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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Stolypin und Rußland

während der kritischen Zeit befähigt war. Gouverneure zu ernennen und ab¬
zusetzen oder zu versetzen! Durch den Mangel an persönlichen Verbindungen
zum kaiserlichen Hofe war Stolypin nur auf die Mittel angewiesen, die ihm
die allgemeine Instruktion gab, nicht aber auf die Hilfen und Sonderbestimmungen,
die sich Ssypjagin und Plewe dank ihrer langjährigen Beziehungen zur Peters¬
burger Hofgesellschaft hatten von vornherein erwirken können.

Faßt man diese Verhältnisse scharf ins Auge, dann begreift man, weshalb
ein so fähiger und fleißiger Mann wie Stolypin Fiasko erleiden mußte. Er
stand von vornherein einsam auf seinem hohen Posten, fast ebenso einsam wie
der Zar, und als er am 8./21. Juni 1906 die Hand der Volksvertretung ergreifen
wollte, um mit ihr zusammen den schweren Weg der Reformen anzutreten, da
griff er ins Leere.




Ob das was Pjotr Arkadjewitsch Stolypin trotz aller Schwierigkeiten
zuwege gebracht hat von Bestand sein kann, läßt sich heute schwer sagen, weil
nicht zu übersehen ist, ob es ihm in den wenigen Jahren gelang, sich innerhalb
der Beamtenschaft Träger seiner Ideen und würdige Erben seiner Hinterlassen¬
schaft zu erziehen. Keine seiner Reformen ist aus dem bedenklichen Zustande der
Kinderkrankheiten heraus. Einstweilen sind nur Kräfte entfesselt, aber noch nicht zum
harmonischen Zusammenwirken gebunden. Die Nationalitätenfrage hat eine Schärfe
erreicht, wie sie selbst 1868 unter der Leitung der entarteten Slavjcmophilen
nicht bestand. Die Bauernfrage ist mit so unzureichenden Mitteln in Angriff
genommen worden, daß sie eine weit gefährlichere Frage erzeugte: Die Auflösung
der kommunistischen Bauerngemeinde hat nach Schätzungen russischer Statistiker
vier bis fünf Millionen männliche Seelen in reine Proletarier verwandelt, die
bisher durch einen wenn auch nur winzigen Anteil am dörflichen Besitz fest
mit der Mutterscholle verbunden waren. Wo werden diese Massen bleiben?
Das Gros wird den Industriezentren zuströmen, andere werden vielleicht als
Hofleute ständige Arbeit beim Großgrundbesitz finden. Daß indessen in der
zuletzt genannten Richtung nur wenig zu erwarten ist, lehrt eine Angabe, die
Stolypin selbst im Jahre 1902 in Grodno machte. Er sagte: "Auf meinem
Gut in Kowno, mit 500 Hektar Acker, bin ich genötigt, das runde Jahr hin¬
durch 19 Hofleute, im ganzen 30 Arbeiter, zu halten; in Kasan halte ich auf
1000 Hektar 4, und in Persa auf 600 Hektar 3 Hofleute! Alle übrigen Hilfs¬
kräfte besetze ich zur Zeit der Ackerbestellung und Ernte durch Wanderarbeiter".
(Protokoll S. 143.) Seit 1902 hat sich in diesen Verhältnissen nur wenig
geändert. Immerhin gibt es auch noch Momente, die dem Problem wenigstens
für die nächste Zeit etwas an Schärfe nehmen werden: die rührende Familien¬
anhänglichkeit der Russen und ihre Anspruchslosigkeit. Beide Eigenschaften
werden wohl vielfach dahin zusammenwirken, daß unter den Lebenden das bis¬
herige Verhältnis gewahrt bleibt, daß also im Sommer nach wie vor die


Stolypin und Rußland

während der kritischen Zeit befähigt war. Gouverneure zu ernennen und ab¬
zusetzen oder zu versetzen! Durch den Mangel an persönlichen Verbindungen
zum kaiserlichen Hofe war Stolypin nur auf die Mittel angewiesen, die ihm
die allgemeine Instruktion gab, nicht aber auf die Hilfen und Sonderbestimmungen,
die sich Ssypjagin und Plewe dank ihrer langjährigen Beziehungen zur Peters¬
burger Hofgesellschaft hatten von vornherein erwirken können.

Faßt man diese Verhältnisse scharf ins Auge, dann begreift man, weshalb
ein so fähiger und fleißiger Mann wie Stolypin Fiasko erleiden mußte. Er
stand von vornherein einsam auf seinem hohen Posten, fast ebenso einsam wie
der Zar, und als er am 8./21. Juni 1906 die Hand der Volksvertretung ergreifen
wollte, um mit ihr zusammen den schweren Weg der Reformen anzutreten, da
griff er ins Leere.




Ob das was Pjotr Arkadjewitsch Stolypin trotz aller Schwierigkeiten
zuwege gebracht hat von Bestand sein kann, läßt sich heute schwer sagen, weil
nicht zu übersehen ist, ob es ihm in den wenigen Jahren gelang, sich innerhalb
der Beamtenschaft Träger seiner Ideen und würdige Erben seiner Hinterlassen¬
schaft zu erziehen. Keine seiner Reformen ist aus dem bedenklichen Zustande der
Kinderkrankheiten heraus. Einstweilen sind nur Kräfte entfesselt, aber noch nicht zum
harmonischen Zusammenwirken gebunden. Die Nationalitätenfrage hat eine Schärfe
erreicht, wie sie selbst 1868 unter der Leitung der entarteten Slavjcmophilen
nicht bestand. Die Bauernfrage ist mit so unzureichenden Mitteln in Angriff
genommen worden, daß sie eine weit gefährlichere Frage erzeugte: Die Auflösung
der kommunistischen Bauerngemeinde hat nach Schätzungen russischer Statistiker
vier bis fünf Millionen männliche Seelen in reine Proletarier verwandelt, die
bisher durch einen wenn auch nur winzigen Anteil am dörflichen Besitz fest
mit der Mutterscholle verbunden waren. Wo werden diese Massen bleiben?
Das Gros wird den Industriezentren zuströmen, andere werden vielleicht als
Hofleute ständige Arbeit beim Großgrundbesitz finden. Daß indessen in der
zuletzt genannten Richtung nur wenig zu erwarten ist, lehrt eine Angabe, die
Stolypin selbst im Jahre 1902 in Grodno machte. Er sagte: „Auf meinem
Gut in Kowno, mit 500 Hektar Acker, bin ich genötigt, das runde Jahr hin¬
durch 19 Hofleute, im ganzen 30 Arbeiter, zu halten; in Kasan halte ich auf
1000 Hektar 4, und in Persa auf 600 Hektar 3 Hofleute! Alle übrigen Hilfs¬
kräfte besetze ich zur Zeit der Ackerbestellung und Ernte durch Wanderarbeiter".
(Protokoll S. 143.) Seit 1902 hat sich in diesen Verhältnissen nur wenig
geändert. Immerhin gibt es auch noch Momente, die dem Problem wenigstens
für die nächste Zeit etwas an Schärfe nehmen werden: die rührende Familien¬
anhänglichkeit der Russen und ihre Anspruchslosigkeit. Beide Eigenschaften
werden wohl vielfach dahin zusammenwirken, daß unter den Lebenden das bis¬
herige Verhältnis gewahrt bleibt, daß also im Sommer nach wie vor die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/599>, abgerufen am 04.01.2025.