Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel für das wirtschaftliche Kalkül ausgeschaltet ist; man betrachtet sie, mögen auch Mit Überwindung des Kriegsschreckens sind natürlich auch die Kurse wieder Reichsspiegel für das wirtschaftliche Kalkül ausgeschaltet ist; man betrachtet sie, mögen auch Mit Überwindung des Kriegsschreckens sind natürlich auch die Kurse wieder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0588" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319535"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2799" prev="#ID_2798"> für das wirtschaftliche Kalkül ausgeschaltet ist; man betrachtet sie, mögen auch<lb/> die Verhandlungen noch eine Weile dauern, praktisch als erledigt und möchte<lb/> sie am liebsten vollständig ignorieren. So nahe wohnen auch hier wieder die<lb/> Gegensätze beieinander. Die eingetretene Beruhigung — im wesentlichen eine<lb/> Folge der genaueren Kenntnis vom Stand der Verhandlungen, welche man der<lb/> Öffentlichkeit durch Lüften des diplomatischen Schleiers leider zu spät verschafft<lb/> hat — darf mit ungelenker Freude begrüßt werden, aber es erscheint die Warnung<lb/> vor allzu sorgloser Sicherheit nicht überflüssig. Es liegt die Gefahr vor, daß<lb/> man den schon einmal gemachten Fehler wieder begehe und eine allzu optimistische<lb/> und unbekümmerte Betrachtung der Angelegenheit dann aufs neue zu büßen<lb/> hätte. So unwahrscheinlich neue Komplikationen sind, mit ihrer Möglichkeit<lb/> hat der vorsichtige Kaufmann zu rechnen, so lange nicht das Abkommen fix<lb/> und fertig unterschrieben vorliegt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2800" next="#ID_2801"> Mit Überwindung des Kriegsschreckens sind natürlich auch die Kurse wieder<lb/> gestiegen, ja zunächst sogar in so stürmischem Anlauf, daß die Einbuße des<lb/> schwarzen Sonnabends vielfach ganz wieder eingeholt wurde. Das war freilich<lb/> eine Übertreibung, die, wie häufig nach starken Kursrückgängen, in börsen¬<lb/> technischen Umständen begründet war. Die weitere Kursentwicklung der Woche<lb/> zeigt, und eine ruhige Überlegung bestätigt es, daß so schnell und spurlos die<lb/> Wirkungen einer derartig tiefgehenden Erschütterung sich nicht überwinden lassen.<lb/> Der Stoß war zu kräftig, die erlittenen Verluste waren zu bedeutend, als daß die<lb/> Börse nun, gleich als ob nichts geschehen wäre, den Faden da wieder anknüpfen<lb/> könnte, wo er vor einigen Wochen abgerissen ist. Das wäre im Interesse der<lb/> Gesundung des Marktes nicht einmal zu wünschen. Vergleicht man nämlich die<lb/> gegenwärtigen Kurse mit denen des Jahresanfangs, so zeigt sich, daß trotz der<lb/> bedeutenden Rückgänge der letzten Wochen das Kursniveau gerade der speku¬<lb/> lativen Werte noch ein beträchtlich höheres ist. Das gilt vor allem von den<lb/> Montanwerten, in ganz hervorragendem Maße aber von den schweren Industrie-<lb/> papieren des Kassamarktes. Es hat also die in bloß spekulativer Beurteilung<lb/> wurzelnde Wertsteigerung bisher noch keine ausreichende Korrektur erfahren.<lb/> Die Verhältnisse werden aber dahin drängen, eine weitere Ermäßigung der<lb/> allzuhoch getriebenen Kurse eintreten zu lassen. Schon aus börsentechnischen<lb/> Gründen würde die Kraft fehlen, eine neue Haussekampagne einzuleiten und<lb/> durchzuführen. Die ganze wirtschaftliche Situation steht aber auch einem solchen<lb/> Beginnen hemmend im Wege. Der hoffnungsfreudige Optimismus, mit dem die<lb/> Entwicklung der Konjunktur bei Beginn des Jahres betrachtet werden durfte,<lb/> erscheint heute wenig angebracht. Die Zukunft des Geldmarkts scheint vielen<lb/> ungewiß, die Landwirtschaft leidet Not, die Lebensmittelteuerung vermindert die<lb/> Konsumkraft und stellt Lohnkämpfe in Aussicht, die Industrie fühlt sich unsicher<lb/> in der Beurteilung der künftigen Marktlage — alles Gründe genug, eine vor¬<lb/> sichtige Zurückhaltung und ein kritisches Abwarten zu empfehlen. Wer einen<lb/> deutlichen Beweis zu haben wünscht, werfe einen Blick auf die jüngst veröffent-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0588]
