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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Stolypin und Rußland

der Gegend Vorträge gehalten hatte. Nun wurde in den Personalakten Stolypins
weiter gegraben, und da traf man auch auf feine Amtstätigkeit in Grodno,
wo er im Jahre 1902 den Gouverneur vertreten hatte.

In jenen: dritten Jahre dieses Jahrhunderts lag über ganz Rußland eine
erwartungsvolle Spannung. Nach langwierigen Vorberatungen und Überwindung
mancher Intrige war am 22. Januar ein Ukas an den dirigierenden Senat ergangen,
der die Durchführung einer besonderen Enquete über die Lage des Bauernstandes
befahl und um Angabe von Mitteln ersuchte, die geeignet wären, die bäuerliche
Wirtschaft zu heben und sicher zu stellen. Die liberale Reformpartei versprach sich
von dieser Enquete, die im Zusammenwirken der Gouvernements- und Kreisbehörden
mit den Selbstverwaltungsorganen gedacht war, zunächst die Herbeischaffung
authentischen Materials über die Lage der Bauern, wie sie wirklich ist, und
dann bei den Behörden die Erkenntnis, daß eine Abhilfe der trostlosen
Zustände nur mittelst der Sjemstwoinstitutionen möglich sein werde, daß also die
Enquete eine Ausdehnung des Selbstverwaltungsprinzips zur Folge haben
müsse. In Gebieten, wo es noch keine Sjemstwo gab, wie in Grodno,
hoffte man durch die Enquete dazu zu kommen. Nun ist das Gouvernement
Grodno ein besonders heikler Bezirk für derartige Fragen. Das Gros der
Landbevölkerung setzt sich aus katholischen Litauern und polonisierten Weißrussen
zusammen. Die Oberschicht wird von polnischen und polonisierten Großgrund¬
besitzern gebildet, denen nur wenige Moskowiter gegenüberstehen. Die Städte
und zahlreichen Flecken haben zwischen 40 bis 96 Prozent Juden. Das russische
Element bildet, wenn man von den starken Garnisonen absieht, vielleicht nur
6 bis 8 Prozent der ganzen Bevölkerung. Dieser Hinweis auf die ethno¬
graphischen Verhältnisse genügt, um sich ein Bild davon machen zu können,
welche Schwierigkeiten dem Vorsitzenden der Enquetekommission erwachsen mußten,
wenn er nicht mit sehr gefestigten Anschauungen und sehr genauer Kenntnis der
Vorschriften auftreten konnte. -- Entgegen der Gepflogenheit anderer Gouver¬
neure übernahm Stolypin nicht nur den Vorsitz, sondern auch die praktische
Leitung der Verhandlungen.

In diesen Verhandlungen konnte der spätere Minister gewissermaßen ein
Glaubensbekenntnis über alle die Fragen zum Ausdruck bringen, die für das
Gesamtreich zu lösen vom Jahre 1906 ab seine Hauptaufgabe sein sollte.
Alle Gegner, die er seit 1906 im großen hatte, lernte er schon damals im
kleinen kennen. Und wie er damals mit seinen über den Parteien stehenden
Anschauungen einzelne Interessenten verschnupfte oder doch wenigstens nicht
befriedigte, so war er als Ministerpräsident gezwungen, ganze Parteien und
einflußreiche Gruppen gegen sich einzunehmen, wenn er dem Ganzen dienen
wollte. In Grodno bekämpfte Stolypin den Egoismus des Großgrundbesitzes,
gleichgültig, ob dieser sich mit dem russischen oder polnischen nationalen Mäntelchen
umkleidete. Als Fürst Swjatopolk-Tschetivertinski, ein polonisierter Litauer, die
Einführung der allgemeinen Schulpflicht auch für die Bauern bekämpfte, weil der


Stolypin und Rußland

der Gegend Vorträge gehalten hatte. Nun wurde in den Personalakten Stolypins
weiter gegraben, und da traf man auch auf feine Amtstätigkeit in Grodno,
wo er im Jahre 1902 den Gouverneur vertreten hatte.

In jenen: dritten Jahre dieses Jahrhunderts lag über ganz Rußland eine
erwartungsvolle Spannung. Nach langwierigen Vorberatungen und Überwindung
mancher Intrige war am 22. Januar ein Ukas an den dirigierenden Senat ergangen,
der die Durchführung einer besonderen Enquete über die Lage des Bauernstandes
befahl und um Angabe von Mitteln ersuchte, die geeignet wären, die bäuerliche
Wirtschaft zu heben und sicher zu stellen. Die liberale Reformpartei versprach sich
von dieser Enquete, die im Zusammenwirken der Gouvernements- und Kreisbehörden
mit den Selbstverwaltungsorganen gedacht war, zunächst die Herbeischaffung
authentischen Materials über die Lage der Bauern, wie sie wirklich ist, und
dann bei den Behörden die Erkenntnis, daß eine Abhilfe der trostlosen
Zustände nur mittelst der Sjemstwoinstitutionen möglich sein werde, daß also die
Enquete eine Ausdehnung des Selbstverwaltungsprinzips zur Folge haben
müsse. In Gebieten, wo es noch keine Sjemstwo gab, wie in Grodno,
hoffte man durch die Enquete dazu zu kommen. Nun ist das Gouvernement
Grodno ein besonders heikler Bezirk für derartige Fragen. Das Gros der
Landbevölkerung setzt sich aus katholischen Litauern und polonisierten Weißrussen
zusammen. Die Oberschicht wird von polnischen und polonisierten Großgrund¬
besitzern gebildet, denen nur wenige Moskowiter gegenüberstehen. Die Städte
und zahlreichen Flecken haben zwischen 40 bis 96 Prozent Juden. Das russische
Element bildet, wenn man von den starken Garnisonen absieht, vielleicht nur
6 bis 8 Prozent der ganzen Bevölkerung. Dieser Hinweis auf die ethno¬
graphischen Verhältnisse genügt, um sich ein Bild davon machen zu können,
welche Schwierigkeiten dem Vorsitzenden der Enquetekommission erwachsen mußten,
wenn er nicht mit sehr gefestigten Anschauungen und sehr genauer Kenntnis der
Vorschriften auftreten konnte. — Entgegen der Gepflogenheit anderer Gouver¬
neure übernahm Stolypin nicht nur den Vorsitz, sondern auch die praktische
Leitung der Verhandlungen.

