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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Stolypin und Rußland

17. Oktober 1905 entschieden. Und doch hätte ein Wort vielleicht genügt, um
die Katastrophe zu verhüten. Wäre der Sitzungsleiter Muromtzow nicht Partei¬
gänger der Kadetten gewesen, die auf eine öffentliche Bloßstellung der Regierung
durch die Jnterpellation systematisch hingearbeitet hatten, so konnte die Sitzung
schon vor der Erklärung Nabokows unterbrochen werden, das von den Kadetten
einstudierte Stück brauchte nicht zu Ende gespielt zu werden. Es konnte eine
Besprechung zwischen den Kadetten, Stolypin und den: Ministerpräsidenten
Goremykin stattfinden, in der Stolypins Schlußworte: "Die Gesetze ändern
und entsprechend wirken werden Siel" zum Ausgang einer Verständigung
zwischen der Regierung und den Kadetten gemacht wurden. Der Boden für eine
solche Verständigung war lange vorbereitet. Im Ministerium selbst waren wohl
nur die Herren v. Schwanebach und Stischinski ihre entschiedenen Gegner. Besorgt
um die Zukunft des Großgrundbesitzes ließen sie kein Mittel unversucht, die
Aufnahme von "Liberalen" in das Ministerium zu verhindern, ein Schritt, der
sowohl in der höchsten Beamtenschaft, wie bei Hofe lebhaft erwogen wurde.
Selbst konservative Männer, wie z. B. Michael Stachowitsch, erwarteten eine
Wendung zum Bessern ausschließlich durch Berufung einiger Kadetten in das
Ministerium. Dennoch hieße es die Geschichte fälschen, wollte man irgend jemand
besonders für den Verlauf der Sitzung und die Preisgabe des Augenblicks
verantwortlich machen. Die Ereignisse prasselten mit elementarer Gewalt hinter¬
einander her. Jeder, der diese Vorgänge persönlich miterlebte, stand unter dem
Eindruck, daß auf einen Wink von der Duma her draußen das gesamte Land
aufstehen und die Vertreter der Regierung fortfegen würde, Stolypin selbst hatte
noch keine rechte Vorstellung von den Stärkeverhältnissen, und in den ultrarussischen
Zirkeln hoffte man Rettung eigentlich nur aus der Gegenrevolution. Die scheinbar
führende Partei der Kadetten wagte keinen Schritt zu tun, der nicht die Zu¬
stimmung der radikalen Sozialisten hatte, und Muromtzow war ein alter Mann,
unfähig zu tatkräftiger und selbständiger Leitung der Verhandlungen. Überdies
glaubte man die Regierung niederzwingen zu müssen, weil man die Macht
fühlte es zu können. Heute, fünf Jahre nach jener Dumasitzung, scheint's einem
beim Lesen des stenographischen Berichts und der eigenen Aufzeichnungen wie
ein glänzend durchgeführtes Possenspiel, in Szene gesetzt, um der Eitelkeit der
Kadetten zu schmeicheln und die Vertreter der Staatsgewalt sowie diese selbst in
den Schmutz zu ziehen. Die sich Führer des russischen Volks nannten, waren
nicht befähigt der Regierung Gesetze an die Hand zu geben, mit denen sie
Rechtssicherheit und Ordnung im Lande hätte aufrecht erhalten können. Stolypin
war bis zum Tage seiner Verwundung gezwungen, sich an das alte System
zu halten und ist dessen Opfer geworden, wie vor ihm Alexander der Zweite,
der Zarbefreier, wie Ssypjagin, Plewe, Großfürst Ssergej und viele tausend gute
Russen, wie -- Rußland selbst.




Stolypin und Rußland

17. Oktober 1905 entschieden. Und doch hätte ein Wort vielleicht genügt, um
die Katastrophe zu verhüten. Wäre der Sitzungsleiter Muromtzow nicht Partei¬
gänger der Kadetten gewesen, die auf eine öffentliche Bloßstellung der Regierung
durch die Jnterpellation systematisch hingearbeitet hatten, so konnte die Sitzung
schon vor der Erklärung Nabokows unterbrochen werden, das von den Kadetten
einstudierte Stück brauchte nicht zu Ende gespielt zu werden. Es konnte eine
Besprechung zwischen den Kadetten, Stolypin und den: Ministerpräsidenten
Goremykin stattfinden, in der Stolypins Schlußworte: „Die Gesetze ändern
und entsprechend wirken werden Siel" zum Ausgang einer Verständigung
zwischen der Regierung und den Kadetten gemacht wurden. Der Boden für eine
solche Verständigung war lange vorbereitet. Im Ministerium selbst waren wohl
nur die Herren v. Schwanebach und Stischinski ihre entschiedenen Gegner. Besorgt
um die Zukunft des Großgrundbesitzes ließen sie kein Mittel unversucht, die
Aufnahme von „Liberalen" in das Ministerium zu verhindern, ein Schritt, der
sowohl in der höchsten Beamtenschaft, wie bei Hofe lebhaft erwogen wurde.
Selbst konservative Männer, wie z. B. Michael Stachowitsch, erwarteten eine
Wendung zum Bessern ausschließlich durch Berufung einiger Kadetten in das
Ministerium. Dennoch hieße es die Geschichte fälschen, wollte man irgend jemand
besonders für den Verlauf der Sitzung und die Preisgabe des Augenblicks
verantwortlich machen. Die Ereignisse prasselten mit elementarer Gewalt hinter¬
einander her. Jeder, der diese Vorgänge persönlich miterlebte, stand unter dem
Eindruck, daß auf einen Wink von der Duma her draußen das gesamte Land
aufstehen und die Vertreter der Regierung fortfegen würde, Stolypin selbst hatte
noch keine rechte Vorstellung von den Stärkeverhältnissen, und in den ultrarussischen
Zirkeln hoffte man Rettung eigentlich nur aus der Gegenrevolution. Die scheinbar
führende Partei der Kadetten wagte keinen Schritt zu tun, der nicht die Zu¬
stimmung der radikalen Sozialisten hatte, und Muromtzow war ein alter Mann,
unfähig zu tatkräftiger und selbständiger Leitung der Verhandlungen. Überdies
glaubte man die Regierung niederzwingen zu müssen, weil man die Macht
fühlte es zu können. Heute, fünf Jahre nach jener Dumasitzung, scheint's einem
beim Lesen des stenographischen Berichts und der eigenen Aufzeichnungen wie
ein glänzend durchgeführtes Possenspiel, in Szene gesetzt, um der Eitelkeit der
Kadetten zu schmeicheln und die Vertreter der Staatsgewalt sowie diese selbst in
den Schmutz zu ziehen. Die sich Führer des russischen Volks nannten, waren
nicht befähigt der Regierung Gesetze an die Hand zu geben, mit denen sie
Rechtssicherheit und Ordnung im Lande hätte aufrecht erhalten können. Stolypin
war bis zum Tage seiner Verwundung gezwungen, sich an das alte System
zu halten und ist dessen Opfer geworden, wie vor ihm Alexander der Zweite,
der Zarbefreier, wie Ssypjagin, Plewe, Großfürst Ssergej und viele tausend gute
Russen, wie — Rußland selbst.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/594>, abgerufen am 04.01.2025.