Reichsspiegel
für das wirtschaftliche Kalkül ausgeschaltet ist; man betrachtet sie, mögen auch
die Verhandlungen noch eine Weile dauern, praktisch als erledigt und möchte
sie am liebsten vollständig ignorieren. So nahe wohnen auch hier wieder die
Gegensätze beieinander. Die eingetretene Beruhigung — im wesentlichen eine
Folge der genaueren Kenntnis vom Stand der Verhandlungen, welche man der
Öffentlichkeit durch Lüften des diplomatischen Schleiers leider zu spät verschafft
hat — darf mit ungelenker Freude begrüßt werden, aber es erscheint die Warnung
vor allzu sorgloser Sicherheit nicht überflüssig. Es liegt die Gefahr vor, daß
man den schon einmal gemachten Fehler wieder begehe und eine allzu optimistische
und unbekümmerte Betrachtung der Angelegenheit dann aufs neue zu büßen
hätte. So unwahrscheinlich neue Komplikationen sind, mit ihrer Möglichkeit
hat der vorsichtige Kaufmann zu rechnen, so lange nicht das Abkommen fix
und fertig unterschrieben vorliegt.
Mit Überwindung des Kriegsschreckens sind natürlich auch die Kurse wieder
gestiegen, ja zunächst sogar in so stürmischem Anlauf, daß die Einbuße des
schwarzen Sonnabends vielfach ganz wieder eingeholt wurde. Das war freilich
eine Übertreibung, die, wie häufig nach starken Kursrückgängen, in börsen¬
technischen Umständen begründet war. Die weitere Kursentwicklung der Woche
zeigt, und eine ruhige Überlegung bestätigt es, daß so schnell und spurlos die
Wirkungen einer derartig tiefgehenden Erschütterung sich nicht überwinden lassen.
Der Stoß war zu kräftig, die erlittenen Verluste waren zu bedeutend, als daß die
Börse nun, gleich als ob nichts geschehen wäre, den Faden da wieder anknüpfen
könnte, wo er vor einigen Wochen abgerissen ist. Das wäre im Interesse der
Gesundung des Marktes nicht einmal zu wünschen. Vergleicht man nämlich die
gegenwärtigen Kurse mit denen des Jahresanfangs, so zeigt sich, daß trotz der
bedeutenden Rückgänge der letzten Wochen das Kursniveau gerade der speku¬
lativen Werte noch ein beträchtlich höheres ist. Das gilt vor allem von den
Montanwerten, in ganz hervorragendem Maße aber von den schweren Industrie-
papieren des Kassamarktes. Es hat also die in bloß spekulativer Beurteilung
wurzelnde Wertsteigerung bisher noch keine ausreichende Korrektur erfahren.
Die Verhältnisse werden aber dahin drängen, eine weitere Ermäßigung der
allzuhoch getriebenen Kurse eintreten zu lassen. Schon aus börsentechnischen
Gründen würde die Kraft fehlen, eine neue Haussekampagne einzuleiten und
durchzuführen. Die ganze wirtschaftliche Situation steht aber auch einem solchen
Beginnen hemmend im Wege. Der hoffnungsfreudige Optimismus, mit dem die
Entwicklung der Konjunktur bei Beginn des Jahres betrachtet werden durfte,
erscheint heute wenig angebracht. Die Zukunft des Geldmarkts scheint vielen
ungewiß, die Landwirtschaft leidet Not, die Lebensmittelteuerung vermindert die
Konsumkraft und stellt Lohnkämpfe in Aussicht, die Industrie fühlt sich unsicher
in der Beurteilung der künftigen Marktlage — alles Gründe genug, eine vor¬
sichtige Zurückhaltung und ein kritisches Abwarten zu empfehlen. Wer einen
deutlichen Beweis zu haben wünscht, werfe einen Blick auf die jüngst veröffent-
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