgen hat." Die Beziehungen zwischen Gro߬
grundbesitz und Bauernschaft suchte Stolyvin durchaus angenehm zu gestalten
und wirkte dahin, alle solche Verhältnisse zu beseitigen, die nicht nur in Ru߬
land geeignet sind, Unfrieden zwischen beiden zu erzeugen. So legte er sich
sür die Beseitigung der Gemengelage und des Servitutenrechts stark ins Zeug,
obwohl gerade diese beiden Schädlinge der Landwirtschaft von russischen Politikern
dort zur Anwendung empfohlen wurden, wo es galt, das Volk gegen die
Herren im „nationalen Interesse" aufzubringen.

Dieses besonnenen und verständigen Mannes erinnerte man sich in
Petersburg, wie gesagt, im März 1906, und der Zar berief ihn auf den Posten
eines Ministers des Innern, obwohl ihm für das Amt vielfach theoretische
Kenntnisse abgingen. Auch einen zweiten Mangel nahm man in Kauf.
Stolyvin verfügte nicht über intimere Beziehungen zu den großen Familien des
Landes und konnte sich daher auch nicht von vornherein auf einen hilfsbereiten
Freundeskreis stützen.

Die Familie Stolyvin gehört zwar zu den älteren Geschlechtern des
russischen Adels, aber sie hat es weder durch hervorragende Leistungen einzelner
ihrer Glieder, noch durch großen Besitz zu besonderem Einfluß gebracht. Über¬
dies stammte Stolypin selbst von einem Sprossen ab, der sein Leben im Kriegs¬
dienst hingebracht hatte, ohne die Aufmerksamkeit Alexanders des Ersten dauernd
auf sich zu lenken. Auch der Vater des Ministers war Offizier. Zwar
gelangte er nach dem Kriege gegen die Türkei im Jahre 1878 in eine Hof¬
stellung, genoß auch als talentierter Bildhauer und historischer Schriftsteller
einen gewissen Ruf; aber es gelang auch ihm nicht, die Familie in die oberste
Schicht zu bringen, mit der man in Rußland rechnen muß, wenn man Einfluß
in: Lande gewinnen will. Seinen Landbesitz im Gouvernement Kowno erbte
Stolypin vom Vater, der das Gut als Dotation erhalten hatte, die Güter in
Persa und Kasan von Seitenverwandten. Im ganzen mag er 2000 bis 2500
Hektar Land besessen haben, also für russische Verhältnisse recht wenig und
durchaus nicht hinreichend, um damit gesellschaftliche Beziehungen zur Hoch-
aristokratie, zu den Schermetjew, Maltzew, Dolgorukow, Urussow und anderen
unterhalten zu können.

Man wird es angesichts dieser tatsächlichen Angaben begreiflich finden,
wenn Stolypin von vornherein nicht für die Stellung des Ministerpräsidenten
in Aussicht genommen wurde. Ja, sein Amt als Minister des Innern war
sogar mit so geringen Machtbefugnissen ausgestattet, daß er nicht einmal


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[0598] Stolypin und Rußland Großgrundbesitz in erster Linie kräftige und gehorsame Arbeiter brauche, da wies ihn Stolypin, selbst Großgrundbesitzer, mit den Worten ab: „Bildung und Auf¬ klärung fürchten, das Licht fürchten darf man nicht. Eine verständige und zweckmäßig organisierte Volksschulbildung wird das Volk niemals zur Anarchie führen." Und weiter erklärte er: „Es ist selbstverständlich, daß eine vom russischen Staate eingerichtete und geführte Volksschule in erster Linie für die Ausbreitung der Reichssprache, des Russischen, zu sorgen hat." Die Beziehungen zwischen Gro߬ grundbesitz und Bauernschaft suchte Stolyvin durchaus angenehm zu gestalten und wirkte dahin, alle solche Verhältnisse zu beseitigen, die nicht nur in Ru߬ land geeignet sind, Unfrieden zwischen beiden zu erzeugen. So legte er sich sür die Beseitigung der Gemengelage und des Servitutenrechts stark ins Zeug, obwohl gerade diese beiden Schädlinge der Landwirtschaft von russischen Politikern dort zur Anwendung empfohlen wurden, wo es galt, das Volk gegen die Herren im „nationalen Interesse" aufzubringen. Dieses besonnenen und verständigen Mannes erinnerte man sich in Petersburg, wie gesagt, im März 1906, und der Zar berief ihn auf den Posten eines Ministers des Innern, obwohl ihm für das Amt vielfach theoretische Kenntnisse abgingen. Auch einen zweiten Mangel nahm man in Kauf. Stolyvin verfügte nicht über intimere Beziehungen zu den großen Familien des Landes und konnte sich daher auch nicht von vornherein auf einen hilfsbereiten Freundeskreis stützen. Die Familie Stolyvin gehört zwar zu den älteren Geschlechtern des russischen Adels, aber sie hat es weder durch hervorragende Leistungen einzelner ihrer Glieder, noch durch großen Besitz zu besonderem Einfluß gebracht. Über¬ dies stammte Stolypin selbst von einem Sprossen ab, der sein Leben im Kriegs¬ dienst hingebracht hatte, ohne die Aufmerksamkeit Alexanders des Ersten dauernd auf sich zu lenken. Auch der Vater des Ministers war Offizier. Zwar gelangte er nach dem Kriege gegen die Türkei im Jahre 1878 in eine Hof¬ stellung, genoß auch als talentierter Bildhauer und historischer Schriftsteller einen gewissen Ruf; aber es gelang auch ihm nicht, die Familie in die oberste Schicht zu bringen, mit der man in Rußland rechnen muß, wenn man Einfluß in: Lande gewinnen will. Seinen Landbesitz im Gouvernement Kowno erbte Stolypin vom Vater, der das Gut als Dotation erhalten hatte, die Güter in Persa und Kasan von Seitenverwandten. Im ganzen mag er 2000 bis 2500 Hektar Land besessen haben, also für russische Verhältnisse recht wenig und durchaus nicht hinreichend, um damit gesellschaftliche Beziehungen zur Hoch- aristokratie, zu den Schermetjew, Maltzew, Dolgorukow, Urussow und anderen unterhalten zu können. Man wird es angesichts dieser tatsächlichen Angaben begreiflich finden, wenn Stolypin von vornherein nicht für die Stellung des Ministerpräsidenten in Aussicht genommen wurde. Ja, sein Amt als Minister des Innern war sogar mit so geringen Machtbefugnissen ausgestattet, daß er nicht einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/598>, abgerufen am 04.01.2025.