In diesen Verhandlungen konnte der spätere Minister gewissermaßen ein
Glaubensbekenntnis über alle die Fragen zum Ausdruck bringen, die für das
Gesamtreich zu lösen vom Jahre 1906 ab seine Hauptaufgabe sein sollte.
Alle Gegner, die er seit 1906 im großen hatte, lernte er schon damals im
kleinen kennen. Und wie er damals mit seinen über den Parteien stehenden
Anschauungen einzelne Interessenten verschnupfte oder doch wenigstens nicht
befriedigte, so war er als Ministerpräsident gezwungen, ganze Parteien und
einflußreiche Gruppen gegen sich einzunehmen, wenn er dem Ganzen dienen
wollte. In Grodno bekämpfte Stolypin den Egoismus des Großgrundbesitzes,
gleichgültig, ob dieser sich mit dem russischen oder polnischen nationalen Mäntelchen
umkleidete. Als Fürst Swjatopolk-Tschetivertinski, ein polonisierter Litauer, die
Einführung der allgemeinen Schulpflicht auch für die Bauern bekämpfte, weil der


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[0597] Stolypin und Rußland der Gegend Vorträge gehalten hatte. Nun wurde in den Personalakten Stolypins weiter gegraben, und da traf man auch auf feine Amtstätigkeit in Grodno, wo er im Jahre 1902 den Gouverneur vertreten hatte. In jenen: dritten Jahre dieses Jahrhunderts lag über ganz Rußland eine erwartungsvolle Spannung. Nach langwierigen Vorberatungen und Überwindung mancher Intrige war am 22. Januar ein Ukas an den dirigierenden Senat ergangen, der die Durchführung einer besonderen Enquete über die Lage des Bauernstandes befahl und um Angabe von Mitteln ersuchte, die geeignet wären, die bäuerliche Wirtschaft zu heben und sicher zu stellen. Die liberale Reformpartei versprach sich von dieser Enquete, die im Zusammenwirken der Gouvernements- und Kreisbehörden mit den Selbstverwaltungsorganen gedacht war, zunächst die Herbeischaffung authentischen Materials über die Lage der Bauern, wie sie wirklich ist, und dann bei den Behörden die Erkenntnis, daß eine Abhilfe der trostlosen Zustände nur mittelst der Sjemstwoinstitutionen möglich sein werde, daß also die Enquete eine Ausdehnung des Selbstverwaltungsprinzips zur Folge haben müsse. In Gebieten, wo es noch keine Sjemstwo gab, wie in Grodno, hoffte man durch die Enquete dazu zu kommen. Nun ist das Gouvernement Grodno ein besonders heikler Bezirk für derartige Fragen. Das Gros der Landbevölkerung setzt sich aus katholischen Litauern und polonisierten Weißrussen zusammen. Die Oberschicht wird von polnischen und polonisierten Großgrund¬ besitzern gebildet, denen nur wenige Moskowiter gegenüberstehen. Die Städte und zahlreichen Flecken haben zwischen 40 bis 96 Prozent Juden. Das russische Element bildet, wenn man von den starken Garnisonen absieht, vielleicht nur 6 bis 8 Prozent der ganzen Bevölkerung. Dieser Hinweis auf die ethno¬ graphischen Verhältnisse genügt, um sich ein Bild davon machen zu können, welche Schwierigkeiten dem Vorsitzenden der Enquetekommission erwachsen mußten, wenn er nicht mit sehr gefestigten Anschauungen und sehr genauer Kenntnis der Vorschriften auftreten konnte. — Entgegen der Gepflogenheit anderer Gouver¬ neure übernahm Stolypin nicht nur den Vorsitz, sondern auch die praktische Leitung der Verhandlungen. In diesen Verhandlungen konnte der spätere Minister gewissermaßen ein Glaubensbekenntnis über alle die Fragen zum Ausdruck bringen, die für das Gesamtreich zu lösen vom Jahre 1906 ab seine Hauptaufgabe sein sollte. Alle Gegner, die er seit 1906 im großen hatte, lernte er schon damals im kleinen kennen. Und wie er damals mit seinen über den Parteien stehenden Anschauungen einzelne Interessenten verschnupfte oder doch wenigstens nicht befriedigte, so war er als Ministerpräsident gezwungen, ganze Parteien und einflußreiche Gruppen gegen sich einzunehmen, wenn er dem Ganzen dienen wollte. In Grodno bekämpfte Stolypin den Egoismus des Großgrundbesitzes, gleichgültig, ob dieser sich mit dem russischen oder polnischen nationalen Mäntelchen umkleidete. Als Fürst Swjatopolk-Tschetivertinski, ein polonisierter Litauer, die Einführung der allgemeinen Schulpflicht auch für die Bauern bekämpfte, weil der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/597>, abgerufen am 04.01.2025.