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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Stolypin und Rußland

Als Iwan Logginowitsch Goremykin im Frühjahr des Jahres 1906
plötzlich zum Leiter der gesamten russischen Politik berufen wurde, gab es
eine große Überraschung. Allgemein hatte man geglaubt, Graf S. I. Witte,
der Schöpfer des Oktobermanifestes, der kühne Spieler, den seine Gegner am
Hofe für den Generalstreik im Herbst 1905 verantwortlich machten, der Mann
des Vertrauens der Pariser und Berliner Bankiers, mit einem Wort, Witte
werde auch die ersten Schritte der eben zum erstenmal zusammentretender
Duma zu lenken haben. Statt dessen trat ein alter Mann, schon zehn
Jahre früher als Minister des Innern Wildes Gegner, an seine Stelle, der
weder körperlich noch geistig dein ihm anvertrauten Amt gewachsen war.
Aber hinter ihm standen Männer, Männer zwar nicht nach Wunsch der Volks¬
vertretung, auch nicht durchweg vertrauenswürdig, aber doch Männer, die über
den Durchschnitt hervorragten: Schtscheglowitow Justiz, Stischinski Ackerbau,
Stolypin Inneres, Golytzin Heiligster spröd. Das waren für den Augenblick
die wichtigsten; zu ihnen gesellte sich noch als Reichskontrolleur Peter Schwane¬
bach, der als Bindeglied zwischen dem neuen Ministerium und der öffentlichen
Meinung bei Hofe sowohl wie im Auslande eine besondere, nicht immer erfolg¬
reiche Rolle spielen sollte.

So heterogen das Kabinett auch zusammengesetzt schien, stellte es doch ein
festgefügtes Programm dar. Goremykin selbst mußte seinerzeit aus dem Palais
des Ministeriums des Innern scheiden, weil er zu frei und im Gegensatz zum
Finanzminister S. I. Witte für die Ausgestaltung der Sjemstwo-Institutionen
im liberalen Sinne eingetreten war. Er würde die Sjemstwopartei im Lande
mit Vertrauen erfüllen! Schtscheglowitow stand als tüchtiger Jurist, der stets
an der Gerichtsinstitution von 1864 festgehalten hatte, selbst im Widerspruch
zu dem rücksichtslosen Plewe, in hoher Achtung bei der städtischen, stark
doktrinär veranlagten Intelligenz. Stischinski war der Vertrauensmann des
einflußreichen Großgrundbesitzes, und Stolypin hatte sich als Verwaltungs¬
beamter im Nordwestgebiet sowohl wie an der Wolga als Freund der Bauern
bewährt, ohne dadurch bei den Städtern, insonderheit auch bei den Juden, an
Sympathie einzubüßen.

Das Kabinett hat die ihm zugedachte Aufgabe, Vertrauen und Beruhigung
im Lande zu verbreiten, nicht durchgeführt. Die Forderungen der Sjemstwo-
männer, deren Erfüllung noch vor Ausbruch des japanischen Krieges, also nur
drei Jahre früher, große Beruhigung geschaffen hätte, waren längst nur ein
kleiner Teil dessen geworden, was selbst die gemäßigtsten Sjemstwo-Reformer, wie
z. B. Graf Heyden, als Mindestmaß von Reformen für das Land in Anspruch
nahmen. Man wollte nach dem Zusammenbruch bei Mulden nicht mehr Teil¬
reformen. Abschlagszahlungen, sondern eine große Staatsreform mit festen
Garantieen für die Zukunft. Dazu aber gehörten tiefgreifende Änderungen in
der Stellung aller Staatsbürger zum Gesetz, insonderheit auch eine radikale
Änderung der Nationalitätenfrage. Immerhin hätte Goremykins Erscheinen


Stolypin und Rußland

Als Iwan Logginowitsch Goremykin im Frühjahr des Jahres 1906
plötzlich zum Leiter der gesamten russischen Politik berufen wurde, gab es
eine große Überraschung. Allgemein hatte man geglaubt, Graf S. I. Witte,
der Schöpfer des Oktobermanifestes, der kühne Spieler, den seine Gegner am
Hofe für den Generalstreik im Herbst 1905 verantwortlich machten, der Mann
des Vertrauens der Pariser und Berliner Bankiers, mit einem Wort, Witte
werde auch die ersten Schritte der eben zum erstenmal zusammentretender
Duma zu lenken haben. Statt dessen trat ein alter Mann, schon zehn
Jahre früher als Minister des Innern Wildes Gegner, an seine Stelle, der
weder körperlich noch geistig dein ihm anvertrauten Amt gewachsen war.
Aber hinter ihm standen Männer, Männer zwar nicht nach Wunsch der Volks¬
vertretung, auch nicht durchweg vertrauenswürdig, aber doch Männer, die über
den Durchschnitt hervorragten: Schtscheglowitow Justiz, Stischinski Ackerbau,
Stolypin Inneres, Golytzin Heiligster spröd. Das waren für den Augenblick
die wichtigsten; zu ihnen gesellte sich noch als Reichskontrolleur Peter Schwane¬
bach, der als Bindeglied zwischen dem neuen Ministerium und der öffentlichen
Meinung bei Hofe sowohl wie im Auslande eine besondere, nicht immer erfolg¬
reiche Rolle spielen sollte.

So heterogen das Kabinett auch zusammengesetzt schien, stellte es doch ein
festgefügtes Programm dar. Goremykin selbst mußte seinerzeit aus dem Palais
des Ministeriums des Innern scheiden, weil er zu frei und im Gegensatz zum
Finanzminister S. I. Witte für die Ausgestaltung der Sjemstwo-Institutionen
im liberalen Sinne eingetreten war. Er würde die Sjemstwopartei im Lande
mit Vertrauen erfüllen! Schtscheglowitow stand als tüchtiger Jurist, der stets
an der Gerichtsinstitution von 1864 festgehalten hatte, selbst im Widerspruch
zu dem rücksichtslosen Plewe, in hoher Achtung bei der städtischen, stark
doktrinär veranlagten Intelligenz. Stischinski war der Vertrauensmann des
einflußreichen Großgrundbesitzes, und Stolypin hatte sich als Verwaltungs¬
beamter im Nordwestgebiet sowohl wie an der Wolga als Freund der Bauern
bewährt, ohne dadurch bei den Städtern, insonderheit auch bei den Juden, an
Sympathie einzubüßen.

Das Kabinett hat die ihm zugedachte Aufgabe, Vertrauen und Beruhigung
im Lande zu verbreiten, nicht durchgeführt. Die Forderungen der Sjemstwo-
männer, deren Erfüllung noch vor Ausbruch des japanischen Krieges, also nur
drei Jahre früher, große Beruhigung geschaffen hätte, waren längst nur ein
kleiner Teil dessen geworden, was selbst die gemäßigtsten Sjemstwo-Reformer, wie
z. B. Graf Heyden, als Mindestmaß von Reformen für das Land in Anspruch
nahmen. Man wollte nach dem Zusammenbruch bei Mulden nicht mehr Teil¬
reformen. Abschlagszahlungen, sondern eine große Staatsreform mit festen
Garantieen für die Zukunft. Dazu aber gehörten tiefgreifende Änderungen in
der Stellung aller Staatsbürger zum Gesetz, insonderheit auch eine radikale
Änderung der Nationalitätenfrage. Immerhin hätte Goremykins Erscheinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/595>, abgerufen am 04.01.2025.